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no. 24: wildwüchsige autobiographien
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Heilige Autorschaft in der ModerneRainer Maria Rilke als Seher-Dichter |
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von Martina King |
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In der intellektuellen Krisenstimmung um 1900 wird auch Autorschaft zum Problem. Eine mögliche Lösung ist der zur Sakralgestalt überhöhte Autor. Dem Zugriff der prosaischen Masse entzogen, herrscht er wie etwa Stefan George als Charismatiker über eine exklusive Gemeinde. Aber auch Rilke ist zu den Charismatikern der Moderne zu zählen: in Briefen entwirft er sich als heiliger Mönch oder inspirierter Prophet, brieflich konstituiert er eine große Verehrergemeinde. Dabei geht es Rilke im Unterschied zu George allerdings weniger um autoritäre Machtausübung oder gemeinschaftsbildende Rituale, sondern um Anpassungsfähigkeit und Identifikationsangebote für eine europaweit verstreute Gemeinde von Mentoren, Mäzenen und Multiplikatoren. Diese erzeugen später in ihren Erinnerungsschriften einen wandelbaren Rilke-Mythos, der nicht nur den Autor, sondern auch seine Multiplikatoren auf Dauer stellt. |
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Um 1900 herrscht Krisenstimmung, so zumindest die Einschätzung der damaligen Zeitgenossen. Was die Intellektuellen bewegt, ist nicht nur eine Krise der Religion und Metaphysik, der Sprache und des Erzählens, und sie wird auch nicht nur in der Welt der Texte verhandelt. Der ich-skeptische Diskurs, der zu den zentralen Symptomen der 'Krisis' zählt, reicht bis in die praktische Lebenswelt hinein und erreicht auch den Binnenraum literarischer Kommunikation. Dort manifestiert er sich als 'Krise' des Autors. War der Autor seit der Etablierung des literarischen Betriebs im 19. Jahrhundert eine wesentliche Determinante literarischer Kommunikation, so scheint diese festgefügte Rolle um 1900 zweifelhaft. |
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Ein Blick auf sozial- und ideengeschichtliche Rahmenbedingungen zu werfen, lohnt, will man verstehen, wie es dazu kam. Obwohl der Buchmarkt um 1900 nahezu explodiert, tut er dies in eine Richtung, die den 'Berufenen' unter den Autoren, den Produzenten unbedingter, 'reiner' Kunst wenig nützt: die Gewinner, die von der Zunahme des Lesepublikums und der Entwicklung neuer Medientechnologien vor allem profitieren, sind Autoren kommerzieller Literatur. Sie passen sich den Marktbedingungen an, verfertigen für Zeitschriften schnelle Feuilletons und 'anspruchslose' Fortsetzungsprosa oder Heimatliteratur für den deutschnationalen Landjunker. Kaum zu unterschätzen ist die Rolle, die die reaktionäre wilhelminische Kunstpolitik bei dieser Neuverteilung von Gütern und Posten im literarischen Feld spielt. Produzenten hoher, autonomer Literatur, insbesondere die Lyriker der Avantgarde, werden marginalisiert und stehen vor der Frage, welches auktoriale Profil man sich in einer solchen Situation zulegen soll. |
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Autorrollen in der Krise | ||||
