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no. 5: perspektive afrika
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aufgelesen |
Greil Marcus: Invisible RepublicNew York: Henry Holt 1997, 1998 (TB). |
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Sowie: |
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Rockmusik ist längst von der Zeit eingeholt worden. Jede neue Platte der Rolling Stones, die dazu gehörende Tornee sowie die darauffolgende Live-Platte (man ist davor einfach nicht sicher, wie der Titel der jüngsten Lieferung auch wörtlich eingesteht) zeigen eindrucksvoll, wie man Rock auf der Bühne vor Zehntausenden als historisches Ereignis zelebrieren kann. Nein, der Patient ist nicht tot -- wie auch die Etikettierer des Postrock feststellen, die Tortoise und The Sea And Cake zwar jenseits des Krankenbetts postieren wollen, aber dennoch nicht bis zum nächsten Kreißsaal vorstoßen. Über 150 Jahre nach Hegels Ästhetik scheint sich Rockmusik also als Kunstform genau insoweit zu beweisen, als sie ihre Zeit medial erfaßt und sich so bereits selbst zur Geschichte gemacht hat. |
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Greil Marcus traut diesem Braten nicht recht. Als der vielleicht hintergründigste Rock-Kritiker der Gegenwart verschreibt er sich keiner linearen Geschichtsauffassung -- ein Grund vielleicht, warum es nicht sein primäres Anliegen ist, auf der Höhe der Zeit zu sein. Ganze 22 Jahre ließ der Mann verstreichen zwischen seinen Anmerkungen zur auszugsweisen Veröffentlichung der Basement Tapes (aufgenommen von Bob Dylan und The Band im Sommer 1967) im Jahr 1975 und seinem letzten Buch, in dem nun "die ganze Geschichte" dieser Aufnahmen erzählt wird. Die Anführungszeichen sind ernstzunehmen: Marcus' labyrinthische Analyse umfaßt zeitlich Naheliegendes, weiter Entferntes sowie eine unbestimmte Zukunft. |
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Die proximalen Ereignisse sind Dylans Motorradunfall sowie die berüchtigte 66er Tournee in England, als der vormals von vielen Anhängern als Folk-Sänger Identifizierte die E-Gitarre einstöpselte und deshalb als Verräter, "Judas" und "You're not Bob Dylan!" niedergeschrien und -geklatscht wurde. Nachzuhören -- inzwischen auch 'offiziell' -- auf dem vielleicht berühmtesten Bootleg der Rockgeschichte, der Aufnahme vom 17. Mai 1966 aus der Manchester Free Trade Hall, das in raubkopierter Form als "Royal Albert Hall Concert" bekannt wurde. Selten hat man 'Pop'-Musik unter derartiger Spannung gehört, denn an diesem Abend war der Sänger alles andere als populär. Marcus interpretiert den radikalen Antagonismus zwischen Dylans Musik und den enttäuschten Publikumserwartungen nicht als rein avantgardistische Geste, sondern vielmehr als eine Form von Individualismus, die ihre Wurzeln in einem weit zurückreichenden Verständnis von Tradition hat. Einem Verständnis allerdings, daß den Folk-Erneuerern der 60er nicht schmecken wollte. In der Szene des Greenwich Village und auf dem Newport Folk Festival nämlich wurde 'reine' Folk Music dogmatisch als Gewissensberuhigungsmittel gegen das Establishment der bösen Popkultur verabreicht -- in romantisierender Form, an der Marcus kaum ein gutes Haar läßt. |
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Die meisten dieser städtischen Folkies waren in der Tradition, die sie propagierten, genau so tief verwurzelt wie es die Breite ihrer Schallplattensammlung zuließ. Der gängigste Fixpunkt dabei war Harry Smiths Anthology of American Folk Music, eine Sammlung auf 3 Doppel-LPs, die zuerst 1952 veröffentlicht wurde. Die Neuveröffentlichung dieser eklektischen Zusammenstellung des Ethnomusikologen und Mystikers Smith auf 3 CDs zeitgleich mit Marcus' Buch erinnert daran, daß 'Folk' hier alles andere als die heile Welt eines präkapitalistischen Kommunitarismus oder des beseelten Protests gegen deren Verlust ist. Mögen viele dieser Lieder auch von den Folkies als Coverversionen aufgenommen worden sein, so zeigt doch der Eklat um Dylan in Marcus' Augen deutlich, daß hier nicht immer richtig zugehört worden war. In den Songs und Balladen geht es um Mord und Totschlag, Lust und Schuld, Verdammung und die Hoffnung auf Erlösung. Keineswegs läßt sich das Repertoire auf work songs und demonstrative 'Protestlieder' einschränken. |
