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no. 5: perspektive afrika -> tim im kongo
 

Heart of Lightness: Tim im Kongo und in Amerika.

von Martin Klebes

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So unschuldig Hergés zur Zeit Jubiläum feiernder Comicheld Tim auch daherkommen mag, so ist er doch von Anfang seiner Karriere an stets Teil einer hochgradig politisierten Welt gewesen. Diese wird jedoch durch Hergés Feder mit durchaus getrübtem Blick gesehen. So hat der Journalist Tim, der sich kurz zuvor noch als radikaler Kommunistenverfolger erwiesen hatte, an den Zuständen im belgisch besetzten Kongo kaum etwas auszusetzen. Das Übel, das sich hier entdecken läßt, führt nur nach Amerika, nicht jedoch ins heimatliche Belgien, dessen koloniale Praktiken in Hergés Band eine bildliche Apologie erfahren.

 

Tim im Kongo, Hergés erstes 'offizielles' Tim-Album, bietet kolonialistische Klischees in kaum zu übersehender Fülle auf. Die erste Version erschien zwischen Juni 1930 und Juni 1931 in der Jugendbeilage Le Petit Vingtième der Brüsseler Tageszeitung Le Vingtième Siècle. Wie alle späteren erschien die komplette Geschichte kurz nach Abschluß der Fortsetzungsserie als Album. 1946 wurde dieses dann wie die übrigen ersten neun Tim-Abenteuer komplett koloriert und überarbeitet und so in die Fassung gebracht, die heute auch als deutsche Übersetzung vorliegt.

Das erste Tim-Abenteuer, Im Lande der Sowjets, ist das einzige, welches von Hergé bewußt nicht überarbeitet, sondern im Gegenteil von ihm selbst mit einem expliziten Neueditionsverbot belegt wurde. Der inzwischen entstandene Mythos um die Tim-Figur sollte keinesfalls lädiert werden. In diesem allerersten Band nämlich agiert Tim als rücksichtsloser Kommunistenverfolger, dem sich das Land der Revolution als ein einziger Alptraum zeigt, wo Blut fließt und allgemeines Chaos herrscht. Von Polizeikomplotten zu potemkinschen Fabriken, räubernden Mongolenhorden und öffentlichen Wahlen per Handheben bei vorgehaltenem Gewehr bezieht sich Hergé hier auf jedes erdenkliche anti-sowjetische Bild aus dem Repertoire bürgerlicher Phantasien der Zeit.

Der Reporter Tim findet sich so vom Moment seiner Geburt als Comicfigur in einer hochgradig politisierten Welt, zu einem spezifischen historischen Zeitpunkt -- somit übrigens Asterix vergleichbar, dessen Abenteuer unter römischer Besatzung beginnen, als Vercingetorix, schmerzvoll für beide Seiten, Cäsar seine Waffen zu Füßen schleudert. Obwohl es sich bei Hergés Geschichten primär um Comics für Kinder und Jugendliche handelt, muß die politische Komponente also nicht erst aus dem zwischenzeiligen Unterbewußten des Bildtextes exhumiert werden. Sie ist von Anfang an da und wird es bis zum letzten offiziellen Band, Tim und die Picaros (1976), bleiben, allerdings mit einer signifikanten Zwischenphase bewußter Auslassung während der nationalsozialistischen Besatzung Belgiens im zweiten Weltkrieg. Der politische Hintergrund, seien es der chinesisch-japanische Krieg, der kalte Krieg oder Bürgerkriege in Zentralamerika, steht dabei immer in einem Spannungsverhältnis zur Figur Tims selbst. Der nämlich verfügt über keinerlei persönliche Geschichte und auch kaum über individuelle Eigenheiten, in starkem Gegensatz beispielsweise zu seinem Begleiter Kapitän Haddock, der immerhin einen berühmten Piraten zu seinen Vorfahren zählt. Tim -- blond, unschuldig und alterslos -- ist dagegen das abstrakte Prinzip der Neutralität, die sich guten Gewissens in konkrete, politisch brisante Situationen aller Art einmischen kann, weil sie über allem zu stehen scheint.

