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no. 16: driften
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Erwanderte LyrikEzra Pounds 'Walk of Life' |
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von Martina Kolb |
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Das Schaffen des anglo-amerikanischen Dichters und Romanisten Ezra Pound steht unter dem Eindruck eines 'Freiluftprojekts'. Indem Pound in der Provence den Pfaden der mittelalterlichen Troubadoure folgt, nähert er sich nicht nur den Stimmen, die er übersetzt, sondern prägt zugleich seine ureigene Poetik. Das Gehen in der Peripherie erlaubt das Abweichen vom Mainstream -- ein Driften, das sich gegen gradlinige Bewegungen in vorgeschriebenen Bahnen verwahrt. |
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Es ist ein Gemeinplatz, daß Dichter und Denker zum Spazieren neigen. Daß Gehen sowohl Kondition als auch Konsequenz des Dichtens und Denkens ist. Daß Denkbares gehend wegbar und Wegbares denkbar werden kann. Der direkte Kontakt eines wandernden Dichters mit den von ihm physisch begangenen abgelegenen Orten und versteckten Wegen gewinnt an Bedeutung in einer zu geschwinder Öffentlichkeit und normierter Passivität tendierenden Epoche, in der man herzlich wenig alleine geht, statt dessen zentral gefahren wird und sich gehen läßt. Oder man rennt und läuft damit Gefahr, sich seines kulturellen Gewichts zu entledigen, indem man Momente eines direkten Bezugs zur Lebenswelt verhindert. |
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Der Spaziergang als Offenbarung einer der grundlegendsten Energien und Erfahrungen des Menschen droht zur aussterbenden Form der sowohl physischen als auch psychischen Betätigung zu werden. Als Manifestation zumindest momentaner Freiheit und Unabhängigkeit, als Gestus, der das individuell Affirmative des Gehens kontinuierlich einschreibt, bejaht der Spaziergang eine Lebens- und Wanderlust durch einen koordinierten Bewegungsablauf, den Kopf, Herz und Körper in peripatetischer Übereinstimmung simultan und im Freien miteinander teilen. Das Gehen in einer offenen Landschaft verschafft Zugang zu einem interdisziplinärem Potential, das die Topoi des philosophischen, ästhetischen und literarischen Spaziergangs in Erinnerung rufen. Kulturelle Landschaften bieten die Möglichkeit einer Konvergenz von Mensch und Umwelt, von Natur, Kunst und Geschichte, an denen die Disziplinen der Philosophie, der Malerei und der Dichtung mit ihrer jeweils ganz eigenen Idee der Landschaft -- ob als visuelles Genre oder zum Zwecke der Illustration -- einen besonderen Stellenwert einnehmen. |
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1913 definiert der anglo-amerikanische Imagist und Geher Ezra Pound (1885-1972) das poetische Bild folgendermaßen: |
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"Ein 'Bild' ist das, was einen intellektuellen und emotionalen Komplex in einem Augenblick präsentiert. [...] Es ist unverzüglich die Präsentation eines solchen 'Komplexes', die jenen Eindruck plötzlicher Befreiung vermittelt, jenen Eindruck der Freiheit von zeitlichen und räumlichen Begrenzungen; jenen Eindruck plötzlichen Wachstums [...]" [M.K.] |
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Dieser Definition geht Pounds ausgedehnte Wanderung durch die provenzalische Region der mittelalterlichen Troubadoure voraus, auf welcher er sein Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögen schult und gehend die Übersetzung der Erfahrung in einen poetischen Code vorausstrukturiert. |
