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no. 13: cyberkultur -> e-motion
 

E-Motion -- Was bewegt uns an den Medien?

Über fiktionale Welten, virtuelle Kontakte und die Realität der Gefühle

von Katja Mellmann

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Menschen reagieren auf fiktionale Ereignisse ebenso emotional wie auf das wirkliche Leben. Solche Gefühlsreaktionen bedeuten jedoch keine Verwechslung von Realität und Fiktion, sondern sind ein Produkt angeborener sozialer Verhaltensweisen und komplexer neuronaler Vorgänge. Reaktionen wie Schrecken und Mitleid zum Beispiel geschehen spontan, fast reflexartig. Aber auch über Gedanken lassen sich Emotionen hervorrufen: Bestimmte literarische Textsorten appellieren an das Einfühlungsvermögen des Lesers und lassen ihn an der Gefühlswelt fiktionaler Personen teilhaben. Andere Emotionen können sich auf ein künstlerisches Werk als ganzes oder auf werkexterne Bedeutungskomponenten beziehen. Weitere Formen emotionaler Beteiligung sind Lust und Spannung, die affektiven Basisprozesse jeder Kunst- und Medienrezeption.

 

Emotionale Ergriffenheit, so glaubte man lange, sei untrennbar verbunden mit dem Glauben an die Existenz dessen, was uns erregt. Aber warum bewegt uns ein Roman, wo wir doch wissen, daß die Figuren, die da lachen und weinen, frei erfunden sind? Die philosophische Ästhetik nennt diesen Sachverhalt das 'Fiktionsparadoxon'. Doch was in konsistenten Begriffssystemen schnell nach einem Widerspruch aussieht, ist in Wirklichkeit oft nur ein sehr komplexer Zusammenhang, der -- so alltäglich und vertraut er unserer Intuition auch sein mag -- sich leider nur schwer beobachten und beschreiben läßt. Zwar verfügt die moderne Neurophysiologie über immer bessere Methoden der Gehirnabbildung, aber jedes neue Experiment kann nur die bereits vorhandenen Modellvorstellungen von Gehirn, Kognition und Bewußtsein korrigieren, kann lediglich Vorannahmen weiter plausibilisieren oder widerlegen. Was tatsächlich vor sich geht, welche neuronalen Vorgänge an der Ergriffenheit und welche am Glauben an die Existenz gewisser Geschehnisse beteiligt sind, weiß nach wie vor niemand so ganz genau.

Es deutet jedoch einiges darauf hin, daß die mentale Repräsentation bestimmter Vorgänge im Bewußtsein einerseits und ihre kognitive Einschätzung andererseits (zum Beispiel als wirklich oder nicht wirklich) im Gehirn zwei separaten neuronalen Vorgängen entsprechen, die untereinander jedesmal neu kombiniert werden. Wenn zum Beispiel eine Versuchsperson A einen Arm hebt und eine andere Versuchsperson B ihr dabei zusieht, dann zeigen beide Kandidaten an einer Stelle ihres Gehirns ein identisches Muster neuronaler Erregung. Bei A aber ist dieses Muster vernetzt mit weiteren neuronalen Karten, die ihr mitteilen, daß sie selbst es ist, die den Arm hebt; bei B ist das Muster verknüpft mit der Information, daß A es ist, die gerade den Arm hebt. Dasselbe gilt für eine dritte Person C, die den Vorgang in einer Filmaufnahme sieht: Sie aktiviert gleichermaßen das quasi semantisch besetzte Muster 'Arm heben', identifiziert auch die Person, die diese Bewegung ausführt, und ist sich zudem bewußt, daß sie den Vorgang nur auf einem Bildschirm mitverfolgt. Auch finden sich bei Versuchspersonen, denen man Photos von ihren Freunden vorlegt, zu einem Teil dieselben Gehirnareale aktiviert wie bei einer persönlichen Begegnung mit diesen Freunden. Alles weist also darauf hin, daß das Zustandekommen einer sinnlichen Vorstellung in Form einer neuronalen Repräsentation ein relativ autonomer Vorgang ist, zu dem das Wissen über das Medium der sinnlichen Repräsentation und sonstige Anschlußüberlegungen nur weitere Zusatzinformationen darstellen.

Warum aber stellen sich uns außerdem auch noch leise die Haare auf, wenn eine Person auf einem Photo oder auf dem Bildschirm nicht nur einfach ihren Arm hebt, sondern die Faust zum Himmel reckt und Rache schwört? Woher der bekannte 'Kloß im Hals', wenn zwei Personen auf der Leinwand ihre Arme heben, um sich endlich für immer in die Arme zu schließen, nachdem sie über die Dauer von zwei Stunden gelitten und geschmachtet haben? Wir erkennen die Vorgänge nicht nur, sondern wir reagieren auch auf sie.