Zwingt der schnellebige Buchmarkt Autoren zu Selbstbesichtigung und individueller Selbsterfindung, ist es der ästhetische und literarische Diskurs selbst, der hier mögliche und äußerst widersprüchliche Richtungen vorgibt: einerseits wird Sinnstiftung, Weltdeutung und überhaupt Bedeutsamkeit von Literatur in der Epoche von Sprach- und Erzählkrise so weit problematisiert, daß auch ihr Subjekt, der Autor, ins Zwielicht des Zweifels gerät. Auf theoretischer Ebene ist das an Reflexionen über ein Verschwinden des Autors im Text abzulesen, etwa bei den französischen Symbolisten. Doch der Zweifel reicht bis in die praktische Lebenswelt und wird in entsprechenden Selbstthematisierungen sichtbar: für manche Naturalisten etwa ist Autorschaft nach den Rollenvorbildern des Wissenschaftlers oder Journalisten gestrickt, für Döblin ist sie nur noch als Komponente einer Doppelrolle möglich, und Autorschaft selbst wird engagiert und relativ gedacht, durch politische und gesellschaftliche Verantwortung bestimmt. Auf der anderen Seite rückt Kunst an die Stelle von Religion und Metaphysik und verspricht Erlösung aus aller Krise. Unter der Ägide Nietzsches, der die Kunst zur "eigentlich metaphysischen Tätigkeit des Lebens" ausruft, spricht man ihr Deutungshoheit zu und letztgültigen Sinn, und auch diese Position bringt einschlägige auktoriale Selbstbilder hervor: auf der Rückseite des Zweifels und der Verkleinerung von Autorschaft gedeiht der monumentale Autor und opponiert gegen die handfeste faktische Bedrängnis mit aller symbolischen Macht, die sich in der Geschichte autonomer Autorschaft angehäuft hat. Der späte Hauptmann etwa, Nutznießer und letztendlich Opfer des bildungsbürgerlichen Klassikerkults, modelliert sich zum überzeitlichen Denkmal, und auch Wedekinds Selbstbild macht eine Wandlung durch bis hin zum messianischen Erlösertum. |
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All das betrifft u.a. Fragen des praktischen Habitus von Autoren, die ihre Antwort nicht nur in der Welt poetischer und poetologischer Texte finden, und gilt für ein weiteres Konzept von Autorschaft, das in der Moderne Konjunktur hat und zu den Monumentalisierungen zu rechnen ist: die Rede ist von der Auratisierung (Thome) bzw. Sakralisierung der Dichterrolle, von 'heiliger Autorschaft'. Insbesondere der 'heilige Dichter' setzt bei Nietzsche an und ist ohne die Wegbereiterschaft des geweihten Künders und Sehers eines neuen Evangeliums der Kunst schwer denkbar. Nicht wenige Schriftsteller bedienen sich um 1900 dieser Rolle, mit mehr oder weniger Erfolg, mit eher bohemischem oder auch bildungsbürgerlichem Anstrich. Unter ihnen finden sich abgelegene Gestalten wie Rudolf Pannwitz, der "Charontiker" Otto zur Linde oder der Münchner Vorstadtmessias Ludwig Derleth, aber auch berühmte Autoren, die das Profil der Epoche mitprägen werden; so verbindet sich 'heilige Autorschaft' in erster Linie mit den beiden symbolistischen Lyrik-Ikonen Stefan George und Rainer Maria Rilke. Welche Aspekte machen nun das Konzept 'heiliger Autorschaft' in der Moderne aus, was eint George und Rilke, und was trennt sie? |
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Charismatische Dichter | ||||
Wenn Zeitschriften und Zeitschriftenbelletristik den Buchmarkt dominieren, ist Rückzug aus dem Literaturbetrieb eine Möglichkeit, den Berufungsstatus zu retten. Sowohl George als auch Rilke nehmen nach Möglichkeit nicht am Literaturbetrieb und seinen Betriebsamkeiten teil, sie entziehen sich den Niederungen von Kritik und Öffentlichkeitsarbeit, betreiben Selbstauratisierung und sind nur für eine erwählte Gemeinde Gleichgesinnter exklusiv greifbar. Beide formen diese soziale Nahwelt nach einem Muster, das man mit Max Weber als "charismatische Herrschaftsform" bezeichnen könnte, und sind