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Die Stücke wurden sämtlich zwischen 1927 und 1932 aufgenommen, oft von Künstlern, die nur wenige Male in ihrem Leben ein Tonstudio von innen sahen. Der von Smith aus seiner riesigen Sammlung dieser bereits während des zweiten Weltkriegs weitgehend vergessenen Platten zusammengestellte Querschnitt ist provokativ in seiner stilistischen Vielfalt. So beschreibt er laut Marcus, unter Rauschen, Knacken und Stöhnen, die vagen Grenzlinien einer "unsichtbaren Republik" -- im Geiste eines ur-amerikanischen Verständnisses von Demokratie und Redefreiheit, welches Amerika selbst abhanden gekommen ist. Diese Vergessenheit ist es, welche Dylan 1965/66 entgegenweht, als er sich die Fender umschnallt und anfängt, "Folk Music" mit anderen Mitteln zu betreiben. |
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Dylans Abtauchen ins Private nach dieser Tournee ist selbst zum quasi-mythischen Ereignis stilisiert worden. Marcus ist an diesem Verschwinden (wie überhaupt an Dylan) weniger unter biographischen als unter zeitgeschichtlichen Gesichtspunkten interessiert. Die in dieser Zeit entstandenen Bandaufnahmen werden als eine Zäsur beschrieben, die gleichzeitig den Bruch des Vergessens und die schemenhafte Erinnerung an die Radikaliät einer ex-zentrischen Tradition darstellt. Die Verknüpfung von Dylans Basement Tapes mit der Anthology öffnet so die Zeit nach hinten und nach vorne: Dylans zeitlos mystische Songs und Coverversionen aus dem Sommer 1967 weisen sowohl zurück auf ein kollektives Gedächtnis im Untergrund -- jenseits der 'offiziellen' Subkultur -- als auch in die Zukunft. Marcus' konsistente Schleifen fangen immer wieder eine Gegenwart der 90er ein, deren Phänomene (Gewalt, Kommerzialisierung von Fantasien) sich als Schatten auf der Landkarte dieser unsichtbaren Republik abzeichnen. Einer Republik, zu deren Bürgern auch ein gewisser "Bob Dylan" zählen könnte, jedoch keinesfalls als festgeschriebener Ehrenbürger in einem goldenen Buch. In der instabilen Raum/Zeit von Marcus' Republik, wo die freie Rede des Einzelnen immer wieder unvorhersagbar mit dem Kollektiv koaliert und kollidiert, ist nicht gut bleiben. Gerade deshalb ist es von Dylans Apologie israelischer Aufrüstung (Neighborhood Bully -- auf Infidels, 1983) bis zum rastlosen "I know plenty of people put me up for a day or two / Yes I try to get closer but I'm still a million miles from you" (Million Miles -- auf Time Out Of Mind, 1997) immer nur ein verschwindend kleiner Schritt. |
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(Martin Klebes) |
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Will Kymlicka: Multicultural Citizenship. A Liberal Theory of Minority RightsOxford: Clarendon Press 1995. 280 p. |
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Rechte ethnischer oder nationaler Minderheiten stellen liberale Demokratien, wie wir wissen, noch immer vor schwerwiegende Probleme. Pauschale und für alle Länder gültige Anworten gibt es dazu kaum, wie die deutschen Schwierigkeiten mit der Intergrationsfrage -- jüngst verhandelt am Instrument der doppelten Staatsbürgerschaft -- seit langem belegen. |
