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no. 27: arbeit -> das neue berliner museum
 

Umwidmung durch SubsTanz

Das Neue Berliner Museum

von Karl Schievelbein

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Als im Oktober 2009 das Neue Museum in Berlin und mit ihm die frühgeschichtliche und die ägyptische Sammlung nach über zehn Jahren Restaurierung wiedereröffnet wurden, war das Publikumsinteresse groß. Weniger Beachtung fand hingegen ein ausgeklügeltes Tanz- und Raumkunstwerk durch die Truppe von Sasha Waltz, die einige Monate zuvor das Neue Museum de facto einweihte. Dabei warfen die Tänzer in ihrer Umschmeichelung der Chipperfieldschen Rekonstruktion des Stülerbaus regelrecht philosophische Fragen auf, die von der griechischen Antike bis hin zu Hegels Phänomenologie reichen.

 

Kunstwerke haben einen mehr oder weniger großen Vorsprung gegenüber dem verstandesmäßigen Denken. In ihrer anschaulichen Wahrheit eilen sie dem Begreifen voraus, je gelingender desto weiter. Wer sich auf sie einlässt, dem sind sie Motoren, den treiben sie an, Energie fressend und Fixationen zurücklassend, phantasmagorischen Präparaten gleich. Keine Wissenschaft ist möglich ohne das Labor der Phantasmagorien, gerade auch der ästhetischen. Ein Ton-, Tanz- und Raumkunstwerk von Sasha Waltz zur Einweihung des Berliner Neuen Museums im Herbst 2009 leistete den Beweis.

Das Berliner Neue Museum, am 17. Oktober 2009 als Schaubühne der Ägyptischen und der frühgeschichtlichen Sammlung wiedereröffnet, ist durch den Umbau und die ihn begleitenden Aufführungen umgewidmet und selbst zum Kunstwerk geworden. Der klassische Stüler-Bau auf der Museumsinsel, 1855 fertig gestellt, nach dem zweiten Weltkrieg Jahrzehnte lang, wenige Schritte von Demarkation und Mauer entfernt, in Ruinen stehend, war zwölf Jahre lang restauriert worden. Dem Architekten des Umbaus, David Chipperfield, gelang es, die Monumentalität des zum Weltkulturerbe zählenden Baukörpers nicht abzuschaffen, sondern zu transformieren. Die enorme Bausumme von 220 Millionen Euro ist erkennbar, schwitzt aber nicht aus jeder Pore. Zwar bekennt sich der Bau zu Größe, aber nicht im Gewand des Gleichförmigen. Jeder Raum ist ein Solitär, auch die beiden Innenhöfe -- der griechische Hof, in den ein apsisförmiger Erker wie eine Sichtkanzel hineinragt, und der ägyptische Hof, dessen Haus-in-Haus-Konstruktion eine vertikale Geschlossenheit suggeriert. Grandios der Übergang vom Treppenaufgang in den oberen Vorraum. Nur noch die Grundfarbe der bemalten Wandfelder ist erhalten, ein Blau, das in seiner Fleckigkeit und konservierten Bruchstückhaftigkeit Vergleichen mit monochromen Meistern der Moderne standhält. Chipperfield hat hier nicht bloß Zerbrochenes konserviert, sondern, weit darüber hinausgehend, die Struktur des Bruchs, der schon im vorgetäuschten Heil, im unseligen Heilsversprechen unter der Oberfläche mitlief, lange bevor man ihn sah. Nur die Hellsichtigen hatten schon im Jahr 1933 erkannt, dass die totalitär-faschistische Okkupation die Musen aus dem Neuen Museum vertrieben und dem Untergang geweiht hatte. In den Kriegsjahren 1943-45 wurde der Bildersturz in den Bombenangriffen auf Berlin exekutiert, der ideell profanisierte Bau auch äußerlich zerschunden. Paradoxerweise werden beide Profanisierungen gerade durch die Chipperfieldsche Betonung des Unheiligen, des Bruchstückhaften, überwunden. Die restaurierten Räume benötigen keine Schaustücke, sie sprechen vom Wiedereinzug der Musen spät, sehr spät nach der Barbarei. Die Räume kommunizieren mit dem Betrachter. Hier eine weit geöffnete Holztür, die den Blick auf eine Ziegelmauer, aber keinen Durchgang, freigibt. Dort Marmorsäulen, die wegen ihrer Abbrüche wie Stelen aus Sand wirken. Runde Ziegel schauen glotzäugig aus Gewölben; sie scheinen die rechteckig geschaffenen weitflächig, aber nicht durchgängig zu überwuchern. Im zweiten Obergeschoss liegen schwere Bohlen anstelle des filigranen Parketts, an das beredt ein verblichener Restbestand in der Raumecke erinnert. Wo gar nichts mehr stand, wie im Treppenhaus oder in Teilen des Obergeschosses, scheuten sich die Erneuerer nicht, großflächig Beton einzusetzen.