 

Gefühle wie im richtigen Leben: Soziale Emotionen und schnelle Reflexe

In den Filmwissenschaften ist man sich heute einig darüber, daß wir -- zumal im optischen Medium Film -- mit unseren normalen sozialen Emotionen, d. h. mit Sympathie, Mitleid, Abscheu und Schrecken, auf das fiktive Personal auf der Kinoleinwand reagieren. Das aber heißt nicht, daß wir uns über die Faktizität dieser Figuren täuschen; die Information über die Fiktionalität ist latent immer mit bewußt und wird je nach Qualität und Intensität der Emotionen unterschiedlich stark in den Vordergrund gerückt. Von mancher allzu starken Ergriffenheit machen wir uns lieber frei, indem wir auf Ärger umstellen und den Regisseur innerlich dafür schelten, daß er uns mit solcher Vehemenz auf die Tränendrüsen drückt. Aber offenbar ist mit unserer Reaktion auf die fiktiven Figuren ein uns angeborener Mechanismus angesprochen, den wir mit bewußten Handlungen zwar überdecken, nicht aber völlig umgehen können. Den Impuls zu weinen verspüren wir trotz allem, und alle anschließenden Vermeidungsaktionen beziehen sich auf dieses primäre emotionale Ereignis. Unsere angeborenen sozialen Reaktionen sind also prä-reflexiv, d. h. unser emotionaler Apparat reagiert spontan auf andere Menschen, noch ehe wir weitere Überlegungen anstellen können.

Die Ausdifferenzierung der Ästhetik als einer eigenen philosophischen Disziplin im 18. Jahrhundert hat zu dem verfänglichen Irrtum geführt, es gäbe so etwas wie ein exklusiv 'ästhetisches Gefühl', einen emotionalen Zustand, den wir nur Kunstwerken gegenüber erleben. Heute aber setzt sich in den Kunstwissenschaften eine neue psychologische Erkenntnis durch, die diese alte philosophische Sicht auf unser ästhetisches Erleben entscheidend verändert: So wichtig die ästhetische Rahmung des Objekts und das Fiktionalitätsbewußtsein im Beobachter auch sein mögen, was in uns reagiert, sind nur all die emotionalen Dispositionen, die uns auch durch unser übriges Leben begleiten. Und woher sollten wir auch andere nehmen? Die durch Kunst erregten Gefühle sind nur häufig so komplexe Zusammensetzungen, daß wir sie nicht so leicht mit einem alltagssprachlichen Emotionswort benennen möchten. So sprechen wir in bezug auf unsere ästhetische Reaktion nicht von Mitleid, sondern von Rührung; nicht von Furcht, sondern von thrill (oder armchair fear). Außerdem enthalten die Kunstwerke oft besonders ausgesuchte Stimuli: Die traditionellen Formen und Gestaltungsmittel, die uns in Kunstwerken immer wieder begegnen, haben sich in der langen Kulturgeschichte der Menschheit bewährt. Sie sind maßgeschneidert für eine optimale Wirkung auf unseren emotionalen Apparat, mit dem uns die Evolution ausgestattet hat. In der Wirklichkeit kommen sie meist so nicht vor.

Die oft meditative Ruhe, die unsere Kontemplation auf ein Kunstwerk mit sich bringen kann, und das, was Kant das 'interesselose Wohlgefallen' genannt hat, existiert gleichwohl -- aber es handelt sich hierbei um keine eigene, quasi 'nur' ästhetische Emotion. Kants 'Interesselosigkeit' ist lediglich eine kognitive Zusatzinformation im oben beschriebenen Sinne -- die zum Beispiel dafür sorgt, daß wir mit Anschlußhandlungen zurückhaltender sind. Während ein Fünfjähriger noch geneigt ist, Kasperl und Seppel eigenhändig vor dem Krokodil zu retten, wird es einem Erwachsenen wohl kaum unterlaufen, daß er dem Filmhelden nach einer überstandenen Strapaze eine Zigarette anbietet. Aber dieser Übergang ist fließender, als man gerne annehmen möchte, und hängt davon ab, wie geübt wir im Umgang mit bestimmten illusionserzeugenden Mitteln in der Kunst sind. Über die Frühzeit des Kinos ist bekannt, daß sich auch das erwachsene Publikum im dunklen Zuschauerraum duckte, wenn von der Leinwand aus ein Zug auf sie zugerast kam. Eben dieser gleitende Übergang zwischen Illusionsbildung und Affekthandlung lädt auch heute noch dazu ein, mit den betreffenden Verhaltensdispositionen zu spielen. Es ist ein nahezu sportlicher Ehrgeiz aller populären Kunstformen, immer wieder neue Realitätseffekte zu erzielen und ihr Publikum dort zu erwischen, wo es am stärksten berührt werden kann: mitten im eigenen Leben, in seinen unmittelbaren Affekten und Reaktionen.