Hergés bereitwillige Übernahme gängiger konservativer Vorurteile war ganz im Sinne von Norbert Wallez, dem rechtskonservativen, patriotischen Kirchenmann und Chefredakteur von Le Petit Vingtième zur Zeit der ersten Tim-Abenteuer. Vor allem dank Hergés Comics wurde die Zeitschrift schnell zu einem großen Renner, was Wallez dazu beflügelte, das neu gewonnene Einflußpotential auf die Jugend mit seinen politischen Überzeugungen zu verbinden. Es ist daher kaum überraschend, daß die Idee, Tim in den Kongo zu schicken, von Wallez und nicht von Hergé selber stammt. Hergé war von Amerika fasziniert und hatte bereits entsprechende Ideen für ein Album parat, das natürlich in direkter Folge als denkbar schärfster Kontrast zum sowjetischen Abenteuer gedient hätte. Statt dessen aber folgte der Zeichner den Überlegungen seines Chefs und erarbeitete eine bildliche Apologie der belgischen Kolonialherrschaft im Kongo. In späteren Gesprächen wird Hergé offen zugeben, daß er den Kongo nur durch die Linse bürgerlicher Vorurteile kannte und so die offizielle belgische Ideologie des Paternalismus voll zur Geltung brachte.[Anm. 1] Die Kongolesen gelten im Rahmen dieser Optik als bestenfalls gutgläubige, schlimmstenfalls gefährlich ignorante Wilde, denen man das Licht der Zivilisation in Form katholisch-missionarischer Erziehung zu bringen gedenkt. Die Kolonialmacht verbindet so das wirtschaftliche Interesse an einer maximalen Ausbeutung der Bodenschätze und das politische Interesse an einer globalen Machtsphäre mit dem hehren Ziel der Verbreitung von Kultur. Diese Struktur mag für den Kolonialismus allgemein gelten, und ihr Aufweis soll hier nicht an und für sich unternommen werden. Sie zeigt sich allerdings nachdrücklich, wenn man zu rekonstruieren versucht, wie sich die von Wallez vorgegebene ideologische Marschroute mit Hergés eigener Motivation, Tim in Richtung Amerika zu dirigieren, überschneidet.

Medientechnisch ist zunächst festzustellen, daß der einzige Beweggrund für Tims Kongoreise in seiner Eigenschaft als Reporter nur eine Bildreportage sein kann, und zwar eine solche, die sich hauptsächlich mit der afrikanischen Fauna befaßt. Tim beginnt seine Reise mit der obligatorischen Safari und kommt darüber im Grunde auch nicht hinaus. Sämtliche Kontakte mit kulturellen Phänomenen, sei es die Einführung in eine Stammesgesellschaft, oder die Bekanntschaft mit einem Missionar, geschehen rein zufällig. Während Tim im folgenden Band, Tim in Amerika, offiziell aus dem Grunde anreisen wird, die Chicagoer Unterwelt unsicher zu machen, wird im Kongo alles andere als Enthüllungsjournalismus von ihm erwartet. Man fragt sich daher, warum die internationale Presse ein derart brennendes Interesse daran zeigt, Tim für Exklusivberichte zu verpflichten (S. 11). Es wäre denkbar, daß die portugiesischen und britischen Medienagenten sich hier eine Aufdeckung jener belgischen Praktiken erhoffen, die seit Beginn des Jahrhunderts gerade von Seiten anderer kolonialistischer Staaten stetig angeprangert werden (dies gleichwohl nie zu laut, da man natürlich im Glashaus sitzt).[Anm. 2] Besonders das direkte 'Zahlen' von beträchtlichen Steuern durch körperliche Arbeitsleistung wurde von britischer Seite häufig als verdeckte Zwangsarbeit kritisiert. Auch die staatliche Unterstützung des katholischen Erziehungsmonopols (s.u.) schien in Zeiten des Völkerbundes längst nicht mehr zeitgemäß. Tim lehnt die Angebote ausländische Presse ab, denn er hat "bereits Verpflichtungen gegenüber anderen Zeitungen" -- wie auch einer der ursprünglich vorgesehenen Titelblattentwürfe unmißverständlich zeigt: "Les aventures de Tintin, 'reporter du Petit Vingitième', au Congo". Wir können vorwegnehmen, daß Tim seinem Arbeitgeber, der auch jener seines Schöpfers ist, treu bleibt: unangenehme Wahrheiten über das Vaterland und seine Unterdrückungsmethoden wird es nicht geben. Hergé läßt keine Zweifel daran aufkommen, wer hier in wessen Namen spricht.