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Hierzulande verfügt man zwar mit der 1998 dreißig Jahre alt gewordenen Gesellschaft für bedrohte Völker über ein öffentliches Gewissen, welches internationale Minderheitenprobleme vor allem in der Zeitschrift progrom sorgfältig dokumentiert, aber von einem Konsens in Fragen des Umgangs mit ethnischen oder nationalen Minderheiten kann keine Rede sein. |
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Dafür gibt es Gründe: Mit dem Schlagwort des 'Multikulturalismus' verbindet sich für viele die Vorstellung einer fragmentierten Gesellschaft, die ihre romantische Utopie eines friedlichen Nebeneinander nur um den Preis eines Werterelativismus erträumen kann. Hat man den Multikulturalismus freilich erst einmal so zurechtgeschnitten, ist es einfach, ihm selbst repressive Tendenzen nachzuweisen. Die Toleranz gegen Intolerante schlägt dann in fragwürdige Parteinahme um. Vertreter eines kulturellen Pluralismus auf liberalistischer Basis halten deswegen eigene Minderheitenrechte in der Regel für überflüssig, da mit dem Verbot ethnischer Diskriminierung des Einzelnen (Art. 3, Abs. 3 GG) eine ausreichende Rechtsgrundlage vorhanden sei. Meist wird hinzugefügt, daß vor allem durch die Anerkennung ethnischer Minderheiten Abstammungsgegensätze erneut festgeschrieben werden, die wir gerade überwinden wollen. So entsteht das Zerrbild einer zweigeteilten Diskussionslage: hier Minoritätenschutz und Multikulturalismus, dort bürgerrechtlicher Liberalismus und folglich kultureller Pluralismus. |
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Will Kymlickas Multicultural Citizenship versucht derartige Schematismen aufzubrechen, wenn er den Ansatz eines auf das Individuum gerichteten politischen Liberalismus (J. Rawls) durch die Anerkennung von spezifischen Minoritätenrechten erweitern will. Minderheitenrechte seien keine Menschenrechte, so argumentiert er, da die traditionellen Menschenrechtsstandards nicht ausreichten, um besondere Minderheitenprobleme zu lösen: |
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Welche Sprache soll z. B. im Parlament, in der Bürokratie oder vor Gericht gesprochen werden? Soll ethnischen oder nationalen Gruppen öffentliche Unterstützung gewährt werden für die Ausbildung in ihrer Muttersprache? Sollen internationale Grenzen so gezogen werden, daß Minderheiten zu lokalen Mehrheiten werden? Soll die staatliche Macht dezentralisiert werden, um Minderheiten mehr Mitsprachemöglichkeiten zu gewähren? Sollen politische Ämter im ethnischen Proproz verteilt werden? Sollen traditionelle Homelands vor internationalen ökonomischen Interessen geschützt werden? Welches Maß an kultureller Integration kann von Immigranten und Flüchtlingen erwartet werden, bevor sie die jeweilige Staatsbürgerschaft erhalten? |
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Wer glaubt, daß es sich dabei um einen Fragekatalog handelt, der vielleicht für Brasilien, jedoch nicht für europäische Staaten relevant ist -- ein Argument, mit dem die Bundesrepublik bis heute die Unterzeichnung der ILO-Konvention 169 verschoben hat -- übersieht, daß die institutionelle Berücksichtigung der jeweiligen Minderheit in gleicher Weise erfordert sein kann, wenn es sich nicht um ein indigenes Volk, sondern um Gastarbeiter, Aussiedler, Exilanten oder Flüchtlinge der zweiten oder dritten Generation, um Menschen mit kultureller Bi-, Tri-, ..., Multi-Identität oder um Volksgruppen wie die deutschen Sinti und Roma handelt. Das langfristige Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen führt auch in den althergebrachten Demokratien zu Konflikten, die eine gesonderte Regelung der über den bloßen Diskriminierungsschutz hinausgehenden Fragen erforderlich macht und die das Profil dieser Demokratien in den nächsten Jahrzehnten grundsätzlich verändern wird. |