auch damit nicht allein: Vermehrte Gruppenbildung ist nicht nur ein ganz allgemeines Krisensymptom der Moderne -- vor allem dort, wo es um antibürgerliche Kunstopposition geht --, sondern auch ein geeigneter Modus, die Krise zu bewältigen. Charismatisch geführte Jüngergemeinden, manchmal auch nur charismatische Projekte, die schon in der Planungsphase steckenbleiben, kennzeichnen denn auch die Autorschaftsentwürfe von Derleth und zur Linde und auch so exzentrische Unternehmungen wie die Münchner "Kosmische Runde". Daß George seinen legendären Kreis aus zweitrangigen Dichtern und erstrangigen Geisteswissenschaftlern nicht nur charismatisch, sondern ausgesprochen autoritär und antidemokratisch führt, ist bekannt und auch, welche Rolle dieses vormoderne, stratifizierte Sozialgebilde für das konservativ-revolutionäre Denken der Epoche spielt. Weniger bekannt ist, daß auch bei Rilke heilige Autorschaft nur im Verbund mit einer charismatisch geführten Gemeinde zustandekommt, daß Rilke aber viel näher an der Weberschen Urform des Charismas angesiedelt ist. Im Unterschied zur legalen oder traditionalen Herrschaft, die sich dem Glauben an gesetztes Recht oder an die Autorität schon immer geltender Traditionen verdanke, basiere charismatische Herrschaft auf einer bestimmten Qualität des Führers, die von dessen Anhängern als außeralltäglich bewertet werde, so Max Weber. Dabei gebe es keine Hierarchie, keine Karrieren und kein "Aufrücken" -- wie es aber doch für den George-Kreis bezeichnend ist. Vielmehr stehe "Kameradschaftskommunismus" und persönliches Vertrauen in die subjektiven Qualitäten des 'Berufenen' im Vordergrund. Und ganz in diesem Sinn ist bei Rilke nicht geistesaristokratische Diktatur der Modus, nicht Konformität und steile Hierarchisierung, sondern moderne, 'autoritätslose' Autorität, die alle Gemeindemitglieder das sein läßt, was sie sind oder gern sein wollen -- und sie dazu bringt, dem Führer, der keiner sein will, bereitwillig und mit leidenschaftlicher Emphase Charisma zuzuschreiben. So gerät etwa die Ehefrau von Rilkes Verleger Anton Kippenberg, Katharina Kippenberg, ins Schwärmen, wenn es um Rilkes spärliche Hausbesuche geht: wenn ein großer Dichter ein Haus bewohne, so widerfahre diesem viel Ehre, denn "er bringt viel heiligen Geist mit, der Feuer schlägt am Großen und das Kleine verzehrt", so Kippenberg in ihrer breit rezipierten Rilke-Biographie Rainer Maria Rilke. Ein Beitrag (1935). Und zur Beschreibung einer Elegien-Lesung durch den Autor wird gar auf die poetische Höhenlage des Alten Testaments zurückgegriffen: "Licht und Finsternis kämpften furchtbar miteinander, die Verse standen ganz in Flammen, -- war das noch menschliche Dichtkunst?" Schließlich scheint es der Begeisterten, "als ob mit heißem Atem der Genius der Dichtung selber wahrsagend und beschwörend, etwas Gewaltiges verkündend, durch das Haus führe." Mit etwas weniger Pathos aber ähnlichem Vertrauen in Rilkes "außeralltägliche Qualitäten" äußert sich auch die Mäzenin und Schriftstellerin Hertha König, wenn sie im Rückblick auf Rilkes Sommeraufenthalt auf ihrem Gut Böckel 1917 eine "Art klösterlicher Ordnung und Weihe" schildert, welche "absichtslos um sich [griff] und jedes alltägliche Erleben des kleinen Kreises [adelte]". Auch hier geht es um den bei Weber wichtigen Aspekt der Wirkung und Bewährung von Charisma, das den Geführten "Wohlergehen" bringe. |
