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Leyla und Rudger auf der goldenen Brücke in der Unterwelt
Wir müssten durch die ganze Stadt, um an den Ort zu gelangen, an
dem ich hierher kam, gab sie zu bedenken.
Dieser Durchgang dürfte sich nicht mehr an seinem Ursprungsort befinden.
Solche Pforten sind instabil und tauchen unwillkürlich auf. Es
wäre müßig, danach zu suchen. Wir nehmen den üblichen Weg.
An der Hand zog er sie in die entgegengesetzte Richtung. Wortlos legten sie eine beachtliche Strecke zurück, von der Leyla irgendwann annahm, sie würde nie enden. So viel zum Thema Müßigkeit. Wenigstens konnte sie in der Zwischenzeit einen weiteren Versuch unternehmen, die mannigfachen Eindrücke der letzten Stunden in ihren Gedanken zu ordnen. Zumindest
vermutete sie, dass Stunden vergangen waren. Vom Gefühl her
schienen es Tage gewesen zu sein. Doch ihre verworrene Wahrnehmung ließ keinen klaren Gedanken zu. Ständig lenkte sie ihr feinstofflicher Körper ab, der trotz des Gewaltmarsches nicht außer Atem geriet.
Als sie das Gewölbe endlich verließen, um ins Freie zu treten, wurde es etwas heller. Neben Rudger blieb sie einen Moment stehen, um ihre Augen an die Umgebung zu gewöhnen. Allerdings war es mehr ihr Verstand, der vorbereitet werden musste. Sprachlos blickte Leyla zum Firmament hinauf. Ein Himmel, wie er ihr bekannt war, existierte auch auf dieser Seite von Hels Trutzburg nicht. Vielmehr hatte es den Anschein, als stünden sie unter einer gewaltigen Kuppel, in deren Innerem Naturgewalten eigenen Gesetzen folgten. Über ihnen erstreckte sich in weiter Ferne ein Spektakel aus geschwungenen Lichtschwaden. Eine überraschende Farbenpracht
dominierte im überirdischen Schein die Atmosphäre. Bestand
das bisher Gesehene jenseits der grenzwirkenden Residenz der Göttin vorwiegend aus Grautönen, herrschten hier grüne, rote und blauviolette Lichtstreifen wie bei Polarlichtern. Einem von der Natur erzeugten Feuerwerk gleich, schien alles über ihren Köpfen in ständiger Bewegung zu sein. Sternartige Gebilde mit leuchtendem Schweif zogen ihres Weges, dessen Ziel dem Beobachter ein Geheimnis bleiben sollte. Andächtig verfolgte sie das Geschehen, während am Boden alles still und starr blieb wie eine Schneelandschaft. Für einen religiösen Menschen könnte dieser Anblick der Vorstellung vom Paradies nahekommen.
Aurora Borealis, hauchte Leyla.
Wohl eher entfernte Verwandte, entgegnete Rudger und zog sie weiter.
Vor ihnen schlängelte sich eine gewaltige Brücke, deren Dielen aus Holz nach einer Weile übergingen in schimmernde Böden aus purem Gold.
Welches Licht die ebenfalls goldene Brüstung reflektierte, konnte Leyla nicht ausmachen. Zwischen dem himmlischen Leuchten und der dämmrigen Düsternis hier unten schien es eine unerklärliche Grenze zu geben. Die eindrucksvolle Brücke verschmälerte sich in ihrem Verlauf, bis sie sich in unergründlichen Schatten verlor. Dadurch wurde der Eindruck eines weiten Weges erweckt. In Anbetracht eines erneuten Fußmarsches stöhnte Leyla auf. Mit verengten Augen versuchte sie, die andere Seite des Übergangs
auszumachen, während sie schweigend neben Rudger herging.
Nach einer Weile ahnte sie, dass die Brücke nicht dazu diente, ein Hindernis zu überwinden. Stattdessen schien sie zu schweben. Unter ihnen vernahm sie weder das Rauschen eines Flusses, noch konnte sie erkennen, wie tief der Abgrund war. Die Umgebung verschwamm in geisterhaften Schwaden. Die Grenzen am Horizont verwischten, als würden sie eine Hängebrücke inmitten der grünen Hölle eines Dschungels überqueren.