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Kymlickas primär philosophische, nicht politisch-juristische Untersuchung geht von der Unterscheidung dreier Arten von Minderheitenrechte aus: 1. die Gruppe der Selbstverwaltungsrechte (etwa Selbstbestimmung, Fragen des Föderalismus, ggf. Sezession); 2. polyethnische Rechte, die staatliche Unterstützung und gesetzlichen Schutz von Minderheiten in kulturellen Fragen vorsehen, und 3. besondere Repräsentationsrechte, die die Möglichkeiten politischer Partizipation von Minderheiten in den Institutionen der Mehrheit garantieren sollen (Kymlicka 1996: 26ff.). |
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Den Konflikt dieser 'kollektiven Rechte' mit den Individualrechten will Kymlicka dadurch entschärfen, daß diese die Basis bilden, von denen jene abgeleitet werden. Im umgekehrten Fall gerate man in die Aporie, daß Rechte, die Gruppen auch unabhängig von ihren Mitgliedern zukommen sollen, nur zur Herleitung interner Einschränkungen der Freiheitsräume einzelner Mitglieder herangezogen werden können, nicht hingegen zur Begründung der eigentlich entscheidenden externen Einschränkungen zwischen verschiedenen Gruppen (Kymlicka 1996: 47). Und seine Hauptthese lautet daher, daß ein liberaler Umgang mit dem Minoritätenproblem nur externe Regelungen zwischen den Gruppen betreffen könne und den Kernbestand liberaler Menschenrechte allen Ethnien zumuten müsse. |
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Im Laufe der Untersuchung werden die Begriffe des 'Multikulturellen' und der 'kollektiven Rechte' weiter differenziert, wird in einem historischen Abriß die Tradition des Liberalismus auf das Minoritätenproblem hin untersucht und die Rolle des Kulturbegriffs innerhalb liberaldemokratischer Theoriebildung in den Blick genommen. Die zentralen Kapitel analysieren die wichtigsten Argumente für gruppenspezifische Rechte (chap. 6), Fragen der politischen Repräsentation (chap. 7) und die Grenzen der Toleranz (chap. 8). Die letzten beiden Kapitel schließlich diskutieren Fragen der Stabilität multikultureller Gesellschaften und die Konsequenzen der Globalisierung. |
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Für das Gros der deutschen LeserInnen könnte Kymlickas Buch jedoch in doppelter Weise zu früh geschrieben sein: nicht nur fehlt es an einer breiteren, nicht nur fachphilosophischen Einsicht in den politischen Liberalismus und seine theoretischen Begründungsfragen; auch der politische Wille, Minoritätenprobleme von einem liberalen Standpunkt aus anzugehen, dürfte wenig entwickelt sein, in einem Land, in welchem sich eine Mehrheit in ihrer Anerkennung in Frage gestellt sieht, wenn einzelne über eine Identität verfügen. |
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(Guido Naschert) |
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Don DeLillo: UnterweltNew York (Scribner) 1997. $16 (Paperback) |
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deutsch: Don DeLillo: Unterwelt (aus dem Amerikanischen von Frank Heibert). Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1998. DM 54. |
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Die 800 Seiten von Don DeLillos 1997 in den USA erschienenem Roman Underworld lesen sich, als ginge man in ein gutes Jazzkonzert: Ein Rhythmus, der den Leser unweigerlich in seinen Bann zieht und schon nach kurzer Zeit dessen Herzschlag zu verändern scheint, sowie Melodien, die einfach und klar dennoch ein Höchstmaß an harmonischer Entwicklung erlauben und erstaunliche Improvisationen anregen, die die Zeit wie im Fluge vergehen lassen. Ob es die Beschreibung eines Baseballspiels ist, die auch dem ungläubigsten europäischen Thomas noch klarmacht, wieso die meisten US-Amerikaner von