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Natürlich kennt Rilkes Gemeinde aus kunstreligiös begeisterten Frauen und engagierten Männern keine kollektive Identität, kein gruppentypisches Wir-Gefühl, und ist deshalb auch nicht als Gruppe im engeren Sinn zu bezeichnen, wie etwa der George-Kreis. Dazu fehlen ihr gemeinsamer Interaktionsraum, Normensystem und Gruppenziel, da Rilke seine Anhängerschaft brieflich anwirbt, einschwört und erhält, während er selbst körperlich ungreifbar bleibt. Der Brief, kontinuierlich und intensivst genutzt, ist quasi seine Verbindung zur Außenwelt bzw. zu einer sozialen Nahwelt, die in Rilke ihr gemeinsames Sinnzentrum sieht -- man schätzt, daß Rilke etwa 10 000 Briefe an etwa 2000 Adressaten geschrieben habe, von denen mindestens 100 längerfristig dieser sozialen Nahwelt zuzurechen sind. Mag sie auch keine Gruppe sein, sondern eher eine europaweit verstreute Verehrergemeinde, ist sie dennoch ein äußerst effektives Instrument in der Hand des Autors. Zusammengesetzt aus Mäzenen, Mentoren, Intellektuellen, Künstlern, Übersetzern und Verlagspotentaten, aus Aristokraten, Bildungs- und Besitzbürgern leistet sie vermittelte Öffentlichkeitspräsenz für den Absenten, der sich auf entlegenen Adelsburgen systematisch den Blicken der Öffentlichkeit entzieht. Im Vergleich zum George-Kreis erweist sich dieses Gebilde als flexibel und anpassungsfähig an wechselnde Bedürfnisse und Lebenslagen des Autors, da es nicht an den Pathologien von Diktatur, an Binnenkonflikten und destruktiver Machtdynamik krankt. Starre und konfliktträchtige Konstellationen wie die "Herrschaft-und-Dienst"-Zwangsjacke der George-Jünger gibt es bei Rilke nicht, denn das gäbe schon sein Selbstentwurf nicht her. Der soll nämlich nicht nur radikale Distinktion herstellen, sondern ebenso Identifikationsangebote mitliefern, individuell und hochpersönlich auf das jeweilige Gemeindemitglied zugeschnitten. Wer könnte widerstehen, wenn sich ihm der Meister -- heilig zwar und auratisch entrückt, aber ebenso individuell und intim -- mitteilt in Briefen von makelloser Poetizität? |
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Rilke als Gesamtkunstwerk | ||||
Beide, Rilke und George, stilisieren sich zur Sakralfigur, zum prophetischen Künder von Dichtungs-Offenbarung, zum modernen Vates, der hinsichtlich Weihe, Irrationalität und unbedingtem Geltungsanspruch den goethezeitlichen Gründungsvätern des Konzepts, Hölderlin und Klopstock, in nichts nachsteht. Aber George stellt auf Handlungspraxis ab, auf eucharistische Kunstrituale in Priestergewändern und mit Lorbeerkränzen, während sich der scheue Rilke subtil und nicht weniger effektiv in Briefen zum Heiligen stilisiert. Seine Kunst sei "von einer Herrlichkeit, wie nicht das Haus Davids herrlich war", läßt Rilke etwa die Pianistin Magda v. Hattingberg 1914 wissen und beteuert, daß "Gott bei mir gestanden haben [muss], dass ich das sagen darf". Und diese epistolare Selbstsakralisierung hat für ihn gleich zwei Funktionen: zum einen erlaubt der Brief Suggestion von Nähe aus der Ferne, zum anderen lassen sich auf diese Weise Poesie und Alltagskommunikation zusammenbringen. Und da Rilkes epistolarer Selbstentwurf so künstlich, so nah ans poetische Werk angelehnt ist, wie es Briefkommunikation überhaupt nur erlaubt, verschmelzen Autor und Werk zu einer untrennbaren Einheit und lassen etwas entstehen, das für die Moderne überaus typisch ist: das Gesamtkunstwerk, das die "Grenze zwischen Ästhetischem und Sozialem" überschreitet (Wolfgang Braungart), das