Die Schreckreaktion angesichts einer plötzlich hereinbrausenden Gefahr ist ein besonders deutliches Beispiel dafür, wie solche Realitätseffekte funktionieren. Selbst die allerersten Kinobesucher Europas dürften nicht im Zweifel darüber gewesen sein, ob sie sich in akuter Gefahr befanden oder nicht -- die automatische Verhaltensreaktion war nur einfach schneller! Schneller als alle begleitenden kognitiven Vorgänge. Starke Realitätseffekte im Kino sind also vor allem dort zu erzielen, wo unsere schnellen Reflexe angesprochen sind. Der durch Sinneswahrnehmung eintreffende Reiz wird in einem solchen Fall schon im Hirnstamm beantwortet und sozusagen als Befehl in das motorische System zurückgeschossen. Wir zucken zusammen; bereit, abwehrend den Arm zu heben, schnell die Augen zu schließen, uns zu ducken oder den Kopf zu schützen. Dazu reicht manchmal schon ein plötzliches lautes Geräusch oder ein schneller Filmschnitt.

Aber auch unser im engeren Sinne emotionales Reaktionssystem ist noch vergleichsweise schnell; der Impuls zu lachen oder zu weinen läßt sich oft nur schwer unterdrücken. Die Pointendichte einer Sitcom reizt zum Kichern, und die Selbstaufopferung eines Helden schnürt uns den Hals zusammen, so als müßten wir jeden Moment laut aufschluchzen. Die Wirkung auf Gehirnareale des sogenannten limbischen Systems, des Hauptsitzes unserer Emotionen, läßt sich nicht einfach durch Bewußtheit abfangen. Wir können nur aufstehen und weggehen -- wenn wir zum Beispiel beschließen, daß der Film für unseren Geschmack zu trivial ist, den Fernseher ausschalten und uns dem Reiz ganz einfach nicht länger aussetzen.

Das Wirkungsprinzip der Rührung wurde jedoch nicht immer als so trivial eingeschätzt wie heute. Das Wort Sentimentalität hat heute einen pejorativen Beigeschmack. Aber im 18. Jahrhundert avancierte die sentimentale Rührung -- in Deutschland vor allem auf Betreiben Lessings -- unter dem Schlagwort des 'Mitleidens' zum wichtigsten theatralischen Wirkungsprinzip auf deutschen Bühnen. Christian Fürchtegott Gellerts Schauspiel Die zärtlichen Schwestern von 1747 zum Beispiel endet schlicht mit dem vielsagenden Satz der unglücklichen Heldin: "Bedauern Sie mich."

 

Illusionswirkungen: Reflexive Emotionen und Identifikationsprozesse

Ebenfalls im Zeitalter der sogenannten Empfindsamkeit entwickelte sich -- insbesondere auf dem Gebiet der narrativen Literatur -- eine weitere Form des emotionalen Zugriffs auf den Leser: eine Form der poetischen Ich-Aussprache fiktiver Helden, die nun nicht mehr nur die sozialen, sondern auch die reflexiven Emotionen in uns anzusprechen vermochte. Die Leser von Goethes Leiden des jungen Werther hatten nicht einfach nur Mitleid mit dem Helden, sondern das überwältigende Gefühl, ihn und seine Probleme zu verstehen. Sie identifizierten sich mit ihm.

Identifikation meint nicht, daß sie sich selbst für Werther hielten -- so sahen es einige spöttische oder aufrichtig pädagogisch besorgte Zeitgenossen --, sondern daß sie seine Verzweiflung und Sehnsüchte im wahrsten Sinne des Wortes nachempfinden konnten. Identifikation meint demnach Einfühlung, aktive Empathie. Diese Möglichkeit verdankt sich einer neuen literarischen Form, dem sogenannten empfindsamen Briefroman, durch den auch die höheren kognitiven Vorgänge des Lesers in einer bestimmten Weise gesteuert werden können: Hier wird im Lektüreprozeß nicht allein unser limbisches System (d. h. unsere unmittelbaren emotionalen Reaktionen) angesprochen; sondern das Werk bestimmt zu einem gewissen Teil auch, welche zusätzlichen neuronalen Verknüpfungen auf der Ebene des Neokortex, des evolutionär wahrscheinlich jüngsten Bereichs unseres Gehirns, hergestellt werden. Werthers unglückliche Briefe sind so verfaßt, daß der Leser über alles, was dem Protagonisten zustößt, und alle seine Gedanken und Gefühle detailliert informiert wird. Der Leser -- wenn er sich denn darauf einläßt -- übernimmt in einem kognitiven Simulationsprozeß hypothetisch die Lebenswelt Werthers, dessen Zielvorstellungen, Wünsche und Voraussetzungen, und erlebt infolgedessen in einer Art Als-ob-Modus an sich selbst ähnliche Gefühlsregungen, wie Werther sie von sich erzählt. Der Leser lebt für die Dauer der Lektüre gewissermaßen in derselben fiktionalen Welt, in der auch Werther lebt, und erlebt sie vornehmlich durch dessen Augen -- aber er erlebt sie sozusagen 'am eigenen Leib'!