diesem Spiel besessen sind, ob es das mit beinahe beunruhigender Komik im Werbestil der 50er Jahre geschriebene Porträt einer Vorstadtfamilie ist, in dem die prototypische, dem Sunset-Magazin entsprungene amerikanische Hausfrau der baby-boomer Zeit schwärmerisch Chicken-Jell-O-Mousse zubereitet, während ihr Sohn im Hinterzimmer onaniert und dabei von Langstreckenraketen träumt, ob DeLillo die kathartischen Auftritte des stand-up comedians Lenny Bruce während der Kuba-Krise zurück ins Leben ruft, oder die New Yorker Kunstwelt in präzisen Studien skizziert, stets erweist er sich nicht nur als ein Meister der Beobachtung, sondern auch als ein Meister der Sprache. Wenn jemals die der Musik entlehnte Metapher der Polyphonie tatsächlich auf den Roman zutraf, dann hier: Klang und Rhythmus bestimmen den Text ebenso, wie die präzise Choreographie der höchst unlinearen Handlungsführung über fünf Jahrzehnte amerikanischer Geschichte. Die Wirkung bleibt nicht aus: Nicht nur hätte man sich den Roman eher noch länger gewünscht, man ertappt sich auch dabei, insgeheim DeLillo's Stil zu kopieren zu versuchen, um den Puls des Textes zum eigenen zu machen. |
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Doch Underworld ist noch mehr als stilistische Brillanz und bestechendes Porträt der amerikanischen Gesellschaft der letzten 50 Jahre: Kurz vor der Schwelle zum nächsten Jahrtausend und damit zu einem Zeitpunkt, an dem ihre Revision immer dringlicher erscheint, hat DeLillo die Denkfigur narrativ in Szene gesetzt, die die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts wie keine andere geprägt hat: Die Binarität. |
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Denn wenn die USA auch nicht, wie es manchem vielleicht scheinen möchte, der Rest der Welt sind, so läßt sich der Effekt eines Denkens in binären Oppositionen, in dem das Eigene ohne Abgrenzung vom Anderen nicht Gestalt annehmen kann, am Beispiel des einen Hauptakteurs des Kalten Krieges dennoch repräsentativ für eine ganze Epoche lesen. Einmal mehr erweisen die USA sich so als das Land der Extreme: als larger than life und doch den Alltag bis ins Detail bestimmend kann DeLillo hier die Struktur vorführen, die das Denken anderswo ebenso bestimmt und bestimmte. |
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DeLillo bietet so in einer Zeit, in der es nach dem Fall des eisernen Vorhangs schwierig geworden ist, die gegenwärtige Lage zu konzeptualisieren und Modelle zu entwickeln, die für die Zukunft tragfähig sein könnten, den entscheidenden ersten Schritt: eine Beschreibung der Modelle, die nicht mehr greifen, sowie der Reaktionsmechanismen, die im Zerfallsprozeß dieser Modelle bisher zu Tage getreten sind. |
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Nick Shay, der Protagonist in DeLillos Roman, der als einziger in einigen Kapiteln das Privileg des Ich-Erzählers erhält, arbeitet für die Whiz Co. Abfallgesellschaft, ein Unternehmen, das die Zeichen der Zeit längst erkannt hat und sich um die vordringlichste Aufgabe der Gegenwart kümmert: die Müllentsorgung. Insbesondere der Atommüll wird hier zur ironischen Figur eines postmodernen Erhabenen: Nachdem die jegliche Vorstellungskraft übersteigende Zerstörungskraft der Bombe als potentielle Annihilation des Anderen zur Identitätsstiftung nicht mehr zur Verfügung steht, kann sich nun an deren Müll, dessen Tödlichkeit nicht mehr zwischen hüben und drüben unterscheidet, eine neue Zivilisation kristallisieren. Denn die Zivilisation, so Whiz Co.'s Chefideologe Jesse Detwiler, produziert ihren Müll nicht, sie entsteht vielmehr als Reaktion auf ihn. In einer Zeit, die sich nur noch durch das Präfix 'Post' definieren kann, entsteht die Identität so aus dem Müll ihrer früheren Beschreibungsversuche. Ein