Aber wo ist der Kern? Wenn die Räume sich selbst genügen, wenn sie andererseits der Aufnahme des Sakralen fähig sind, zu wessen Nutzen und Frommen geschieht das? Auf der Außenseite der Fassade mahnt in großen, affirmativ restaurierten Lettern das artem non odit nisi ignarus. Ist diese Kunst also doch bloß ein Spiel bildungswütiger Schichten? Blendet uns ach so wissbegierige Spießbürger nicht wieder der Spiegel einer Weltnabelschau, macht der Kitt uns blind für neue Widersprüche, neue Leeren, gar neuen Hass?

Wer das glaubt, kann die Einweihung nicht erlebt haben, die der neu erstandene Bau durch die Tanzformation von Sasha Waltz erlebt hat. Die Choreographin und Tänzerin brachte im März 2009 in den neuen, noch unbestückten Räumen insgesamt zehnmal mit 70 Tänzern ein archaisch-zeitloses, monumentales Ton-, Tanz- und Raumkunstwerk zur Aufführung. Erstaunlich, dass dieses Vorhaben trotz einer Vorbereitungszeit von lediglich 9 Wochen gelang. An ein Wunder grenzend, mit welcher scheinbaren Leichtigkeit es der Kompanie Sasha Waltz and Guests gelungen ist, die museale Logik der Akkumulation durch eine Choreographie der Respiration zu ersetzen. Die nüchterne Bezeichnung Dialoge 09 -- Neues Museum für diesen Weihezyklus, dessen Bühne durch den gesamten Museumsbau gebildet wurde, führte auf raffinierte Weise in die Irre. Der Logos spielte weder eine Schöpfer- noch eine Herrscherrolle. Für die Dauer des Spiels rückte er ins Glied zurück. Dadurch entstand die Bühne für eine Bewegungsgesetzlichkeit aus den Augen der Substanz. Partner dieses getanzten Manifestes war der Raum, eben dieser geschundene, Jahre lang restaurierte Körper mit seinen Solitären, die sich, wie die Tänzer, mehr und mehr zu einem Gesamtkunstwerk zusammenfügten. Nicht die Menschen, die menschlichen Dinge wurden zum Sprechen gebracht. Auf diese Weise führte Sasha Waltz den Schein vor, der im verdinglichten Alltag glauben macht, sie seien starr.