Allerdings hätte die Aneinanderreihung von Jagden auf Antilopen, Löwen, Leoparden, Elefanten, Giraffen und Nashörner (alle kommen vor) kaum ein sehr spannendes Abenteuer ergeben. Hergé verfällt daher auf die brillante Idee, die 'Bösen' nicht von innen, also aus der Kolonie selbst, sondern von außen kommen zu lassen. Es sind Komplizen von Al Capone, nicht belgische Schreibtischtäter, die im afrikanischen Busch die Verbrechen verüben. Wie erst ziemlich spät enthüllt wird, geht es den Gangstern um die Kontrolle der afrikanischen Diamantenproduktion -- eine Operation, von der Tim weder etwas ahnt, noch auch nur das Geringste in Erfahrung bringt. Die Gangster, die in ihm einen gefährlichen Gegner sehen, bringen daher das Unglück selbst über sich herein, allein durch ihr insistentes Projekt, Tim beseitigen zu wollen. Dabei drohte wohl keine Gefahr: Rohstoffausbeutung, ob kriminell von amerikanischen Gangstern oder scheinbar 'legal' von zwangsarbeitenden Auslesern unter staatlicher Kontrolle betrieben,[Anm. 3] kann im Rahmen von Tims Auftrag kein Thema werden. Die Präsenz 'böser Weißer' ist von Hergé also geschickt in die Geschichte eingeflochten. Das biographische 'Außen' des geplanten und zwangsweise verschobenen Amerika-Albums wird auf den Kongo vorverlagert, damit der Ugly American die Rolle des Verbrechers übernehmen kann. Die belgische Staatsmacht tritt dagegen im gesamten Album nur ein einziges Mal auf. Als rein passives Organ von Recht und Ordnung quittiert ein weißer Polizeichef Tims Übergabe eines Gangsters, ohne es allerdings zu versäumen, seine schwarzen Untergebenen anzumahnen, diesen "ja nicht entwischen" zu lassen. (S. 52f.)

