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DORNRÖSCHEN von Uschi Zietsch
Sein Großvater hatte ihm das Märchen oft zum Einschlafen erzählt. »Vor langer Zeit, als in unserem Lande das Glück herrschte, lebte einst eine Prinzessin namens Dornröschen, die war so schön und liebreizend wie keine zweite ... doch eine böse Hexe neidete das Glück, das sie brachte, und verfluchte sie ...«
Arandil konnte nie genug davon bekommen, als Kind nicht, als Halbwüchsiger nicht, und als junger Mann erst recht nicht. Immer nur träumte er von Dornröschen, sah sie so lebendig vor sich, dass er enttäuscht war, wenn er erwachte, und sie war nicht da – entschwunden in den Nebeln des Traumsäers.
Es war ja nicht so, dass die heutige Zeit von Unglück geprägt wäre. Arandils Vater, König Nurwe, konnte den Frieden an den Grenzen halten, und das Volk murrte kaum mehr als in anderen Ländern auch.
Trotzdem gab es so einiges, das Arandil gern ändern wollte, sobald er die königliche Herrschaft übertragen bekam. Und dazu gehörte zuallererst, die richtige Frau zu finden. Sein Vater hatte da eine Menge Vorschläge. Prinzessinnen der benachbarten Königreiche – sehr wichtig für einen dauerhaften Frieden – aber auch die eine oder andere edle Tochter eines treuen Vasallen. Arandil aber wollte immer nur eine: Dornröschen.
Sein Vater und sein Großvater gerieten deswegen in fürchterlichen Streit. »Du hast ihm diese Flausen in den Kopf gesetzt mit diesem Märchen!« - »Es ist ein Märchen für Kinder! Arandil ist erwachsen! Ich habe ihm das Märchen das letzte Mal vor neun Jahren erzählt – da war er halb so alt!« - »Wie konntest du es ihm überhaupt erzählen? Ich hatte es verboten!«
Verboten? Das hörte Arandil zum ersten Mal, allerdings stimmte eines: Sein Großvater hatte ihm stets eingeschärft, das Märchen für sich zu behalten, es sei nur für königliche Ohren bestimmt und niemanden sonst. Also machte er sich kundig bei Hofe. Er ging zum Königlichen Berater, zum Hofmagier und zum Auguren. Sie alle wollten sich nicht offen zu der Frage äußern, ob es im Allgemeinen Verbotene Märchen gab, und was es mit dem Dornröschen im Besonderen auf sich hatte. Ein jeder druckste herum; es gebe keine solchen Märchen ... Dornröschen sei ihnen unbekannt ... Arandil suchte weiter, bis er endlich eine alte blinde Frau fand, die zum Verlesen der Erbsen beauftragt war. Sie saß ganz hinten in der Küche, zusammengeschrumpelt und mit gichtigen Fingern, die zittrig die Schoten aufbrachen. Das Alter der Blinden kannte niemand, der damals jugendliche Großvater des heutigen Königlichen Chefkochs hatte sie schon da hinten als Alte sitzen sehen und Erbsen verlesen. Jeder nannte sie nur »das Mütterchen«.
»Mütterchen, die Ihr erleuchtet seid von der Weisheit des Alters, darf ich Euch etwas fragen?«, kam Arandil gleich zur Sache und setzte sich zu ihr.
Die Alte wandte leicht den Kopf. »Du musst der junge Erbprinz sein«, sagte sie. »Welcher bist du? Nurwe?« Ihre Stimme klang alt und zittrig.