Damit das funktioniert, muß allerdings ein gewisser Grundkonsens vorhanden sein, der den Helden sympathisch erscheinen läßt. Würden Werthers Gedankengänge zu stark von dem abweichen, was auch ein beliebiger Leser in der betreffenden Situation als angemessen oder wenigstens naheliegend hinzunehmen bereit ist, hätte dieses literarische Wirkungsprinzip keinen Erfolg. Goethe aber hatte ganz offensichtlich einen Nerv der Zeit getroffen, und so schlug sein Werk (vor allem beim jugendlichen Publikum) ein wie eine Bombe.

 

Historische Entwicklung: Externalisierung des emotionalen Potentials

Dem Rezeptionsschema der Identifikation durch Illusionssteigerung erging es allerdings nicht besser als dem der Rührung: beide Schemata, wenn sie in einem modernen Werk gewissermaßen über-perfekt realisiert werden, gelten als Kitsch und werden leicht als trivial empfunden. Wenn wir die beteiligten Wirkungsmechanismen einmal durchschaut haben -- was sich nicht vermeiden läßt, wenn solche literarischen Innovationen Gemeingut werden --, so fällt uns der ungestörte Genuß der eigenen emotionalen Beteiligung offenbar schwerer. Wir fühlen uns manipuliert. Die Literaturgeschichte seit dem 18. Jahrhundert ist deshalb gekennzeichnet von einem Zuwachs an Techniken, die das rührende und identifikatorische Potential einer Handlung nur noch umspielen. Etwa durch Formen expliziter Vermeidung wie bei Kafka. Die Handlungen seiner Helden bleiben immer unabgeschlossen, so daß dem Leser kein narrativer Ruhepunkt eingeräumt wird, wo ein Effekt der Rührung (über Erfolg oder Scheitern) einsetzen könnte. Oder durch gewagte Formen der Verfremdung und Abstraktion wie in Symbolismus und Surrealismus, wo oftmals gar keine realistisch entworfenen Figuren mehr auftauchen, auf die eine mitleidige oder empathetische Reaktion sich beziehen könnte. Oder durch Ironie wie in den Romanen Thomas Manns oder Musils, wo zwischen dem Leser und den fiktiven Personen immer noch der Erzähler und dessen Kommentare stehen. Die emotionale Ausgestaltung der dargestellten Ereignisse wird durch solche Mittel der literarischen Gestaltung mehr und mehr dem Leser selbst anheimgegeben. Er bekommt nur noch Hinweise geliefert, quasi Reizwörter oder unvollständige bis uneindeutige Vorschläge, die er dann mit eigenen Assoziationen, Schlußfolgerungen und Erfahrungen zu verbinden, zu vereindeutigen und zu füllen hat.

Die Wahrheitswut des Naturalismus und das berüchtigte "O Mensch!"-Pathos des Expressionismus sind nur noch einzelne Ausbrüche einer jeweils neu antretenden Generation, die die Mittel einer bewegenden Selbstartikulation und Illusionssteigerung jedesmal wieder neu für sich entdeckt. Und schon in den erwähnten Fällen geht das Spiel der Verfremdung und bloßen Suggestion weit über den direkten Appell an das Einfühlungsvermögen, wie er im Werther noch anzutreffen war, hinaus. Gerade das Spielerische der Verfremdungskunst aber vermag den pathetischen Ausbruch gewissermaßen zu legitimieren bzw. als eine Art ästhetisch motivierten Ausnahmefall zu entschuldigen.

Eine ganz andere moderne Form der Legitimation von Pathos in der Moderne ist die Anbindung der artikulierten Emphase an außerliterarische Relevanzfragen. So haben sich zum Beispiel die jungdeutsche Generation des Vormärz und die Revoluzzer von 1968 auf politische Zielsetzungen berufen. Die Emotionen, die durch 'engagierte' Literatur erzeugt werden, sollen sich ausdrücklich auf wirkliche, nicht auf die dargestellten Begebenheiten beziehen. Der bekannte 'V(erfremdungs)-Effekt' der Brecht'schen Dramaturgie produziert aus diesem Grund eigens Illusionsstörungen, die den Leser immer wieder an die Wirklichkeit erinnern.