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Sokrates übt sich und seine Schüler nicht nur in der Praxis des Dialogs, sondern auch in der Praxis des das Gespräch begleitenden Gehens. Dabei ist das philosophische Hinausgehen aus der Stadt insofern bedeutsam, als es die Gedankengänge auf ihre Logik hin überprüft und den Denker temperiert, indem es dem Denken den Rhythmus und die Bedingungen des Gehens auferlegt. Nicht nur Sokrates und Phaidros begehen dialogisierend die Landschaft der platonischen Akademie. Auch die Schüler des Aristoteles praktizieren den philosophischen Diskurs im Lykeion auf peripatetische Art und Weise: Man lernt gehend. Konfuzius, den Pound in seiner isolierenden Pisaner Gefangenschaft 1945 übersetzt, philosophiert wandernd und bahnt Pound gerade durch das Peripatetische und Alleinige einen wenigstens mentalen Ausweg ins Freie -- ein Prozeß, dessen sich der Dichter schließlich (durch daoistische Traditionen des Wegs und seiner Wirkung inspiriert) in seinen Pisan Cantos erinnert, die ein dichterisches Überleben demonstrieren und 1948 mit dem Bollingen Prize ausgezeichnet werden: "Der Wind gehört mit zum Ablauf / Der Regen gehört mit zum Ablauf / [...] / Gras nirgends fehl am Platz." |
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Auch wenn Dichter ihre Energien und Register nicht unbedingt mit denen der Philosophen teilen, spielt diese der Statik des sitzenden Lesers entgegengesetzte Dynamik des Gehers in Ezra Pounds Bildungspoetik des Periplus und der Wanderschaft eine außerordentlich wichtige Rolle. Ganz wie die platonische 'Ideallandschaft' (Curtius), die sich mindestens so sehr auf literarische und pädagogische Methoden bezieht wie auf eine gegebene Natur, ist auch Pounds Provence ein Land, für das er die Stadt hinter sich läßt, auf das er jedoch als engagierter Komparatist und Romanist ebensoviel projiziert, wie er vor Ort mit eigenen Augen sieht. Diese Erfahrung des voreingenommenen Wiedersehens bei erstmaligem Sehen, für das vorausgegangene Lektüren und Übersetzungen verantwortlich sind, ist vor allem in der Reiseliteratur keine Seltenheit. Die Bekanntschaft dieses Phänomens macht beispielsweise auch Goethe auf seiner gewissenhaft vorbereiteten Reise nach Italien. Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß das Gehen und Sehen vor Ort seinerseits wiederum künftiges Lesen und Schreiben lenkt und beeinflußt. |
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Im Sommer des Jahres 1912 geht Ezra Pound in der Weise der wandernden Sänger, in nahzu mittelalterlich handwerklicher Tradition, auf Wanderschaft in Südfrankreich. Im Lande der Troubadoure also, deren Lyrik und Sprache er am Hamilton College und an der Universität von Pennsylvania studierte. Seine poetisch-übersetzerische Arbeit mit Gedichten Peire Vidals, Bertran de Borns und Arnaut Daniels schlägt sich bereits in seinem poetischen und poetologischen Frühwerk nieder. Seinen Studien des Provenzalischen und der Troubadoure folgt nun der dreiwöchige Fußmarsch, der sich über ungefähr fünfhundert Kilometer erstreckt, und bei dem er sich auf das Bild der Natur ebenso wie auf die Natur des poetischen Bildes konzentriert, das wenig später den Grundstock seiner imagistischen Poetik bilden sollte. |
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Der positive Schritt hinein in das Land wird für den Dichter zu einer fruchtbaren Vorbedingung seiner folgenden Poetik, die Pounds bisweilen draufgängerische Tendenzen in einer Beharrlichkeit demonstriert, in der schlicht ein Fuß vor den andern gesetzt wird. Pound lernt sehen und die Dimensionen der von ihm hochgeschätzten Dichtung verstehen. Er realisiert die Bedingungen vor Ort, testet das Gelände, lebt den Wind und das Wetter, atmet die Luft und hört die lebendige Mundart des Landes. Er nähert sich so gut er kann den mittelalterlichen Sängern, ihren Schlössern und Liedern, ihrem Land und ihren Leuten. Er spricht von den Schicksalen und Lebensbedingungen, die die Lyrik der mittelalterlichen Sänger prägte, und er versteht diesen engen Zusammenhang von Wind, Wetter und Gedicht erst im Laufe dieser Landwanderung. |