Neues ist nicht mehr möglich, nur noch das Spiel mit der Nichtassimilierbarkeit des Alten. In der Logik einer spätkapitalistischen Gesellschaft gipfelt die Postmoderne so im Atommülltourismus (Plutonium National Park). So verkündet es jedenfalls Detwiler in seinen Seminaren an der UCLA, und so löst es der Roman in einem Strang des Epilogs auch ein, wenn die Whiz Co-Elite in Kasachstan dank des nötigen Kleingelds einer unterirdischen Atombombenexplosion beiwohnen darf. Der Zusammenbruch der Ost-West Dichotomie führt so in einen globalen Markt, in dem die alten Strukturen letztlich immer noch gelten, unter geänderten Vorzeichen jedoch als Müll zu Geld werden können. -- Derweil Nick Shay und Familie zuhause brav und guten ökologischen Gewissens Aluminium von Plastik trennen. |
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Nicks Bruder Mat hinkt da noch einen Schritt hinterher: Der ehemals passionierte Schachspieler hat der binären Struktur von Schwarz und Weiß, Gewinn und Verlust noch nicht in die gewinnbringende Sublimierung postmoderner Ironie entkommen können. Als Waffenexperte für die Armee ist er dazu gezwungen, in den eigenen Selbstzweifeln die Aporien eines Weltbildes nachzuerleben, das zwar klare Selbstdefinitionen produziert, diese jedoch nur in einem Geflecht aus Lügen, Geheimhaltung und Absurditäten aufrecht erhalten kann. Der aufklärerische Fortschrittsglaube und die christlich-proselytische Selbstdefinition der USA produzieren hier am Ende paradoxerweise eine Identität, die von der des 'bösen' Gegenbildes nicht mehr zu unterscheiden ist. Das im Roman immer glaubwürdiger werdende Gerücht, das US-Militär habe Teile der Bevölkerung Utahs bewußt atomarer Strahlung ausgesetzt, um deren Wirkung im Ernstfall zu testen, ist da nur das überspitzte Extrem. Ein Identitätsentwurf, der auf Negation beruht, produziert letztlich nichts als inhaltslose Selbstwidersprüche. |
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Einen Ausweg aus dem Dilemma, der in einer anderen Form als der Whiz Co.-Variante der Müllverarbeitung besteht, verkörpert die Künstlerin Klara Sax, nicht nur kurzzeitige Geliebte eines damals noch jugendlichen Nick Shay, sondern auch Ex-Frau von Matts Schachlehrer Albert Bronzini. Klaras künstlerische Karriere gipfelt in DeLillos Roman in Long Tall Sally, einer Wüstenskulptur gigantischen Ausmaßes, in der ausrangierte Langstreckenbomber farbig eingesprüht zum überwältigenden Kunstwerk in der Verbindung von Technik, Kunst und Natur werden. Klara erinnert hier in einem Gespräch mit Nick an Oppenheimer, der die Atombombe einmal als Scheiße bezeichnet habe, um zur Sprache zu bringen, daß alles, was die Vorstellungskraft zu weit übersteige, um noch benennbar zu sein, automatisch den Status von Abfall, Müll und Fäkalien erhalte. Klara Sax sucht diesem Prozeß der Moderne entgegenzuwirken, die die Geister, die sie rief, nicht mehr zu verstehen in der Lage ist. Sie ist bemüht, die seelenlose Repetition der (post)modernen Alltagsmaschinerie zu unterbrechen und mit neuem Leben zu füllen, das Unsagbare doch noch sicht- und sagbar und damit begreif- und verarbeitbar zu machen. Die Kunst praktiziert so eine andere Art der Müllverarbeitung als der Kommerz, denn dem Betrachter Nick Shay werden die ausrangierten Bomber, einst todbringende Maschinen, durch Klara Sax' Verarbeitung und Beschreibung zu Zeichen der Hoffnung. Nicht die letztlich inhumane Unassimilierbarkeit des Mülls, sondern seine Verwandlung zu etwas, mit dem Menschen in Dialog treten können, weist so einen Weg in die Zukunft. In dieser Form des Recycling ist das binäre System dann nicht nur erkannt und verarbeitet, es wird auch auf etwas Neues hin überwunden: Klara Sax' Skulptur ist mehr als eine Kritik der Vernichtungsmaschinerie des Kalten Krieges, sie verwandelt dessen Überreste in ein gemeinschaftliches Projekt, das in der Verarbeitung des Alten dem Betrachter neue Möglichkeiten eröffnen kann. |