Ein Nebeneffekt dieser historischen Entwicklung ist der Umstand, daß die neueren Werke stärker mit den Bedeutungssystemen ihrer Zeit kooperieren. Wenn unser limbisches System immer weniger zu tun bekommt, sind wir darauf angewiesen, über bestimmte Symbolhaushalte, Bildungsreferenzen und werkexterne Problemkontexte informiert zu sein. Das hat zur Folge, daß moderne Kunst mit der Zeit partiell unverständlich wird. Die Stilideale und Moden wechseln einander schnell ab; die zugehörigen Dekodierungssysteme verschwinden aus dem Bewußtsein, die Werke veralten. Daß ein Mensch von heute abstrakte Kunst langweilig finden kann und das Pathos 'engagierter' Literatur lächerlich, liegt an der historischen Zurücknahme des 'Allgemeinmenschlichen' aus dem Wirkungsdispositiv solcher modernen Werke und an der historischen Kontingenz ihrer Problemreferenzen. Der Roman Werther wird in absehbarer Zeit nie wirklich unverständlich werden; er kann nur -- heute wie damals -- als zu leidenschaftlich, als zu exzessive Gefühlsäußerung (gemessen am bürgerlichen Alltagsleben) mißbilligt werden.

Das aber heißt nicht, daß wir heute insgesamt weniger emotional auf Kunst reagieren als vor zweihundert Jahren. Nicht nur leben die primären Methoden, Emotionen im Leser zu wecken, wie Schrecken und Rührung in den populären Gattungen Thriller und Liebesroman weitgehend unbehelligt weiter. Auch in der kanonisierten Literatur hat sich -- ausgehend vom Genie-Gedanken des späten 18. Jahrhunderts -- eine Neuerung ihren Weg gebahnt, die uns auch heute noch in höchste Erregung zu versetzen vermag.

 

Kulturell vermittelte und biographisch begründete Reaktionsweisen

Was wir heute unter 'ästhetischen Gefühlen' verstehen, ist meistens die Wertschätzung für ein besonders gelungenes ('geniales') Kunstwerk. Aber auch hier handelt es sich nicht um eine eigene, 'nur ästhetische' Emotion, sondern wiederum um eine soziale Emotion: um Bewunderung, die wir für den Künstler wegen seiner Originalität und Kunstfertigkeit empfinden. Das heißt, daß sich im Rezipienten bei der Betrachtung eines Kunstwerks ein kognitiver Wechsel vollzieht: Er geht von den Emotionen, die sich auf die dargestellten fiktiven Ereignisse beziehen, (sogenannten F emotions) über auf Emotionen, die das Kunstwerk als Artefakt betreffen (sogenannte A emotions). Ein Jahrhundert des Bildungsbürgertums hat Wertungs- und Kanonisierungskriterien ausgebildet, die für den privaten Rezeptionsvorgang auch heute noch Relevanz besitzen. Wir erkennen exorbitante Blickwinkel, die ein Autor einnimmt, schätzen sprachliche Einfälle und differenzierte Beobachtungen und applaudieren geschickt gesetzten Provokationen. Das Wirkungsprinzip der Admiratio, die sich seit Aristoteles und noch in den barocken Märtyrerdramen auf den Helden, also auf ein Element der fiktiven Welt zu beziehen hatte, ist nun viel häufiger eine Angelegenheit des virtuellen Autor-Leser- bzw. Künstler-Rezipienten-Kontaktes. Es sind also wiederum Mechanismen unseres angeborenen emotionalen Repertoires, die hier angesprochen sind. Aber ihr Objekt hat sich verschoben.

Ebenfalls zum Bereich der kulturell vermittelten Emotionsauslöser gehört der Bereich der Symbole und individuellen (d. h. biographisch begründeten) Bedeutungszuschreibungen. Die Gefühle, mit denen manche Amerikaner auf eine Stars-and-Stripes-Flagge reagieren, Gefühle, die Picassos Friedenstaube in manchen Betrachtern auslöst, oder mit denen ein Liebespaar sich 'unser Lied' anhört, sind sehr komplex zusammengesetzte Emotionen, die auf verschiedenen individuellen Erinnerungen und Prägungen aufbauen. Sie sind deshalb nur schwer objektiv beschreibbar. Aber sie sind im Einzelfall stets konkretisierbar, denn sie beinhalten bestimmte emotionsintensive Situationen (zum Beispiel ein Liebeserlebnis), die sich der Rezipient innerlich vergegenwärtigt, oder bestimmte Idealvorstellungen (zum Beispiel Patriotismus, Frieden), die in seinem Leben von großer Bedeutung sind.