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Pounds pädagogische Poetik der Wanderschaft bewegt sich in der epischen Tradition Homers und Dantes und zählt unter anderem auf die Struktur der Odyssee und die Architextur der Göttlichen Komödie. Sie ist auch eine Suche nach den fast verlorenen Stimmen einer marginalisierten Sprache und beschreibt gerade in ihrer Deviation eine exzentrische Form der Autodidaktik. Pounds Abweichung gleicht einem Janusgesicht, schaut gleichermaßen in die Zukunft und in die Vergangenheit, denkt modern voraus und traditionell zurück, so daß die Provence weder zu einer Utopie, noch zu einem Arkadien stilisiert wird, sondern als eine gewachsene Landschaft ein Palimpsest vor Ort bildet, das der Dichter sich gehend erliest -- ein Ort, an dem nicht nur die Gedanken, sondern auch die Verse frei werden, das heißt sich beispielsweise beim Bergaufmarsch herausbilden. Bei diesem erkennt und erlebt Pound die Rhythmen und Anstrengungen der Danielschen Sestina wieder, die den charakteristischen Widerstand in sich trägt, in der mittelalterlichen Provence erfunden wurde und Pounds dichterisch übersetzerische Arbeit kontinuierlich stimuliert. |
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Indem Pound also die Metropolen London und Paris sozusagen vorab hinter sich läßt, in denen er sich wenig später maßgebend an der Definition einer modernistischen Poetik beteiligt, und als weltlicher Pilger auf der Suche nach einem Grade von Echtheit postromantisch vor Ort wandert, hebt er sich in krasser Weise vom modernen Flaneur ab, der gewissermaßen ziellos, aber mit geschärfter Wahrnehmung durch die Metropole streift und in der Gegenwart lebt. Ein verwandtes Muster ist im Falle Italiens auszumachen. Obwohl Venedig und Rom wichtige Etappen in Pounds Emigration darstellen, wählt er auch in den 20er Jahren wiederum ein zum Gehen aufforderndes Randgebiet, in dem er sich bis zu seiner Pisaner Gefangenschaft niederläßt: das ligurische Rapallo und den Golf der Poeten. |
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1912 ist Pound auf Spurensuche, verschreibt sich der literarischen Vergangenheit und denkt, über Meilensteine gehend, über diverse Formen einer möglichen Überlieferung nach. Seine Grenzerfahrung in der Anstrengung des Fußmarschs beschreibt einen wesentlichen Impuls des improvisierenden Driftens, der körperlichen und geistigen Abweichung vom Mainstream also, den das Gehen in der Peripherie erlaubt, und der verantwortlich ist für die Variationen und Revisionen von Pounds Cantos, die kontinuierlich die verschiedensten Epochen, Sprachen und Genres zu einem lebenslangen Gedicht verdichten und verschieben. |
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Es sind die Effekte genau dieser Bewegung, die die Grenzen des Subjekts und Objekts definieren und ein scharfes Bild Pounds in der kulturellen Ruinenlandschaft der Provence vermittlen. Sowohl Pounds schrittweise Beobachtungsdisziplinierung und Konzentrationsschulung, als auch die im Gehen stattfindende Perspektivierung des Eigenen und des Fremden führen zu genau der Mobilität des radikalen Geistes, für welche Pound unter anderem bekannt ist. Versteht man den Einsatz des Körpers, mit dem die Landschaft vom Dichter gehend erlesen und lesend ergangen wird, so wird Pounds dichterisches Frischluftprojekt begreiflich: "Zu lesen aus der Luft lebendige Überlieferung." |
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Das Vertrauensverhältnis zwischen Gehen, Denken und Dichten besteht unter anderem in einer geteilten Struktur aus Geben und Nehmen, sowie in einer Nachahmung des jeweiligen Rhythmus. Wer geht, sucht nicht nur Spuren und nimmt sie auf, er hinterläßt sie auch, er gibt sie ab. Der Rhythmus des Gehens, der Rhythmus des Denkens und der Rhythmus des Dichtens sind so in einer Annäherung begriffen, die dem Dichten und Denken nicht abgehen sollte. -- Bereits 1919 kehrt Pound in Begleitung Dorothy Shakespears in die Provence zurück. Auch T.S. Eliot, welchen Pound schließlich in Canto 29 zu einem seiner Arnaut Daniels verdichtet, nimmt teil an dieser zweiten Dichterreise in das Land der Troubadoure. |
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