Doch es sind nicht die Amerikaner allein, die als die Bösen fungieren. Der Gangster Tom, mit der Beseitigung Tims beauftragt, zettelt zuvor in Zusammenarbeit mit dem Medizinmann des Marodi-Stammes, Tse Tse Gobar, ein Komplott gegen den Reporter an. Tim, dessen aufklärerischer Gestus die Machtsphäre des Schamanen bedroht, wird beschuldigt, den heiligen Fetisch des Stammes gestohlen und entweiht zu haben. Tom und Tse Tse schieben Tim den Fetisch unter und haben nun ein Argument dafür in der Hand, den Stamm mit ihm kurzen Prozeß machen zu lassen. Der Medizinmann ist ein korrupter Machtmensch, der die ihm zugeschriebene Spiritualität allein zum Zweck der Unterdrückung seiner abergläubischen Stammesgenossen ausnützt. Rettende Klarheit bringen da nur, wie sollte es anders sein, die Medien. Tim ist selten so sehr Reporter "in Aktion" wie in der Szene (S. 25), als er Tom und Tse Tse bei einer geheimen Unterredung filmt und das Gespräch gleichzeitig auf Platte(!) aufnimmt. Die anschließende audiovisuelle Vorführung überzeugt den Stamm davon, daß der Medizinmann und sein Kumpan ein falsches Spiel spielen. Die Überzeugung ist wörtlich zu verstehen: die Eingeborenen haben nach Hergés Darstellung keine Vorstellung von auditiver oder bildlicher Repräsentation. Sie suchen folglich nach Tse Tse in der Tiefe des Grammophontrichters und werfen Speere auf die improvisierte Leinwand. Dem rhetorischen Effekt der Vorführung tut dies keinen Abbruch. Im Gegenteil: an der Wahrheit der Enthüllung wird nicht einen Moment gezweifelt. Abbildung und Realität fallen in eins, ohne daß für Mimesis erst noch argumentiert werden muß -- ebensowenig, wie die Frage nach politischer Repräsentation jemals gestellt wird. Tim wendet folglich die Mittel journalistischer Enthüllung nicht gegen die offiziellen Machthaber, sondern gegen jene Subjekte, die durch Verschleierung und Indienstnahme von Aberglauben das Zivilisierungsprojekt Belgiens gerade aufhalten wollen. Die Repräsentation durch Bild und Ton, vom fachkundigen Benutzer Tim taktisch eingesetzt, hat daher zwei Seiten: bislang unsichtbare unlautere Intentionen werden sichtbar gemacht, während gleichzeitig der Machteffekt, der von der selektiven Darstellung ausgeht, verhüllt wird. Die Kongolesen akzeptieren Tims Performance als die ganze Wahrheit über ihr vormals verehrtes spirituelles Oberhaupt, ohne mal zu kucken, wer da spricht. Es ist bezeichnend, daß der koloniale Machtapparat sich in derart wirkungsvoller Weise auf mediale Apparate verlassen kann und so die fundamentale Frage, wer hier wen und zu welchem Zweck repräsentiert, nicht aufkommen läßt. Hergés eigene bildliche Repräsentation im Comicformat kann als direkte Verlängerung des kolonialen Sprachrohrs verstanden werden, durch das nur in eine Richtung gesprochen wird. Eine Jugendzeitschrift ist schließlich kaum der geeignete Ort für die kritische Reflexion politischer Praktiken in Übersee. Tims Perspektive, liebenswert 'neutral' im oben erwähnten Sinne, soll der belgischen Jugend in gleicher Weise als Wahrheit erscheinen wie jene, welche die Leinwand im improvisierten Kino der Marodi bietet. Da Tim immer schon eine Lösung für die wenigen Probleme parat hat, brauchen hier keine geistigen 'Spitzen' auf das Dargestellte geworfen zu werden.

Die radikale Konsequenz der normativen Biegsamkeit unter dem Einfluß des Medienzirkus ist die anschließende Kürung Tims zum König der Marodi. Der medial erzeugte 'Konsens', der die Ausübung roher Gewalt als koloniale Machtstrategie ersetzt, wird so auf die politische Spitze getrieben. Der bisherige Häuptling Rumaroma scheint diesen Machtwechsel ohne Protest zu akzeptieren, denn er hat -- so ist anzunehmen -- Tims technischer Kompetenz einerseits und seinem instrumentalistischen Pragmatismus andererseits einfach nichts entgegenzusetzen. Ironisch genug, daß die afrikanischen Stämme fortwährend mit alteuropäischer Waffentechnik ausgestattet gezeigt werden, die einer vergangen Epoche angehört.

Tims Interesse an Aufklärung in Namen des techno-kulturellen Fortschritts reicht dabei immer nur bis zur Grenze des eigenen Vorteils, das heißt gewöhnlich: bis zur Rettung seiner eigenen Haut. Ob es die fiebersenkende Wirkung von Chinin (S. 28) oder die Ablenkung von Pfeilen mit Hilfe eines Elektromagneten (S. 29) ist -- Tim macht keine Anstalten, seine Taschenspielertricks den Eingeborenen zu enthüllen. Für sie bleiben rational erklärbare Effekte 'schwarze Magie', und nur Struppi profitiert von Tims Erläuterungen. Struppi fungiert ohnehin als ein weiteres Sprachrohr für die Stimme seines Herren und dessen Kultur. So denunziert er schon früh die marodischen Eisenbahnpassagiere als Faulpelze, während er, der schneeweiße Hund (in englischer Übersetzung heißt er immerhin Snowy), das altersschwache Krupp-Gefährt alleine wieder in die Gleise zu bringen versucht. Tim schließt sich dem Protest an und dirigiert die Bemühungen, ohne selbst allerdings auch nur eine Hand zu rühren. Ein europäischer Hund scheint demnach allemal empfänglicher für Kausalitätsketten und Lektionen in Arbeitsethik als ein Kongolese zu sein.