Zum Teil höchst individuell sind auch die intellektuellen und ideologischen Vorbehalte, die unser emotionales Verhalten modifizieren können. Marsch-Musik kann einen Antimilitaristen verärgern, und auch der emotionale Appeal von Schlager- und Pop-Musik kann als Belästigung und manipulativer Übergriff abgelehnt werden. Die Darstellung einer 'heilen Welt' goutiert man nicht, wenn man der Ansicht ist, daß 'die Welt schlecht ist' und Kunst nur 'Opium fürs Volk'. Über frauen- oder ausländerfeindliche Witze 'lacht man nicht' (auch wenn sie lustig sind).

Von kulturellen Einflüssen und historischen Veränderungen weitgehend unberührt bleiben dagegen bestimmte affektive Basisprozesse der Kunstrezeption, in der sich nicht nur wirkliches Leben und ästhetische Erfahrung überschneiden, sondern die auch in anderen Bereichen der Unterhaltung und Freizeitgestaltung -- zum Beispiel in Spielhandlungen oder bei der Benutzung des Internets -- eine wichtige Rolle spielen.

 

Affektive Basisprozesse der medialen Interaktion: Lust und Spannung

Was Kant das 'Angenehme' und das 'Schöne' genannt hat, konstituiert, nimmt man das Begriffssystem der heutigen Psychologie zur Grundlage, den Bereich der Lust. Es handelt sich um jenes seltsam angenehme Gefühl, das Kinder beim Spielen bei Laune hält. Und auch Erwachsene können noch Sandburgen bauen und viele Runden Mensch ärgere dich nicht spielen, ohne dessen müde zu werden. Karl Bühler hat dieses Lustgefühl als 'Funktionslust' zu erläutern versucht: Seiner Ansicht nach empfindet der Mensch schon am bloßen Funktionieren seines kognitiven und physischen Apparates Vergnügen. Das gilt für das Tanzen ebenso wie für das Lösen von Kreuzworträtseln. Die lusterzeugende Tätigkeit ist -- im Kantischen Sinne -- 'zweckfrei' (in einer Sandburg kann man nicht wohnen) und scheint doch 'in sich zweckmäßig'. Woher der Eindruck der Zweckmäßigkeit kommt, kann man noch nicht sicher sagen, aber ein neuer Zweig der Psychologie, die Bio- oder evolutionäre Psychologie, hat dazu in den letzten zwei Jahrzehnten einige recht plausible Vermutungen angestellt.

Man nimmt an, daß wir Präferenzen für gewisse Objekteigenschaften bereits in den Genen tragen. Daß wir zum Beispiel den locus amoenus (den 'schönen Ort' der Schäferwelt, wie er in zahlreichen Gemälden und Gedichten ausgestaltet ist) einfach schön finden, erklärt sich womöglich aus den Umweltbedingungen unserer Jäger-und-Sammler-Vorfahren. Ihre durchaus rational begründbaren Präferenzen für bestimmte Ortsspezifika (Grasmatten, Bäume, Quellen, verwertbare Tiere, weite Aussicht, Multifunktionalität der Ortsbeschaffenheit usw.) über einen langen Zeitraum hinweg, in dem sich die genetische Ausstattung auch noch des heutigen Menschen konstituiert hat, sind ausschlaggebend dafür, was wir heute als grundlos schön empfinden. Auch der Umstand, daß wir im Kino gerne schöne Körper sehen und mit Interesse lange Modeschauen auf dem Laufsteg verfolgen, könnte sich aus unseren biologischen Dispositionen zur Partnerwahl erklären. Wir fühlen uns zu den schönen Gestalten hingezogen, und im Gewahrwerden dieser emotionalen Bewegung auf ein Ziel hin empfinden wir Lust an der Ausübung unserer biologisch ererbten Responsivität.

