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![]() 1. - Der halbe Mensch
So gehe denn durch das Feuer. ![]() Aldavinur wollte so schnell wie möglich der Ursache des Schreis auf den Grund gehen. Jeder Moment zählte. Der Tod kam schnell in den Bergen, erst recht zu dieser Jahreszeit, wenn die Felsen nass und kalt waren. Und nicht alle waren so zäh wie Fyrgar. Der Weg verlangte große Sprünge über klaftertiefe Abgründe, und Landungen auf schmalen Felsgraten oder lockeren Brocken, auf denen jemand von Größe und Gewicht der beiden Fyrgar nicht länger als einen Atemzug verweilen durfte. Der richtige Absprungwinkel zum nächsten Ziel musste mit traumwandlerischer Sicherheit gefunden werden, zum Innehalten und Nachdenken war keine Zeit. Es hatte aufgehört zu regnen, und hie und da brach sogar ein Sonnenstrahl durch die grauschwarzen Wolkenballungen. Aldavinurs feuchtes Fell glänzte wie schwarzblauer Schwertstahl, wenn er lang gestreckt zwischen Himmel und Abgrund dahinflog, und Wassertropfen sprühten in einem feinen Nebel auf, sobald seine schweren Pfoten festen Untergrund erreichten und er die gelben Krallen ausfuhr, um im Gestein Halt zu finden . Ab und zu musste Aldavinur auf einem Vorsprung innehalten. Trotz seiner Jugend und Stärke und trotz seines Draufgängertums schaffte Efrynn es noch nicht, mit ihm Schritt zu halten. An seiner Gestalt lag es nicht, diese war wie geschaffen für das Gebirge, schlank und geschmeidig, mit beweglichen, muskulösen Gliedern, und er war sehr geschickt durch das ausdauernde Üben. Aber er war immer noch ein Kind und beherrschte seinen Körper bei Weitem nicht so vollkommen wie sein Meister. Wie ein Regenbogen flirrte er durch die Luft im nächsten Sprung und kam außer Atem bei seinem Lehrmeister an. Er schnappte kurz nach Luft, sein Kopf ruckte hoch, und seine Nüstern blähten sich. »Meister, ich wittere etwas « Aldavinur nickte und deutete mit ausgestreckter Kralle nach links, ungefähr fünfzig Höhenschritte unter ihnen. Spitz und steil ragten die Klingfelsen auf, voller Zacken und Sporne. Abweisend gegen jeden, der keine Flügel besaß oder nicht mehr als vier Beine. »Meine Eltern haben mir verboten, dorthin zu gehen«, sagte Efrynn. »Aus gutem Grund«, erklärte Aldavinur. Er hatte den Jungen in letzter Zeit einige Male dabei ertappt, wie der sich heimlich hinunterschleichen wollte. »Du musst sehr vorsichtig sein und darfst keinen falschen Schritt tun. Sprich nicht, stoße keinen Laut aus. Halte dich genau an meine Anweisungen!«. Vorsichtig kletterte er den steilen Felsgrat hinunter. Hier, zwischen den Bergen, trafen verschiedene Luftschichten aufeinander und erzeugten ihren eigenen Wind, der sich niemals über die Grate erhob, sondern durch die Schluchten und Täler donnerte, schneller und zerstörerischer als ein Wolkensturm. Dieser Wind war es auch, der die Klingfelsen umwarb und umschmeichelte, der mit ihnen spielte wie auf einer Harfe und ihnen Lieder entlockte, die von Krallen handelten, von Blut und Tod, von Schneidschlingen und Würgenetzen, von Giftzähnen und Stacheln. Es waren schaurige Lieder, die dem, der ihre Sprache nicht verstand, allein schon wegen ihres Klangs die Haare zu Berge stehen ließen. Die Fyrgar ertrugen diese schrillen Misstöne nicht, und für Aldavinurs besonders empfindliche Ohren waren sie eine Qual. Es fiel ihm schwer, Gleichmut zu bewahren und die Klingfelsen als Teil des großen Ganzen zu sehen. Hohn und Spott verbreiteten sie über die Täler. Nicht einmal Flechten konnten dort wachsen, wo deren Schall hindrang. Nur eine einzige, zumeist sehr verborgene Lebensform gedieh in harmonischer Eintracht mit den spitzen, schmalen, messerscharfen Felskanten, die aufragten wie gebogene Zähne und Stacheln. Es gab nur wenige Stellen dort unten, an denen Pranken oder Hände Halt fanden, kaum Überhänge und Hochflächen, nur Löcher, Spalten und Höhlen, in die kein Licht eindringen konnte, aus denen nur Finsternis herausdrang. Viele der kleinen Löcher waren rund und so angeordnet, dass der Wind hindurchstrich wie