Auch an anderen Stellen beweist sich Struppi als kulturell voll integriert -- eine Kompetenz, die den schwarzen Schülern auf der Missionsstation erst noch vermittelt werden soll. Das Klischee der Mission im Busch tut hier tatsächlich gute Dienste, denn im Kongo war das Erziehungssystem stärker als in anderen Kolonien in kirchlicher, und dabei fast ausschließlich katholischer Hand. Seit den Zeiten Leopolds II. in den 1880ern wurde die katholische Kirche im Kongo von belgischer Seite gezielt privilegiert, was unter anderem erfolgreich jegliche Proteste seitens des Vatikans bezüglich Menschenrechtsverletzungen verhinderte. Die Erziehung war noch bis in die 30er Jahre fast ausschließlich auf die Elementarstufe begrenzt, was die Szene mit Tim als Rechenlehrer äußerst plausibel macht. Er unternimmt die Vermittlung der Aufgabe "2+2", wird aber bis zum Ende der Stunde, unterbrochen durch das Eindringen eines (gezähmten) Leoparden ins Klassenzimmer, keine Antwort erhalten. Als der Pater zum Essen ruft, bevor der Faden wieder aufgenommen werden kann, wird klar: das leibliche Wohl der Lehrkräfte ist deutlich wichtiger als das geistige Wohl der Schüler. Dies erscheint symptomatisch für ein Erziehungssystem, das sich eher an sozialer Organisation als an der Vermittlung von Wissen orientiert.

Interessanterweise koinzidiert die Veröffentlichung von Tim im Kongo 1931 mit Debatten in Belgien über das Projekt der "Totalen Zivilisierung".[Anm. 4] Als Reaktion auf die fallenden Preise infolge der Weltwirtschaftskrise sollte die Ausbeutung der Ressourcen in der Kolonie auf ein höheres Niveau gehoben werden. Ein Element des Plans war die Hoffnung, die Produktivität unter anderem durch verstärkte soziale und pädagogische Initiativen zu steigern. Die Begrenzung der Erziehung auf das unterste Niveau, so begann man einzusehen, brachte sogar ökonomisch gesehen langfristige Nachteile mit sich. All dies bleibt hier natürlich ungesagt: die Missionare behalten die symbolische weiße Weste, die sie auch konkret als Kutten tragen, während dem Gangster Tom die Rolle des Unheilstifters vorbehalten bleibt, der sich als Pater ausgibt, um Tim zu täuschen. Die Gegenüberstellung von korrupter nativer Religion (Tse Tse Gobar) und makellosem Christentum könnte schärfer nicht ausfallen. Abbé Wallez hatte allen Grund zur Zufriedenheit.

Im Kontext des zu entschuldigenden Paternalismus ist die 'Rückständigkeit' der Eingeborenen vollauf wünschenswert, während sie gleichzeitig für die Zwecke des 'humorvollen' Comic-Genres als liebenswert erscheint. Wenn folglich im Schlußtableau des Albums (S. 62) Statuen von Tim und Struppi nach deren Abreise als Götzen verehrt werden und die orale Geschichtsvermittlung des Stammesältesten bereits die jüngste Vergangenheit von Tims Besuch mit einbegreift, dann wird klar, daß Kolonialisierung hier nicht unbedingt radikales Umbiegen von Lebensverhältnissen bedeuten soll. Es geht vielmehr um die internalisierte und voll akzeptierte praesentia in absentia der Europäer. Dazu gehört auch, daß Tims Filmkamera, bei der vorausgegangenen Flucht vor einer Herde wilder Büffel verlorengegangen, bei den Eingeborenen zurückbleibt. Dies unterstreicht die anfängliche Vermutung, daß die Reise hinsichtlich der Dokumentation afrikanischer Verhältnisse für ein europäisches Publikum letztlich keine entscheidende epistemische Rolle spielt. Die festgehaltenen Visionen des Kongo, ausschließlich wilde Tiere sowie der korrupte Medizinmann, verbleiben am Ort ihres Ursprungs, wo sie dazu dienen können, den Eingeborenen die Selektivität des europäischen Blicks durch Wiederholung plausibel zu machen -- gesetzt den Fall, daß "Tims Dingsda Maschine" auch ohne Bedienungsanleitung korrekt in Betrieb genommen wird. In Europa selbst kennt man die auf Zelluloid zurückgelassenen Repräsentationen bereits zur Genüge. Es ist daher von hier aus gesehen Tims Verwendung der Medien, nicht die Konservierung der Datenträger selbst, welche entscheidend zur Versicherung über das koloniale Projekt beiträgt. Hergés zeichnerische Darstellung von Tims repräsentationalen Strategien, die so gleichzeitig repräsentativen Charakter bekommen, füllt den "Filmriß" des Kameraverlusts in ihrer Betonung der Prozessualität optimal.