Zu den objektspezifischen Präferenzen kommen noch eine Reihe kognitiver Regeln, die im menschlichen Geist offenbar tief verwurzelt sind. Zum Beispiel freuen wir uns, wenn wir Ordnungsstrukturen erkennen; sei es auch nur die triviale Beobachtung, daß eine Geschichte einen Anfang, eine Mitte und einen formal begründeten Schluß hat. Auch sind wir offensichtlich prädisponiert für das Wiedererkennen von Wiederholungsfiguren. Die schlichte Freude darüber, daß sich eine bestimmte Lautfolge einige Male wiederholt (Reim), ein Betonungsmuster (Metrik) oder ein poetisches Bild (Isotopik), möchte bei der Lektüre von Lyrik wohl niemand missen. Die Lust, die uns die Literatur durch ihre formale Gestaltung bereitet, leitet sich also vermutlich von der Funktionslust an unseren angeborenen Erkenntnisfähigkeiten her. Diese lustfördernden formalen Mittel funktionieren gewissermaßen als Verschnürungsmittel für die inhaltlich transportierten Informationen. Spart man an solchen Mitteln zu sehr (zum Beispiel in der experimentellen Kunst), verliert das Kunstwerk an spontaner Attraktivität und findet unter Umständen kein Publikum mehr.

Lust ist allerdings keine Emotion im eigentlichen Sinne, sondern eine Art affektiver Begleitkommentar zu einzelnen transitorischen Emotionen, die wir erleben. Er besteht lediglich in dem unbewußten Impuls, weiterzumachen, weiterzulesen, einfach nicht aufzuhören. Dadurch können paradox erscheinende Mischungen entstehen: Auch ein verlorenes Mensch ärgere dich nicht-Spiel kann Anlaß zu einem weiteren Spiel sein; auch ein entsetzlicher Horrorfilm kann Genuß bereiten; auch unglückliche Liebe kann sich gut anfühlen. Es ist dieser Impuls, weitermachen zu wollen, der auch zu den immer wieder beobachteten 'Sucht'-Phänomenen im Bereich der Medienbenutzung führt: Im 18. Jahrhundert schalt man das 'Lesefieber' und die 'Romanensucht' der jungen Leute, im 20. Jahrhundert die Kino-Versessenheit, die Fernsehsucht, die nicht auszurottende Liebe zum Walkman und neuerdings auch die 'Internet-Sucht' bei der Jugend. Ob zu Recht oder nicht, muß hier nicht interessieren. Aber solche Stellungnahmen können ein Hinweis sein, wie stark die optimale Bedienung unseres Lust-Apparates durch die Medien bisweilen unser Verhalten beeinflußt.

Eng verbunden mit dem Phänomen der Lust ist das der Spannung. Warum will man auch in einem durch und durch trivialen Krimi noch wissen, wer der Mörder war? Und warum kann man einen Hitchcock-Film auch beim zweiten Mal noch mit Spannung verfolgen, obwohl man nicht vergessen hat, wie er ausgeht? Spannung ist nicht, wie man lange glaubte, lediglich eine Frage der Informationsvergabe, sondern hängt von unserem aktiven Mitvollzug einzelner narrativer Einheiten, sogenannter Spannungsbögen ab.

Die Psychologie beobachtet schon länger, daß der Mensch sein Leben in 'Gestalten' wahrnimmt, es nach einzelnen Episoden mit Anfang, Mitte und Ende gliedert. Auch hier ist offenbar eine angeborene kognitive Regel im Spiel. Wir können die chaotische Flut von Ereignissen, wie sie uns entgegenströmt, nicht adäquat verarbeiten und bilden deshalb in unserem Bewußtsein einzelne übersichtliche Einheiten. Mittagessen kochen, essen und abspülen ist so eine Einheit; ein berufliches Projekt planen, entwerfen und durchführen eine andere. Würden wir beide einander immerzu stören lassen oder nur das jeweils Gegenwärtige sehen, kämen wir mit den Anforderungen des Alltags nicht zurecht. In der Kunst nun läßt sich diese kognitive Disposition des Menschen ausbeuten. Uns werden in der Kunst idealtypische 'Gestalten' angeboten, die von allem, was nicht unmittelbar dazugehört, befreit sind. Eine solche Präsentation von Reinformen oder Idealtypen (wie zum Beispiel im modernen Unterhaltungsroman) erzeugt Vergnügen -- d.h. die (Funktions-)Lust an unserer Fähigkeit zur Gestaltwahrnehmung.

Aber man kann auch spielen mit dieser Disposition: Beginnt eine Geschichte mit einer Ungerechtigkeit, einem Mißverständnis oder einer drohenden Gefahr -- das wären Beispiele für 'schlechte', d. h. unabgeschlossene Gestalten --, hat der Rezipient nicht eher wieder Ruhe, als bis die Ungerechtigkeit gerächt oder wiedergutgemacht, das Mißverständnis geklärt und die Gefahr entweder beseitigt oder eingetroffen ist. Auf diese Weise wird Spannung erzeugt. Spannung ist wiederum keine eigene Emotion, sondern lediglich das zugrundeliegende Erregungspotential. Es ermöglicht eine Gliederung unseres emotionalen Erlebens in einzelne Zeitabschnitte: in einzelne Emotions-Episoden bzw. Spannungsbögen.