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DeLillos Erzählung ist ein ebensolches Projekt der Müllverarbeitung, da auch sein Erzählen schließlich nichts anderes ist als der Versuch mit dem unsagbaren Müll der Wirklichkeit umzugehen. "Die Macht eines Ereignisses kann aus dessen unauflöslichem Herzen entspringen, all den grausamen und unfaßlichen Elemente, die nicht aufaddierbar sind, und sie führt dich dazu, seltsame Dinge zu tun, dir selbst Geschichten zu erzählen und glaubhafte Welten aufzubauen." sagt Matt Shay einmal und beschreibt so auch den Prozeß von DeLillos Roman. Auch dieser entsteht mit dem Abfallprodukt eines binären Ereignisses: Der Baseball, mit dem Bobby Thompson den Homerun erzielte, der das legendäre Spiel zwischen den Brooklyn Dodgers und den New York Giants entschied, das Spiel, mit dessen Beschreibung Underworld beginnt, dient als das Element der Kontingenz, an dem sich dennoch die Struktur des Romans kristallisiert. Der Protagonist Nick Shay ist der gegenwärtige Besitzer des Balls und DeLillo spielt im Laufe des Romans mit dem Wunsch des Lesers, die sprunghafte Chronologie des Textes auf einen roten Faden rückprojizieren zu können, der mit unfehlbarer Sicherheit vom Spiel des 3. Oktober 1951 bis in Nicks Hosentasche führen könnte. Der nichtkommunizierbare Müll erwiese sich so als komplett verarbeitbar, und die rohe Kontingenz der Realität wäre in den Wunschtraum des geschlossenen Systems der Fiktion verwandelt. Doch Marvin Lundy, die Figur im Roman, die sich der Suche nach der perfekten Kausalkette verschrieben hat und versucht, jedes Glied in der Kette der Geschichte des Baseballs aufzudecken, ist schließlich zum Scheitern verurteilt. Die Position eines allwissenden Autors, der Kontingenz ohne Zweifel zur Kausalität reduzieren könnte, wird dem Leser vorenthalten, der so nur darauf vertrauen kann, das letzten Endes alles mit allem verbunden ist. Kurz vor der Vollendung des perfekten Plots stößt Marvin Lundy statt des gesuchten Baseballbesitzers auf ein geheimnisvolles Schiff, über das auch in der Whiz Co. Company nur mit vorgehaltener Hand gemunkelt wird: Bis an den Rand vollgeladen mit stinkenden Fäkalien kann dieser postmoderne fliegende Holländer in keinem Hafen endgültig vor Anker gehen und ist dazu gezwungen, bis ans Ende der Tage über die sieben Weltmeere zu schippern. Der Müll hat so die Geschichte wieder eingeholt, und die Realität entzieht sich, aller Bemühungen zum Trotz, jeder Erklärung eines erzählerischen Recyclings. In ebenso unverdrängbarer wie letzlich unfaßbarer Konkretheit sprengt sie jedes System ebenso wie der Homerun-Ball, der über die Stadionwand hinaus aus dem (binären) Spielfeld geschleudert wird, um unentwegt neue Geschichten zu produzieren, die jedoch niemals die ganze Wahrheit sind. Daher bleiben selbst im binären Medium par excellence, dem Internet, in dem DeLillos Roman schließlich zu Ende kommt, Kontingenz, Körperlichkeit und sogar Religiosität weiterhin präsent. Wenn Strukturen, die nur auf Null und Eins basieren, letztlich keine befriedigenden Beschreibungen abgeben können, dann deshalb, weil die Unabschließbarkeit der Welt stets dafür sorgt, daß uns niemals die Geschichten ausgehen. |
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(Alexander Schlutz) |
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Rolf Dieter Brinkmann: Briefe an Hartmut 1974-1975. Mit einer fiktiven Antwort von Hartmut SchnellRowohlt 1999. 285 S. |