sich vom Raum der Texte und der Zeichen in den lebensweltlichen Raum ausdehnt. Natürlich ist Rilkes briefliches Selbstbild nicht mit Jugendstilstühlen oder dekorativer Gebrauchsgraphik zu vergleichen, und die Rede vom Gesamtkunstwerk ist metaphorisch gemeint. Aber Vermittlungsfunktion zwischen Alltagswelt und Kunstwelt hat auch dieses Gesamtkunstwerk, weil es an literarischer und an alltäglicher Kommunikation partizipiert, weil es einerseits auf Rilkes poetisches Werk hinweist und andererseits auf seinen Schöpfer, den Dichter. Man würde das heute als kluges Star-Marketing bezeichnen. |
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Wie sieht diese Selbststilisierung nun im einzelnen aus? Rilke erfindet sich -- das wurde schon gesagt -- fiktionsnah, er nimmt Anleihen an seinen eigenen poetischen Texten, schreibt sich in Rollenmodelle etwa des Stundenbuchs oder auch des Malte-Romans ein und setzt dabei die Akzente ganz anders als George. George geht es ums Priestertum im heiligen Tempel der Kunst und um die Autorität dieses Amtes. Als Hohepriester reguliert er den Zugang zum Heiligen oder verstellt ihn zur Gänze für Jünger, die sich der Häresie oder Ketzerei verdächtig gemacht haben. Das bedeutet eine harte Linie von Einschluß und Exkommunikation, und es impliziert für diejenigen, die 'drin sind', Inklusion und Homogenisierung. In Rilkes Briefen dagegen tritt uns ein demütiger Heiliger entgegen, der sich vor den immanenten Gott-Substituten 'Leben' und 'Kunst' willig auf die Knie wirft, Askese und Einsamkeit predigt und nimmermüde für seine Adressaten Selbstverkleinerung betreibt -- und damit diese Adressaten zur emphatischen Bejahung und Bestätigung eines epistolaren Rilke motiviert, der ihnen alles andere als unerreichbar groß und fern erschienen sein muß. Wenn er etwa Lou Salomé 1903 im Offenbarungston mitteilt: "denn sieh ich bin ein Fremder und ein Armer. Und ich werde vorübergehen", so erklärt sie ihn in der Folge zum Dichter "der Mühseligen und Beladenen". Der epistolare Autor-Heilige tritt gelegentlich im fiktionalen Gewand des Stundenbuch-Mönches auf; er mag dann wahlweise Züge eines Mystikers tragen oder auch des heiligen Franziskus und sich damit nicht nur aus Versatzstücken eines Gedichtzyklus zusammensetzen, sondern ebenso aus semantischen Elementen zeitgenössischer Codes. Wo nämlich um den Verlust von Religion und Metaphysik getrauert wird, da sprießen schon neue Ganzheitsangebote oder Reformulierungen tradierter Deutungssysteme aus dem Boden, so etwa die zeittypische Begeisterung für mystische Denkfiguren oder für den Spiritismus. Da nun die Mitglieder der Rilke-Gemeinde trotz allgemeiner Heterogenität über einen ähnlichen Bildungshorizont verfügen und wie der Meister selbst an den Diskursen (Neo-)Mystik, Lebensphilosophie, Monismus oder Spiritismus partizipieren, entsteht so etwas wie ein gemeinsamer Gruppencode. Das Heilige ist hier mehr rhetorische Form, als überlieferter Inhalt, und so stellt sich auch Rilkes Selbstbild des heiligen Autors dar: an der Schnittstelle verschiedener Einheitskonzeptionen angesiedelt, wird es von den Adressaten nicht nur bestens verstanden, sondern auch bereitwillig weiter geformt, hergerichtet, poliert. |