Am Beginn stockte der Atem noch. Ein Mann, mit kurzer schwarzer Hose und braunem Hemd mehr bezeichnet als bekleidet, stößt im ägyptischen Hof zwei Stehende in eine sandkastenförmige Auslassung in der Saalmitte. Sie bleiben liegen wie im Totenbett. Er schaufelt mit nackten Händen Sand auf sie, bis sie an verwehte Sarkophage erinnern. Nur ihre Gesichter ragen wie Totenmasken aus dem Sand. Dann trägt er eine Handvoll der verwehten Sandspur hinaus. Nicht Tanz, Ritual ist es, dem der Besucher beiwohnte. Die Befreiung von den vorgegebenen Ritualen dauerte Jahrhunderte, im Dialog 09 -- Neues Museum lag zwischen Kult und Emanzipation nur ein Stockwerk. Aber vor dem Aufstieg zeigt sich im griechischen Hof, wie schon im Mythos Aufklärung liegt. Es sind die schwarz gekleideten Krieger, Sieger und Gefallene, es sind weiße Göttinnen, die langsam in ihren Giebelfeldern auf den Hochsimsen erwachen und noch langsamer aus ihnen heraustreten, sich wieder zurückfinden, vor- und zurückwiegen in träumerischer Langsamkeit -- bis sie ins Exil geworfen werden, als in die Welt Geworfene, wie die Besucher es sind, die mit offenen Mündern im Hof versammelt stehen und staunen. Wohin die Reise geht, lässt sich erst weiter oben erahnen. Aus dem rotgefärbten Skamander wird im vaterländischen Saal eine rothaarige Beherrscherin mit hochgesteckter Zopffrisur -- die majestätische Charlotte Engelkes --, die immer wieder zwei Fliegenfänger um sich und ihr Samtkleid kreisen lässt, um am Ende in Streicherklängen zu zerfließen. Im gegenüberliegenden ethnographischen Saal scheinen die Statuen zu erwachen, behutsam, als müssten sie sich zunächst ihrer eigenen Haut versichern. Unsicher sind aber nicht nur die erwachten Figurinen, auch der eigene Standpunkt wird prekär. Wo soll der Betrachter stehen, wo ist die Grenze des Spiels? Die Helfer von Sasha Waltz and Guests und die des Museums, die wie höfliche Erynnien einschreiten, sobald ein Besucher, des Stehens müde, sich kurz an eine Wand lehnt, denken nicht daran, behilflich zu sein. Im Labyrinth werden keine Plätze zugeteilt, schon gar keine sicheren. Die von ihren Fesseln befreiten Geister wirbeln in einer Arena, die nur sie kennen, umfassen sich, wogen umeinander, beschwören den Raum, wobei sie den Besucher manchmal wie einen Störenfried flüchtig mit nervösen Blicken streifen. Bald rollt dem bedrängten Besucher eine Karyatide entgegen, bald streift ihn der Samtrock der roten Beherrscherin. Mitten im Gewühl, vor dem pompösen Treppenaufgang, schleicht lautlos eine schwarze Sphinx über den Boden. Man muss sich instinktiv um sie sorgen wie um einen zerbrechlichen Schatz, könnte sie in der wogenden Besucher-Prozession doch allzu leicht Schaden nehmen. Der Weg zu den Obergeschossen wird freigegeben, er führt über den frisch-weißen Beton-Treppenaufgang, der, Pathos wahrend, dennoch alles Überdrehte zurückweist und dadurch die Sinne für das Kommende schärft. Genau dies hat der Besucher nötig. Eine der schönsten Formationen liegt vor ihm, ein Duett zweier rätselhaft behaubter Vestalinnen im schwarzen Langkleid, die zu tektonischen Streicherklängen von Ruth Wiesenfeld, komponiert als "Hautfelder für Streichquartett", die Wege entrückter Fruchtbarkeitsrituale abschreiten. Dass auch Geister verzweifeln können, zeigt der Tänzer Shang-Shi Sun im fensterlosen Apollosaal in einer klaustrophobischen Sequenz. Es ist ein letztes Innehalten, dann kommt die überraschende Auflösung. Übermütig werdend, gehen die Geister erst aufeinander, dann nach und nach auf die Besucher zu, sie endgültig zu Mitspielern machend. Von allen Seiten kommend, lauthals lachend, unberechenbare Reigen aufführend, sind sie es, die vermeintlichen Objekte der Anschauung, die nun das Heft des Handelns an sich reißen. Sie karikieren den Besucher, stützen sich auf ihn, setzen sich zwischen Sitzende oder auf diese. Einer geheimnisvollen, zugleich inniger und ekstatischer werdenden Ordnung gehorchend, stellen sie wie Mamajeang Kim aus den Mitspieler-Besuchern Friese zusammen oder machen sie flüsternd zu Mitwissern. Der Initiations-Strahl trifft, der Gemeinsamkeits-Impuls steigert sich zur Euphorie. Trommelschläge aus dem Treppenaufgang. Das Finale. Jetzt die Botschaft? Statt sphärischen Klängen aus einem neuen Walhalla spielt das Ensemble den 3. Satz aus Bruckners Streichquintett in F-Dur. Das Adagio schafft eine erhabene Ernüchterung. Der hierarchisch-polyphonen Tradition lässt sich nicht entkommen, sie bleibt die unentrinnbare Basis abendländischer Kultur, auch für die im Neuen liegenden Verheißungen. Die Sprecher der Substanz, die Tänzer des Namenlosen, treten noch einmal nacheinander auf, fügen sich zu einem letzten Tableau zusammen, bevor sie langsam zurückbeschworen werden in die alte Ordnung, ihren Schlaf. Aber sie fügen sich nicht in ihr Schicksal wie die Ertrinkenden auf dem Floß der Medusa, resigniert oder rebellierend. Sie bleiben da, wie voller Gewissheit, dass es nur eines Weckrufs bedarf, um den Tanz von neuem zu beginnen. Ein Sinnbild für den nicht ausgeträumten Traum der Vernunft.