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Wer bereits eine germanistische Dissertation über das Werk des 'Pop-Poeten' Rolf-Dieter Brinkmann aus Vechta verfaßt hat, könnte mit etwas Unbehagen zu dem Brief-Band greifen, den Maleen Brinkmann jüngst aus dem -- wie es scheint -- sehr reichhaltigen Nachlaß herausgegeben hat. Denn hier zeigt sich eindrücklich, wie der Dichter selbst bereits anno 1974 an seiner literaturwissenschaftlichen Aufbereitung gearbeitet hat. Brinkmann befand sich zu diesem Zeitpunkt auf Einladung von Leslie Willson, des damaligen Leiters der Germanistik-Abteilung der Universität Texas, in Austin, wo er den ausgewanderten Studenten Hartmut Schnell kennenlernte. Dieser Magister-Kandidat war durch den deutschen Dichter so sehr beeindruckt, daß er schon bald das geplante Thema seiner Abschlußarbeit fallen ließ, und statt über Alfred Lichtenstein nun über Rolf-Dieter Brinkmann schrieb. |
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Diesem im Nachwort ausführlich geschilderten Umstand ist es zu verdanken, daß der Dichter Brinkmann seinem amerikanischen Freund ausführliches und vor allem authentisches Material zu seiner Magisterarbeit zubereitete. Ein einzigartiger Briefwechsel also für alle diejenige LeserInnen, die Interesse daran haben zu untersuchen, wie die Literaturwissenschaft ihren Gegenstand manipuliert, und umgekehrt: wie Schriftsteller sich im Hinblick auf ihre literaturwissenschaftliche Verwertung anders erfinden. Das Beispiel Brinckmanns ist hier besonders aufschlußreich, da er das Problem natürlich genau im Auge hat und mit allen Mitteln gegen die "Viehlologie" anzuschreiben versucht. |
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Ein Beispiel: In seinem Brief vom 23. Dezember 1974 schließt Brinkmann an eine kommentierende Bibliographie eine sich am Schluß wiederholende Vita an (vgl. S. 107ff.). Aus ihr geht unter anderem hervor, daß er sich seit 1974 (!) mit neueren amerikanischen "nicht-autoritären Schultheorien", seit 1970 mit Sprachtheorien wie etwa Fritz Mauthner (!) und seit 1972 mit "Theorien über Gehirnvermögen usw." beschäftigt habe. Doch bleiben wir bei der Reihenfolge: "zwischen 1959-1964: viel Jazz gehört"; "um 1955, 1956: Einfluß von G. Benn, Ezra Pound, Arthur Rimbaud"; "An Kunst: kann ich nur die franz. Impressionisten und die deutschen Expressionisten ertragen und einiges aus der amerikan. Pop-Art/dann einige Holländer, Breughel". Den "Bruch mit der offiziellen Literaturszene der BRD" datiert Brinkmann ins Jahr 1970. Schließlich heißt es: "lieber Hartmut, zuletzt gehen die Daten ein wenig durcheinander, -- ich finde Du solltest sie auch so ineinander ordnen, wie's Dir am besten in den Ablauf paßt -- vielleicht schiebst Du die Bibliografie & Vita ineins, zusammen? So kannst Du doch ein genaues informatives Bild von dem Autor geben ..." (S. 117) |
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Wer Brinkmann in den 60er und 70er Jahren durch Techniken des rauschhaften und unkontrollierten Schreibens, durch eine Absage an traditionelle Formfragen und eine Aufwertung von Spontaneität und Zufall mit Mythen narzißtischer Autorschaft und literarischer Virtuosität Schluß machen sah, findet nun Stoff genug zum Überdenken. Ein eigenartiges Zerrbild deutscher Autorfiktion der 60er/70er Jahre gibt sich in den Briefen an Hartmut zu erkennen. Doppelt peinlich: Je hilfloser Brinkmann die autobiographischen Einflüsse klassifiziert und verzeichnet, desto deutlicher gibt sich die Germanistik zu erkennen, für die es geschrieben ward. Die poetologischen Briefe an Hartmut stellen vielleicht weniger ein literaturgeschichtliches als ein literaturwissenschaftliches Lehrstück dar. Auch sind es Dokumente einer Zeit, die den Ausweg aus ihrer Verkopfung noch nicht gefunden hatte. |
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(Guido Naschert) |
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