Enthält man dem Leser oder Zuschauer die 'gute Gestalt' auch am Ende eines solchen Spannungsbogens noch vor, kann der Eindruck von Tragik entstehen. Die Verstörung über ein verweigertes happy ending oder ein offenes Ende kann noch lange über den eigentlichen Kunstgenuß hinaus anhalten. Denn der Spannungsbogen wurde vom Kunstwerk nicht geschlossen und der Leser bzw. Zuschauer bleibt mit einer unaufgelösten Restanspannung zurück.

Eine Methode, Spannung zwar aufzulösen, ohne aber die initiierte Gestaltvorstellung zuende führen zu müssen, ist die Komik. Komik läßt sich zum Beispiel erzeugen durch eine unangemessene, aber als uneigentlich markierte versöhnliche Schlußbewertung; oder durch eine unerwartete Pointe, die die zuvor aufgebauten Erwartungen in einer plötzlichen Überraschung mit einem Mal vergessen macht. Einem einmal begonnenem Thema wird also einfach ein anderer Schluß aufgesetzt als zu erwarten war.

Aber nicht nur narrative Werke, auch zum Beispiel Musik wirkt auf ihre Hörer vor allem über das Prinzip der Spannung: über das ständige Spiel des Weckens von Hör-Erwartungen und ihrer Einlösung bzw. eines Hinauszögerns oder Verweigerns der harmonischen Auflösung. Und selbst komische Effekte können mit musikalischen Mitteln erzeugt werden, etwa durch einen plötzlichen Stil-Wechsel.

Diese Basisprozesse der Kunstrezeption bestimmen auch unser Verhalten vor dem Fernseher und bei der Benutzung des Internets. Leidenschaftliche Zapper schalten immer erst dann um, wenn sie das Gesehene in eine bestimmte Genre-Vorstellung einordnen können. Solange das nicht geschehen ist, sind sie Opfer der Anspannung vor dem Mysteriösen und können nicht umschalten, nicht agieren, bevor sie nicht wissen, ob es sich um einen Film, eine Nachrichtensendung, ein Quiz, eine Talk-Show oder um Werbung (und wenn ja, für was für ein Produkt) handelt. Ein vergleichbares Verhalten zeigen wir beim Surfen im Internet. Die aufgerufene Homepage muß in aller Kürze in ein vorher festgelegtes Bewertungssystem (interessant/nicht interessant, informativ/nicht informativ, seriös/nicht seriös) eingeordnet werden. Wo das nicht auf Anhieb gelingt, tritt Anspannung ein; man bleibt dran. Wenn es gelingt, kommt es zu einem Gefühl der Befriedigung. Aber schon der Prozeß des Suchens in der Hoffnung auf Funde selbst kann eine Quelle der Befriedigung bzw. -- im Sinne des psychologischen Terminus -- der Lust sein. Denn auch bei dieser Ordnungs- und Erkenntnistätigkeit agieren wir eine uns angeborene Fähigkeit aus.

 

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Diese Beispiele vielfältiger emotionaler Involviertheit mit 'unwirklichen' (fiktionalen oder virtuellen) Welten können anschaulich machen, warum unsere emotionale Responsivität nicht fest an die Überzeugung einer wirklichen pragmatischen Relevanz der darin enthaltenen Begebenheiten gebunden ist. Kunstwerke, Spiele und andere Freizeitbeschäftigungen bewegen uns, so wie uns auch Gedanken erregen, uralte Erinnerungen uns noch zornig machen oder Scham einflößen können und schlechte Träume uns oft noch lange nach dem Aufwachen beklemmen. Der Inhalt solcher Erfahrungen mag unwirkliche Szenarien oder von uns losgelöste Situationen betreffen; das in uns erregte Gefühl ist empirisch real.

 

autoreninfo 
Dr. Katja Mellmann Dozentin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität München seit 2000. Studierte 1994-2000 deutsche und französische Sprache und Literatur in München und promovierte dort 2005 mit einer Arbeit über Emotionalisierungsstrategien in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Veröffentlichungen: "E-Motion -- Being Moved by Fiction and Media? Notes on Fictional Worlds, Virtual Contacts, and the Reality of Emotions", in: PsyArt -- An Online Journal for the Psychological Study of the Arts, vol. 6, 2002, http://www.clas.ufl.edu/ipsa/journal/2002_mellmann01.shtml. -- Emotionalisierung - Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Studie zur Literatur der Aufklärungsepoche. Paderborn 2006.
Homepage: http://www.mellmann.org/
E-Mail: katja.mellmann@germanistik.uni-muenchen.de

 

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