»Das ist mein Vater«, antwortete der Jüngling. »Ich bin Arandil.«
»Oh, schon wieder eine Generation vorbei! Die Zeit vergeht so schnell ...«
»Dann ist auch mein Vater zu Euch gekommen?«
»Sie kommen alle zu mir, mein Küken, und nur wegen einer Sache.«
Arandil wurde ein wenig blass. »Dornröschen ...«
»Richtig, Honigkuchen. Schon seit Generationen versuchen deine Väter und Vorväter, sie zu finden und zu erlösen. Die zarte Prinzessin, die durch einen Fluch und einen vergifteten Rosendorn seit Jahrhunderten im Bannschlaf liegt. Glück soll sie euch verheißen, und Macht. Das Land zu neuer Blüte führen.« Die Uralte wiegte bedächtig den Kopf, um ihre Worte zu unterstreichen, und fuhr dann mit der Arbeit fort.
»Dann ... dann ist die Geschichte also wahr?«, fragte der Prinz aufgeregt.
»Selbstverständlich. Es ist die Legende eures Hauses. Wer die Prinzessin erlöst, heißt es, wird ein großer König, größer als alle anderen zuvor. Doch gelingen kann es nur einem, der reinen und keuschen Herzes ist. Bisher hat jeder Einzelne deiner Familie versagt.«
»Aber ... warum ist mein Vater dann zornig auf meinen Großvater und hat ihm verboten, die Geschichte zu erzählen? Niemand in diesem Schloss darf darüber reden!«
Die Uralte rieb sich über die blinden Augen und kicherte. »Du unerfahrenes reizendes Kind, du. Dein Vater ist der Einzige, der nicht gegangen ist. Nach unserem Gespräch damals zog er sich zurück. Und nach seiner Inthronisation verbot er die Geschichte von Dornröschen. Aber dein Großvater wahrte die Tradition und gab sie an dich weiter.«
»Und ich muss gehen ...«, flüsterte Arandil. »Es gibt nur sie für mich, schon immer ...«
»Ja«, nickte das Mütterchen. »Vielleicht bist du der Eine.«
»Seit ich das erste Mal von ihr hörte, denke ich nur an sie ...«
»Möglicherweise kann sie dich auch spüren und ruft dich ...« Ein Schatten fiel über das Gesicht der Alten. »Oh, wie sehr ich Erlösung erhoffe ...«
»Mütterchen, eine Frage habe ich noch: Was habt Ihr damit zu tun?«
Da kicherte die Uralte wieder. »Ich verlese die Erbsen«, antwortete sie und nahm die nächste Schote.

Arandil war nun nicht mehr zu halten. Er bat seinen Großvater um heimliche Unterredung unter vier Augen, und so trafen sie sich in einem dunklen Winkel des Pferdestalls, als der König ausgeritten war. »Ich werde noch heute Nacht losziehen«, erklärte der junge Prinz rundheraus und berichtete, was er von dem Mütterchen erfahren hatte.
Sein Großvater nickte. »Wenn es uns treibt, müssen wir gehen, daran kann uns niemand hindern. Auch ich glaubte damals, sie riefe mich, aber ich war nicht rein genug, und ... nun ja, keusch noch weniger.«
»Haben es denn auch Prinzen anderer Länder versucht?«
»Nein. Nur die Herrscher dieses Landes hören den Ruf, und nur ihnen ist der Triumph bestimmt, Hochkönig auch über die angrenzenden Länder zu werden. Deshalb ist dein Vater so ängstlich darauf bedacht, dass niemand mehr über Dornröschen spricht, weil er Angst um den Frieden hat, sollten die anderen Länder von dieser Prophezeiung erfahren. Und ihm ist dieses Königreich genug, er strebte nie nach mehr.«
»Ich schon!«, rief Arandil. »Ich habe große Pläne. Mein Königreich soll zur Legende werden, die in anderen Gegenden besungen wird, und von der alle träumen!«
Und da erklärte der Großvater dem Enkel den Weg: Durch die Trauernden Sümpfe und die Klagende Schlucht und durch den Steinernen Wald. Viele Gefahren und Verführungen lauerten unterwegs, und viele Vorfahren waren daran gescheitert. Manche kehrten nicht lebend zurück ...
Gaby Hylla © http://www.gabyhylla-3d.de Weitere Leseproben
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