Tim kehrt folglich ohne Bildmaterial nach Europa zurück, mit dem Auftrag, unmittelbar nach Amerika aufzubrechen. Es gilt, Al Capone und seine Leute in Chicago aufzusuchen, die ja schließlich schon für die kriminelle Energie im Kongo verantwortlich gezeichnet haben. In Tim in Amerika (1931/32) darf Tim nun nach Lust und Laune Verborgenes aufdecken, wobei die Exekutive diesmal nicht ungeschoren davonkommt. Bereits im ersten Bild des Bandes ist die Komplizenschaft des Chicago Police Department mit der Unterwelt klar zu sehen -- ein Motiv, das sich durch den gesamten Band zieht. Die unsichtbare Grenzlinie zwischen Gesetz und Gesetzesbruch wird meist nur durch den dünnen Faden der Semiotik von Schildern (S. 11) und Kleidung (S. 61) bezeichnet, beide jederzeit aus- und verwechselbar. Obwohl das Phänomen einer korrupten Polizei besonders auf die sprichwörtliche Gangsterstadt Chicago zutrifft (wiederum arbeitet Hergé hier mit wohlbekannten Klischees), wird das Motiv in Folge auch auf den "Wilden Westen" ausgedehnt. Tim nämlich verfolgt den Chicagoer Gangsterboß Bobby Smiles quer durchs Land, was dem Album eine charakteristisch treibende Dynamik verleiht.

In Hergés amerikanischem Westen der 30er steht die Lynchjustiz noch in voller Blüte, wogegen sich das Gesetz sowohl hilflos (S. 35) als auch indifferent (S. 36) zeigt. Hier werden Schwarze gleich gruppenweise auf gut Glück gehenkt (S. 34, 36), wenn es an anderen Verdächtigen für einen Bankraub fehlt. Der Sheriff eines kleinen Kaffs ist im volltrunkenen Zustand unfähig, die Verwechslung Tims mit einem mexikanischen(!) Bankräuber aufzuklären und vernachlässigt sein Amt somit zweifach: wer nach dem Genuß einer ganzen Flasche Whiskey neben einem von ihm eigens gezeichneten Schild, das die Prohibition festschreibt, niedersinkt, taugt kaum als Autorität.