Mit Dialog 09 -- Neues Museum gelang Sasha Waltz nicht nur das Paradoxon einer zeitgenössischen Zeremonie anlässlich der Wiedereröffnung des Neuen Museums, sondern -- weit mehr -- die Illustration eines Hauptsatzes der klassischen Philosophie, wonach alles darauf ankommt, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken. Der Sinn dieser programmatischen Setzung aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, heute rätselhaft geworden, lag einmal auf der Hand -- die Idee der Freiheit beschränkt sich nicht auf ein gedachtes Freisein, sondern umfasst das Freiwerden und Freigewordensein als Ausdruck und Resultat gesellschaftlicher und sozialisatorischer Prozesse. Wer die Wahrheit wie eine Münze einstreichen und festhalten will, reduziert die soziale Interaktion dagegen auf ein gedankliches Konstrukt, anstatt sie als Movens und Garant der Selbsterkenntnis zu begreifen. Zur Beweisführung konnte Hegel vor 200 Jahren auf die Vielfalt der begrifflichen Erscheinungen seiner Zeit rekurrieren, denen er mit dem "unmittelbaren Bewusstsein" und dem "absoluten Geist" einen maximal weiten Rahmen von den empirischen Naturwissenschaften bis zur Religion (und ihrer Überwindung) gab. Aus der Fülle der Selbst-Widersprüche und ihrer dadurch ausgelösten Bildungsprozesse leitete er eine Dialektik zur Entstehung individueller und gesellschaftlicher Identität ab. Die dafür bestimmenden Phänomene entnahm er der bildungsbürgerlichen Diskussion des beginnenden 19. Jahrhunderts. Doch was damals die Aufnahme des philosophischen Denkansatzes für das Publikum erleichterte, stellt heute ein Hindernis für den phänomenologischen Ansatz insgesamt dar. Denn wie sollte das Wahre heutzutage aussehen, das nicht bloß vergegenständlicht ist, sondern genauso Herr des Geschehens? Kann es das überhaupt noch geben? Lässt es sich denken, erleben, setzen? Eine zeitgenössische Übersetzung des phänomenologischen Ansatzes fehlt an allen Ecken und Enden. Kein Wunder, dass Hegels Phänomenologie bis heute hauptsächlich als Typenlehre schulbildend wirkt -- angefangen von der Dialektik zwischen "Herrn und Knecht" bis hin zur "schönen Seele". Bei dieser schematischen Betrachtung geht die eigentümliche dialektische Bewegung verloren, die nur entsteht, wenn der Betrachter sich gleichermaßen der Anstrengung wie dem Taumel des Begriffs ausliefert. Ob das Wahre wirklich das Ganze ist, kann bei halber Drehung nicht sinnvoll gefragt werden. Wer den phänomenologischen Ansatz nicht von vorne herein unterlaufen will, muss sich deshalb auf das Ganze einlassen. Dann, erst dann, lässt sich vom Resultat der Bewegung her fragen, ob dies wirklich das Ganze war. Und dann, erst dann, durch die Anstrengung des Begriffs, fällt auf, dass das Ganze nicht Alles ist. Die Phänomene sind zur dialektischen Bewegung hin komponiert. Insofern sie zu ihr nicht beitragen, fallen sie aus der Beschreibung heraus und sind "leere Blätter der Geschichte". Wirklichkeit ist -- nicht nur bei Hegel -- Wirkmächtigkeit. Umso wichtiger wird die Frage, welche Substanz sich zum Subjekt macht und welche andere aus dem Blatt gelöscht wird. Reicht es aus, die Sphäre der Familie in Gestalt von Antigone der durch Kreon verkörperten Staatsräson gegenüber zu stellen? Müssten nicht auch die Taten des Herkules, Theseus' Kampf gegen den Minotaurus, die wahnsinnige Medea einen Platz finden, ganz abgesehen von außereuropäischen mythologischen Räumen? Wer entscheidet darüber, womit der Geist sich beschäftigt? Und vor allem: Wie bewegt sich die Substanz, wie bewegt sie uns? Wer dieser Frage ausweicht, wie es viele heutige Philosophien tun, hat kein Argument gegen den Einwand, die suggerierte Ordnung im Aufstieg der Formen sei nur ein Taschenspielertrick.