Nur, dass es hier weder Grün noch sonst eine Farbe gab, da von den geisterhaften Polarlichtern nichts mehr zu sehen war. Ehrfurcht erfüllte jede Faser ihres Körpers.
Sie umfasste Rudgers Hand fester. Die beruhigende Wärme seiner Haut gab ihr Halt. Ihre Schulter berührte seinen Arm, weil sie sich nah bei ihm hielt. Unter ihren Füßen spürte sie die harte Fläche des Stegs, doch gleichzeitig wandelte sie wie in einem real wirkenden Traum. Völlig allein standen sie inmitten dieses sagenhaften Universums, dessen Schönheit überwältigend als auch Furcht einflößend war. Leyla fühlte sich klein und unbedeutend. Das Geländer der Brücke verschwand vor ihren Augen. Wie
abgeschnitten endete es ohne ersichtlichen Grund und ging über in einen ungesicherten breiten Steg. Ein hysterisches Lachen drohte, ihre Kehle hochzurollen, über diesen albernen Gedanken an weltliche Sicherheitsmaßnahmen, während sie sich inmitten dieser bizarren Umgebung befand.
Hastig warf sie einen Blick zurück. Hinter ihnen war die Brücke noch vollständig. Mehr konnte sie nicht erkennen. Dabei sollte die gewaltige Trutzburg aus dieser Entfernung zumindest noch schemenhaft zu sehen sein. Unmöglich, sich in so kurzer Zeit so weit entfernt zu haben.
Gänsehaut überzog ihren Körper, als würde sie frieren. Doch das tat sie nicht. Sie fuhr mit der Hand an ihre Wangen. Leicht gekühlt fühlte sich ihr Gesicht an, wie bei einem Waldspaziergang. Trotzdem schien die physikalische Größe Temperatur hier ebenso wenig zu existieren. Wahrscheinlich hatten selbst Atome und Moleküle in dieser Welt eine andere Beschaffenheit oder gar keine Bedeutung.
Eben noch verwirrt über ihre Gedankengänge, fühlte sie sich im nächsten Moment verloren wie ein kleines Mädchen an der Hand ihres Vaters.
Rudger war neben ihr, die Brücke unter ihnen. Das waren Fakten. Zumindest versuchte sie, sich das einzureden, denn das war es schon. Wie zwei winzige Punkte wandelten sie inmitten eines überdimensionalen Universums, als wären sie zwei Astronauten ohne Kontakt zu ihrem Raumschiff.
Verloren in den unendlichen Weiten des Weltalls.
Rudger blieb stehen, so plötzlich, dass sie zusammenfuhr. Sein Griff
verstärkte sich, um sie am Weitergehen zu hindern. Eine vage Ahnung beschlich sie. Zögernd senkte sie den Kopf und starrte in einen tiefschwarzen Abgrund. Mit einer klaren Kante endete die Brücke direkt vor ihren Füßen.
Ach du lieber Schreck. Nur einen Schritt weiter und sie wäre in die Tiefe gestürzt. Scharf zog sie den Atem ein, überrascht von dem seltsamen Klang, den dieses Geräusch verursachte. Vorsichtig wich sie ein Stück zurück, obwohl die Muskeln in ihren Beinen vor Anspannung zuckten.
Ist das der Durchgang?, wisperte sie. Wieder verlor sich ihre Stimme im Vakuum. Kein Echo, nur ein dumpfer Hall. Rudger und sie, allein vor einer allumfassenden Leere.
Vampire nehmen diesen Weg regelmäßig. Er führt in unsere Körper
zurück. Allerdings sind wir dabei immer allein, erklärte er.
Leyla schluckte und es fühlte sich an, als würge sie einen Kloß hinunter.
Die Worte blieben ihr im Halse stecken. Ein Anflug von Hoffnungslosigkeit vertrieb für einen Moment die aufkommende Panik. Bereitwillig ließ sie sich in seine Arme ziehen, barg ihr Gesicht an seiner Brust. Inständig wünschte sie, aus diesem Albtraum zu erwachen.