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Aber Rilke stilisiert sich nicht nur zum demütigen Mönch und Mystiker, sondern weicht noch in andere Richtungen von der priesterlichen Herrschaftskonzeption Georges ab. Unter Verzicht auf jede Autorität, auch diejenige des Autors über seinen Text, greift er auf das historisch sehr weit zurückliegende Modell des originären 'Poeta vates' zurück, des blinden und willenlosen Mediums göttlicher Inspiration. Allerdings war der rasende Poet aus Platos Phaidros noch einer transzendenten Stimme der Eingebung verpflichtet, und diese transzendente Instanz fällt nun in der Moderne weg. Was als einziger Kandidat für den göttlichen Bezugspunkt der Inspiration übrig bleibt, wenn Gott wegfällt, ist der Text selbst; er flüstert sich seinem Medium, dem berufenen Vates-Propheten der modernen Kunstreligion, selbst ein. Mit dieser vorbildlich autopoetischen Konstruktion bringt Rilke Antike und Moderne auf raffinierte Weise zusammen bzw. reformuliert ein uraltes Modell von Autorschaft unter Bedingungen, die moderner nicht sein könnten. Einem auktorialen Propheten, der auf so elegante Weise hinter den Text zurücktritt, nimmt man es dann auch nicht übel, wenn er sich in eine Reihe biblischer Gründungsmythen einschreibt, die sich sehen lassen kann: Rilke vergleicht sich in Briefen nicht nur mit Moses, sondern auch mit Jakob, Josua und anderen, kurz gesagt, mit einem Personal, das aufmerksamen Adressaten aus verschiedenen lyrischen Texten bestens bekannt gewesen sein dürfte, und bleibt dabei stets ergriffenes Medium, stets Instrument der Göttin 'Kunst', ohne sich je zu deren Beherrscher aufzuschwingen. Nur über die Hintertür des Bibelzitats wird die Privilegiertheit des berufenen Dichters wieder eingelassen, die ihn vor den prosaischen Massen auszeichnet und in heilige Gefilde emporhebt; über eine Hintertür, die offensichtlich klein und dezent genug ist, um nicht Neid und Eifersucht wie im George-Kreis entstehen zu lassen, sondern statt dessen schier unbegrenzte Hilfs- und Identifikationsbereitschaft. |
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Mythos in Briefform | ||||
Um dies alles in Gang zu setzen und in Gang zu halten, schreibt Rilke unermüdlich Briefe. Wer aber schreibt, wer sich selbst verschriftet, etwa in Form der Autobiographie, des Tagebuchs, des Briefs, der hinterläßt ein personales Archiv und stellt sich selbst auf Dauer, während mündliche -- auch rituelle -- Kommunikation dem "Strom des Vergessens anheim fällt" (Assmann). Dies mag einer der Gründe sein für die vielen Mißverständnisse im Umgang mit dem Phänomen George und für die Kurzlebigkeit seines auktorialen Mythos. Der auktoriale Mythos Rilke dagegen beschäftigt jenseits literaturwissenschaftlicher Konjunkturen und Baissen anhaltend eine breite Rezeptionsöffentlichkeit -- wer sich selbst verschriftet, hat eine Chance, in die Ewigkeit des kulturellen Gedächtnisses einzugehen. Wer schreibt und sich selbst verschriftet, anstatt zu sprechen, wird dann allerdings auch ausgelegt. Vor allem posthum kann es sehr leicht passieren, daß er zum Gegenstand der Interpretation wird, gegen die er sich ganz im Sinne der platonischen Schriftkritik nicht mehr wehren kann. So wirkungsvoll nämlich das enorme Briefwerk des Epistolographen Rilke als Archiv fungiert, so bedroht es auch die Kontinuität des Autors, den es auf Dauer stellen soll. All diejenigen ehemaligen Gemeindemitglieder, die über Rilke hagiographische Erinnerungstexte verfassen -- und das sind nicht wenige --, bedienen sich aus diesem Archiv, wenn es darum geht, den heiligen Autor Rilke 'mit eigenen Worten' fortzuschreiben. Sie zitieren gerne und ausgiebig aus dem Briefwerk, manche exhibieren dabei vor