Nicht nur die Schwarzen, sondern auch die Indianer werden als Opfer des Rassismus gezeigt. Bei der Ankunft in Redskincity (nomen est omen) darf Struppi noch seinem kulturellen Überlegenheitsgefühl freien Lauf lassen und abfällig zu den "Indianer"-Hunden bemerken: "Die glauben doch nicht etwa, daß ich mit Rothaut-Hunden spreche?" (S. 16), während sich Tim eine "echte Rothaut" als rein dekoratives Objekt vor die Kamera holt. In der Folge wiederholt sich das bereits bekannte Motiv des Bündnisses eines bösen Weißen (Smiles) mit den Eingeborenen gegen Tim. Diesmal allerdings wird eher die Naivität der Indianer (anstelle der Machtpolitik des marodischen Medizinmanns) verantwortlich gemacht; die Schwarzfußindianer haben schließlich sogar Probleme, ihr vergrabenes Kriegsbeil wiederzufinden. Nur ein "Glücksfall" läßt Smiles über den aus der Erde hervorragenden Griff des Beils stolpern, was die Indianer offiziell berechtigt, Tim zu verfolgen. Dieser entzieht sich wie im vorigen Band der Verschwörung mit Glück und Geschick. Als dann eine Ölquelle auf dem indianischen Land ausbricht, sind innerhalb von Minuten die Geschäftshaie zugegen, und binnen kürzester Zeit werden die Indianer mit 25 Dollar abgespeist und von der Armee mit gezückten Bajonetten vertrieben (S. 29). Hier erlaubt sich Hergé deutlich mehr kritisches Potential als im Kongo-Album. Die drastische Überzeichnung dieser Szene reicht fast noch einmal an das Sowjet-Album heran -- wofür Hergé durchaus Kritik und Änderungsvorschläge ausländischer Herausgeber zu hören bekam, die er allerdings ausschlug.[Anm. 5]

Durch die Verbindung von Gutgläubigkeit und Opferfunktion sind die Indianer bei Hergé, verglichen mit den eher als 'drollig' dargestellten Kongolesen, eindeutig die edleren Wilden. Es ist das finanzielle Motiv, verantwortlich für die unglaubliche Schnelligkeit der Ausdehnung gen Westen, die Hergé hier aufs Korn nimmt. Die kulturelle Dominanz der Weißen an sich steht dabei nicht zur Debatte. Ins Auge springt vielmehr der Kontrast zwischen dem 'bedächtigen' Missionswesen im Kongo und der hektischen amerikanischen Geschäftsmentalität, die sich auch auf die Religion ausdehnt, als man Tim zum "Neo-Judo-buddho-islamo-USAismus" bekehren will, einer Religion, "deren Erträge die höchsten der Welt sind". (S. 44) Hergés Einsicht in die sozialen Folgen des rücksichtslosen Expansionismus in Nordamerika ist unmittelbar mit seinem blinden Fleck bezüglich der kongolesischen Situation verbunden. Ein Perspektivenwechsel würde dagegen zeigen, daß belgische Konglomerate von Großkonzernen und staatlichen Gesellschaften (wie z.B. Union Minière du Haut Katanga [Bergbau], Société Commerciale et Minière du Congo [Eisenbahn], Huilever [Palmöl, Baumwolle]) voll am kolonialistischen Projekt in Afrika beteiligt waren. Die globalen Effekte des Kapitalismus sind hier längst in einer Weise entgrenzt, welche ökonomische Motive kaum als Koordinaten eines spezifisch amerikanischen 'Nationalcharakters' taugen läßt.

Tim feiert konkrete Erfolge in Amerika. Wie üblich kann er den gefangenen Bobby Smiles der Polizei übergeben, diesmal allerdings, aufgrund der Entfernungen, per Post. (S. 44) Die Nachrichten fließen bei Hergé mit sehr unterschiedlicher Schnelligkeit: während die Geschäftsleute innerhalb von zehn Minuten die neue Ölquelle geortet haben, hat die Chicagoer Polizei Tim trotz Zeitungsberichten zwei Monate lang komplett aus den Augen verloren. Ausnahmsweise jedoch ist der Empfänger des Gangsters in der Kiste hier im richtigen Moment ein nicht korrupter Polizeichef. Nach einigen weiteren Runden Verbrecherjagd gelingt Tim schließlich der Sieg über das gesamte Gangster-Syndikat Chicagos, und somit "eine echte Sanierung der Stadt". (S. 62) Tim kann daher zurecht gefeiert werden -- von einer ausschließlich weißen Menschenmenge, die die Straßen säumt. Die Rettung der Stadt vor den Exzessen des Verbrechens kommt von außen, diametral entgegensetzt zu den Verhältnissen im Kongo, wo das Verbrechen, aus derselben Quelle entspringend, als ein von außen eindringendes abgewehrt werden mußte. Im und am Kongo selbst hatte Tim, als "neutrales" Element, nichts auszusetzen. Dort war alles fast wie zuhause.

 

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