bei einer Flöte und das schaurige Konzert nur noch verstärkte. Efrynn schob sich neben Aldavinur, und er konnte sehen, dass dem Jungen nun doch etwas von seinem Forscherdrang und Mut abhandengekommen war. Mit dem Kopf nach unten zu verharren behagte ihm nicht sonderlich, und der Blick hinüber war wenig erbaulich. »Meister, es klingt furchtbar«, flüsterte er seinem Beschützer zu. Seine Wangenschuppen sträubten sich. »So schlimm hat es sich noch nie an angehört « »Sie rufen zur Jagd«, murmelte Aldavinur. Efrynn war manchmal recht ungeschickt. Er hatte gerade zugegeben, dass er sich schon mehrmals heimlich hierhergeschlichen hatte. Doch der Lehrmeister verzichtete auf eine Ermahnung. »Das sind nicht nur die Felsen, die da singen.« »Aber ich sehe nichts « Auch Aldavinur konnte nichts erkennen, und das beunruhigte ihn. Kein hauchfeines Gespinst, kein abgesetztes Schwarz vor den silbergrauen Felsen. Und das zu Spinnweb! Erstaunlich, denn gerade jetzt kamen sie häufiger hervor. Oft verirrten sich Zugvögel oder Klippspringer auf der Reise in tiefere, wärmere Gefilde hierher. Sie waren willkommene Beute vor dem Schlaf bis zum Frühjahr. Den Winter hier oben hielten nur wenige Tiere ohne Winterschlaf aus, und auch Aldavinur musste daran denken, bald Vorräte anzulegen. »Du solltest besser hierbleiben und mir Rückendeckung geben«, ordnete er an. Efrynn schüttelte heftig den Kopf. »Du wirst mich hier nicht auf halber Höhe im Zwischennichts zurücklassen, Meister! Ich gehe mit dir dorthin.« »Du hast zu gehorchen.« »Aber in diesem Fall gehorche ich nicht!« Aldavinur richtete seine Turmalinaugen auf den aufsässigen Jungen, und der wich rasch dem Blick aus, doch seine trotzige Miene blieb. »Da braucht jemand unsere Hilfe, und du wirst auf meine Unterstützung nicht verzichten können, Meister!« Aus diesem Grund trug er den Namen: das stolze Kind. Erneut unterließ Aldavinur den Tadel. »Wem auch immer hier etwas zugestoßen ist, der ist nicht mehr am Leben, Efrynn. Ich gehe nur nachsehen, welche Ursache das hatte, um nötigenfalls Vorsorge zu treffen, dass es kein zweites Mal passiert.« »Und wenn du dich irrst? Außerdem können die da drin mir nichts anhaben. Ich bin sehr schuppig, anders als du.« Er spannte die Rückenmuskeln an, und kleine Stacheln richteten sich auf. »Siehst du?« »Seit wann «, entfuhr es Aldavinur verblüfft. Er unterbrach sich und winkte mit einer Pranke ab. »Wir sprechen nachher darüber. Also gut. Du darfst mitkommen aber von jetzt an wirst du mir widerspruchslos gehorchen.« »Verstanden, Meister!«, versicherte Efrynn eifrig. Seine Wangen glühten rot auf. ![]() Aldavinur stieß sich ab und überwand den Abgrund zwischen den beiden Bergen, durch die verwirbelten Luftströme hindurch. Das war die unsichtbare Grenze zwischen dem östlichen und dem südlichen Gebirgszug, hier endete das Gebiet der Fyrgar. Wenn man von den Klingfelsen aus immer weiter südlich wanderte, gelangte man zur Unendlichen Wüste, die sich von Osten nach Westen, von Meer zu Meerbusen zog, von Luvgar bis Nerovia. Auf der anderen Seite des Meerbusens lag Ishgalad, von dem man heute nicht mehr viel wusste. Die Seefahrer bereisten nur die Inseln dazwischen, bis zu einer gewissen, nie verbürgt festgelegten Grenze, aber keinesfalls bis in das große Reich des Westens. Umgekehrt schien auch Ishgalad diese geheimnisvolle Grenze zu achten, denn nie kam es zu einer Begegnung auf See. Diese Trennung des Reiches geschah vor langer Zeit während des Titanenkrieges, als Götter und Mächtige um die Herrschaft über Waldsee kämpften. Die letzte Schlacht fand auf dem Titanenfeld in Valia statt und endete in einem solch schrecklichen Gemetzel, dass dies das Ende des Krieges bedeutete, ohne dass es einen Sieger gegeben hätte. Die ursprünglichen Vier Königreiche waren für immer zerstört, und Ishgalad wurde zudem durch eine gewaltige Katastrophe von den anderen Reichen getrennt, ein riesiges Loch tat sich durch einen Einschlag plötzlich auf im Kontinent und füllte sich in einer gewaltigen Springflut mit Meerwasser. Ein