Es ist die einzige Möglichkeit. Wir müssen eins werden, um die
Schwelle zu übertreten, sagte Rudger mit ruhiger Stimme.
Du meinst, wir sollen die Gesetze der Dimensionen austricksen? Eine rhetorische Frage, denn sie brauchte sich nur umzuschauen, um zu wissen, was er meinte. Was, wenn auf der anderen Seite Tag ist? Das Wetter in Krinfelde könnte sich geändert haben. Es tat gut, sich mit alltäglichen Sorgen abzulenken, auch wenn sie in Anbetracht der nahezu aussichtslosen Lage verschwindend klein waren. Egal, was auf sie zukommen würde, alles war besser, als den Verstand zu verlieren.
Sein Lachen perlte durch das Vakuum, nicht mehr als ein sanftes Vibrieren in seiner Brust. Man weiß nie genau, was einen bei der Rückkehr erwartet. Was die Tageszeit betrifft, keine Sorge, das würde ich spüren.
Natürlicher Schutzmechanismus über die Grenzen des Lebens hinaus.
Zumindest was das Leben betraf, wie sie es kannte.
Ihr geht immer alleine zurück? Leylas Stimme zitterte.
Er nickte und zog sie fester in seine Arme. Wie wir immer allein aufwachen.
Ob Mensch oder Vampir, ob Starre oder Schlaf. Ein Moment,
den niemand mit jemandem teilen kann.
Da Rudger bei ihr war, wurden ihre Sorgen plötzlich umgelenkt. Bislang hatte sie keinen Gedanken an ihr eigenes Wohlergehen verschwendet.
Dafür überrollte sie nun Panik mit ungeahnter Heftigkeit. Weder wusste sie, wie sie ihre Reise antreten sollten, noch ob es ihr überhaupt gelang, den Weg zu ihrem Körper zu finden. Was würde geschehen, wenn Rudgers Plan misslang? Vielleicht würde ihr feinstofflicher Körper, ihre Seele, auf ewig in der Unendlichkeit herumschweben, während ihr physischer Leib für eine unbestimmte Zeit an lebenserhaltenden Maschinen im Krankenhaus angeschlossen bleiben würde. Sie fragte sich, wie lange Dr. Kilian
einen solchen Zustand aufrechterhalten konnte. Wer würde den Stecker ziehen? Ihr Atem ging heftiger, als wäre sie gerannt. Gleichzeitig war sie nicht sicher, ob sie überhaupt geatmet hatte, seit sie in Niflheim war.
Möglicherweise handelte es sich um einen Reflex. Sie hatte sich wenig Gedanken über ihre Rückkehr gemacht, weil ihr Augenmerk darauf lag, Rudger zu finden. Doch auch wenn sie es getan hätte, ihre Entscheidung wäre unumstößlich geblieben.
Und was passiert jetzt?, flüsterte sie und blickte zu Rudger auf.
Vertrau mir, mina Fagre_æ. Seine Lippen umschlossen die ihren zu einem zärtlichen Kuss.
Natürlich vertraue ich dir, war ihr letzter Gedanke, bevor die Erkenntnis sie wie ein Blitzschlag traf. Beim letzten Mal, als er das gesagt hatte, war er kurz darauf mit ihr von einem Turm gesprungen, nachdem sie sich ihr Eheversprechen gegeben hatten. Instinktiv wollte sie sich von ihm lösen, um zu protestieren, da hob er sie schon an und sprang
Leylas Körper schoss durch einen Tunnel aus bunten, explodierenden Lichtern. Sie sah nichts, außer dem grellen Chaos, das an ihr vorbeiraste.
Sie spürte nichts, außer Rudgers Hand. Niemals würde sie ihn loslassen.
Sie dachte nichts, außer an ihn. Dann kam gleißender Schmerz und drohte, ihren Körper in seine Bestandteile zu zerlegen. Ihr stummer Schrei löschte alles aus, beendete die Qualen, die keine waren.
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