Gerade deshalb geht Dialog 09 -- Neues Museum über das mit dem Erlebnis ästhetischer Evidenz verbundene Wohlgefallen hinaus: Die von Chipperfield im Raum und von Waltz in der Bewegung geschaffenen Werke sind mehr als ein Stimulans. Sie sind Aufforderungen, die Substanz als gleichrangige Mitspielerin zu begreifen, sich ihr auszuliefern, um den eigenen Standpunkt zu verlieren, sich wider Erwarten neu zu entdecken und die Offenheit des Staunens wiederzugewinnen, ohne die eine Befreiung von den immer wiederkehrenden Mythen des Alltags nicht auskommt. Die Sprachlosigkeit der Räume, der Tänze, ja sogar der Musik harmoniert dabei in einem Maße mit einem eigentlich denkunmöglichen Für-sich-Sein der Substanz, dass man sich ihr nicht entziehen kann. Ein marmorner Fries wird bei Waltz zum wogenden Feld -- von dem kurz darauf nur ein verlassener Fleck bleibt. Assoziationen drängen sich auf: Die Pferdeköpfe aus dem Parthenon-Fries, die im British Museum mit ihren aufgerissenen Augen und den zum Platzen gespannten Adern aus der Wand hervorzubrechen scheinen, sind zu Elgin Marbles geworden. Würden sie ans neu gebaute Parthenon-Museum in Athen 'zurück' gegeben, würden sie nicht zurück an den alten, sondern an einen neuen, künstlichen Ort gelangen. Anders gesagt kann das, was wiedergeholt werden soll, als gesellschaftlich lebendiges Moment auch durch eine Rückgabe nicht mehr erlangt werden. Die Bewegung der Substanz lässt das Wiederholen des Vergangenen zum Akt politischer Restauration werden. Bevor Sasha Waltz' entrückte Säerin mit der in keine Zeit gehörenden Goldhaube nach Linnéscher Art fixiert werden könnte, wäre sie längst zur Kokotte geworden.

Die ästhetisch-phänomenologischen Demonstrationen von Chipperfield und Waltz kommen freilich zu spät, um den Palast der Republik zu retten. Keine 200 Meter vom Neuen Museum und seinem anti-restaurativen Inszenierungskonzept entfernt, muss die Strahlkraft überholter Insignien das immer noch gefährliche Erbe der "ehemaligen DDR" bannen helfen. Honeckers Lampenladen trug den falschen Staat, weshalb das kurfürstliche Schloss wieder her soll. Hier ist er wieder, der Logos, mit seiner Stumpf-und-Stiel-Logik. Als wenn es noch nicht genug Beispiele für abstrakte Negation gäbe. Die Versunkenheit der Dialoge 09 und der restaurierten Räume im Neuen Museum ist umso wohltuender. Der Betrachter ist frei in der Auswahl des im Raum respektive der Bewegung liegenden Experiments, er kann nicht alles und damit auch nicht alle Brüche gleichzeitig sehen. Einen roten Faden, eine feststehende Teleologie gibt es nicht, auch keinen Raum für gesamtgesellschaftliche Ausreden; dafür aber eine Vielfalt an Strukturen, die, wie aus dem Schattenreich kommend, begrifflichen Bewegungen vorangehen, sie begleiten und ermöglichen. Chipperfields und Waltz' Transmissionsriemen heißt dabei Osmose, nicht Fetisch. Die Arbeit des Begriffs ist deshalb nicht geringer. Sie ist anstrengend, zumutend, befreiend. Die Suche gilt nicht einer Eule der Minerva, die in der Dämmerung zum Flug anhebt, auch nicht dem Beobachter, der sich selbst bespiegelt. Die Suche gilt den Strukturen, die nur unterm belichteten Mikroskop sichtbar gemacht werden können. Von diesen mikroskopischen Spuren ausgehend, das Wahre als das Ganze zu denken, ohne von den Rissen und Abgründen, die darin liegen, abzusehen, bleibt eine gewaltige, nicht nur phantasmagorische Herausforderung. Sie zu meistern, bedarf es: Mehr SubsTanz!

 

autoreninfo 
Karl Schievelbein, geb. 1989 in Berlin-Lichterfelde, arbeitet an einer Theorie ästhetischer Kollektivprozesse in gesellschaftspolitisch-anthropologischer Absicht. Ausgehend von der bewusstseinsphilosophischen Tradition, wie sie sich z.B. in Friedrich Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung widerspiegelt, versucht er, der problematischen Beziehung zwischen ästhetischer und politischer Bewegung auf den Grund zu gehen. Widerstand, Emanzipation und Rückfall sind dabei Kategorien, die Schievelbein im Anschluss an Überlegungen von Elias Canetti und Theodor W. Adorno weiterzuentwickeln versucht, um den Kulturzusammenhang zwischen politischen und ästhetischen Befreiungs- und Demokratisierungsprozessen aufzuschließen. Karl Schievelbein ist Mitglied in der internationalen Liga für die Transformation von Geniekult in Kulturstolz.

 

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