Dämon sollte dies ausgelöst haben, hieß es, der in der Schlacht verwundet wurde und dessen austretende Lebensessenz das Gefüge der Welt aus dem Lot gebracht hatte. Es war natürlich eine Legende, aber nicht unmöglich, wenn man bedachte, dass an jenem Tag auch Götter fielen, dunkle ebenso wie helle. Nur ein schmaler Streifen Land blieb erhalten, eine tödlich heiße Wüste im äußersten Süden, doch dieses Gebiet war noch niemals durchquert worden. Seit der Titanenschlacht war Ishgalad von den anderen Ländern getrennt, und es kam nie wieder zu einer Verbindung, nicht einmal mittels den Luftschiffen der Daranil. Es war, als läge dazwischen nicht nur das Meer, sondern auch eine Schutzmauer. Seltsam, dass Aldavinur sich genau in dem Moment daran erinnerte, als sein Körper durch die Luft flog, bevor er geschmeidig auf der anderen Seite aufkam und sich mit steil hochgerecktem Schwanz auf einem schmalen Grat im Gleichgewicht hielt. Als hätte der Gesang der Lüfte diese Bilder in ihm hervorgerufen, irgendwelche Überbleibsel des nächtlichen Sturms aus Westen. Eine Botschaft, die er durch Zufall empfing? Hatte er je daran gedacht, mehr über Ishgalad herauszufinden? Schließlich rühmten sich die Fyrgar, dass sie alles wüssten über Waldsee. »Das Wissen kommt zu uns, wenn es an der Zeit ist«, lautete ein Spruch des Volkes. »Was wir nicht wissen, hat keine Bedeutung.« Die Fyrgar warteten seit je her ab. Früher oder später erfuhren sie alles. Und sie würden ebenso alles bewahren. Efrynn hatte ab und zu davon gesprochen, wenigstens einmal das ganze Gebirge zu durchwandern, um mit eigenen Augen zu sehen, was er nur vom Hörensagen wusste. Seine Eltern waren über dieses Ansinnen entsetzt gewesen. Fyrgar wanderten nicht, sie blieben und bewahrten, beobachteten und lauschten, ließen das Wissen zu sich kommen. Sie versuchten, den Göttern so nah zu sein wie möglich, vor allem Lúvenor, dem Schöpfergott und Beschützer der Alten Völker, zu denen auch die Fyrgar gehörten. Aldavinur hatte den Jungen streng ermahnt, doch wie konnte er einen solchen Forscherdrang ausmerzen? Das war unmöglich. Deshalb nahm er Efrynn jetzt mit, das heutige Abenteuer würde ihn wieder für einige Zeit zufriedenstellen, bevor er von neuer Ruhelosigkeit erfüllt würde. Und Efrynn, das stolze Kind, musste Erfahrungen sammeln, um zu erkennen, wie falsch sein Streben war. Es gab Fyrgar, die ebenso ruhelos waren wie der Junge. In früheren Zeiten war es immer wieder vorgekommen, dass der eine oder andere nach dem Gang durch das Feuer auf die Dritte Stufe die Berge verließ, um im Tiefland seine Dienste anzubieten. Dort unten nannte man diese sterblich gewordenen Fyrgar ehrfürchtig »die Flammenritter«, weil sie den Umgang mit dem Schwert in Vollendung beherrschten, doch bei ihrem eigenen Volk galten sie als Narren und vor allem als blutgierige Söldner. Man sprach nicht über sie. Die letzten Fyrgar waren wohl vor tausend Jahren gegangen, aber Aldavinur hatte keinen von ihnen gekannt. Sie hatten ziemlich weit entfernt in den westlichen Ausläufern des Gebirges gelebt. Er hatte sich nicht darum gekümmert; wenn jemand gehen wollte, dann war es dessen freie Entscheidung. Er urteilte auch nicht über diese sogenannten »Abtrünnigen«, über die der Rat sich empörte. Andererseits konnte er die Besorgnis durchaus verstehen, dass solches Verhalten eines Tages zu Verwicklungen führen konnte, wenn dadurch etwa die Lebensweise der Fyrgar bekannt würde oder wenn sich mehrere Tiefländer auf den Weg zu ihnen herauf machen würden. Ab und zu kam das zwar vor, aber es waren immer nur Einzelne, die den Pfad der Erleuchtung betreten wollten oder nach Erlösung suchten, und keiner von ihnen kehrte wieder zurück. Aldavinurs erste Vermutung, nachdem er den Schrei gehört hatte, war deshalb, dass es sich um einen solchen ungeladenen Besucher handelte, dem etwas zugestoßen war. Vielleicht hing dies auch mit den Stürmen der letzten Zeit zusammen, die immer aus Westen kamen Weitere Leseproben
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