allem ihre persönliche Epistolarbeziehung mit Rilke, andere greifen auch auf Fremdkorrespondenzen zurück, aber alle zitieren und zwar mit Vorliebe Passagen der Selbstsakralisierung. Das klingt nach Dauerhaftigkeit und nach einer langfristig glücklichen Marketing-Entwicklung und ist doch alles andere als unproblematisch. Es geht um das Wie. Da werden Briefzitate aus dem Kontext gerissen, ungenau wiedergegeben oder unmarkiert in die hagiographische Erzählerrede eingebaut; da werden ursprünglich vieldeutige Metaphern verkürzt und vereinfacht oder mit einem Pathos aufgeladen, das selbst Rilke fremd wäre. Nicht zuletzt wird Rilke je nach Verfasserdisposition und Bedarf umgeschrieben, etwa zur psychopathologischen Fallstudie, zum überzeitlichen Repräsentanten des deutschen Geists oder zum christlichen Mystiker. Die Gemeindemitglieder und eifrigen Multiplikatoren erzeugen -- man sieht es -- mit Rilkes eigenen Worten ganz neue Rilke-Fiktionen, die mit dem ursprünglichen epistolaren Selbstentwurf unter Umständen nicht mehr viel zu tun haben. Sie tun dies in besten hagiographischen Absichten und verwirklichen doch immer auch ihre eigenen publizistischen Interessen, da das Prestige-Objekt 'Freundschaft mit Rilke' als bedeutendes symbolisches Investitionsgut im Feld der Kulturproduktion gewirkt haben dürfte. Das ist weder gut noch schlecht -- bestätigt wird hier nur der Grundsatz vom "Erhalt sozialer Energie" (Bourdieu) --, sondern in erster Linie aufschlußreich, da es systematische Einsichten in die Dynamik heiliger Autorschaft um 1900 ermöglicht. Charismatische Führung bedarf der Geführten und ist ohne sie nicht denkbar, aber natürlich sind die Subjekt-Objekt-Konstellationen hier nicht grundsätzlich fest. Immer geht es auch um Wechselwirkungen, prosaisch gesprochen, um Tauschhandelsbeziehungen. So wie Rilke die ökonomischen und kulturellen Ressourcen seiner Gemeindemitglieder nützt und dafür sein wachsendes Prestige als Dichter in die Waagschale wirft, so nützen auch die Jünger, die sich der epistolarischen Nahferne des Meisters erfreuen durften, später diese kostbaren Dokumente, um sich einen Namen zu machen und sich in den verschiedenen Segmenten des Kulturbetriebs zu plazieren -- als Schriftsteller, Maler, Pianisten, Kulturverleger oder einfach nur als Rilke-Hagiographen. Auch das allein hat schon Kultfiguren hervorgebracht, wie etwa die mäzenatische Grande-Dame Marie Thurn und Taxis. Woher kommt er also, der langlebige Rilke-Mythos vom demütigen Dichter-Propheten in Fürstenschloß oder mittelalterlicher Bergklause? Er ist ein Produkt der Kooperation, der gemeinsamen und zum Teil völlig unvorhersehbaren 'Arbeit am Autor', die ebenso wie die 'Arbeit am Mythos' eine unfeste, immer wieder faszinierende und nie allein Wirklichkeit abbildende Erzählung hervorbringt, eben den Mythos vom Autor. |
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autoreninfo
Dr. med. Martina King, Jahrgang 1962, studierte zunächst Medizin und später Germanistik. Sie ist Kinderärztin in München und war zuletzt sieben Jahre im Bereich Neu- und Frühgeborenenmedizin tätig. Seit 2003 arbeitet sie an einem germanistischen Dissertationsprojekt zu Semantik und Soziologie von Autorschaft in der Moderne am Beispiel Rilkes. 2005 erschien bei Insel unter dem Titel Der Dichter und sein Astronom der von ihr und Prof. Karl-Otmar von Aretin herausgegebene Briefwechsel Rilkes mit Erwein von Aretin.
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