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Cora Sandels Alberte-Trilogie

Politische Zensur zur Zeit der deutschen Okkupation und ihre Folgen für den Roman

von Nina Marie Evensen

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Erst vor wenigen Jahren hat man entdeckt, daß ein Klassiker der modernen skandinavischen Literatur in Norwegen während der deutschen Besatzungszeit zensiert worden war. Insgesamt vier Seiten mit politischem Inhalt wurden in der Neuauflage dieses Romans im Jahre 1941 klammheimlich weggelassen -- ohne Wissen der Autorin geschweige denn der Leserinnen und Leser.Wie kam es dazu, und wie konnten mehr als fünfzig Jahre vergehen, bis dieser massive Eingriff aufgedeckt wurde?

 

Cora Sandels Alberte-Trilogie

Deutschen Lesern wird Cora Sandel (1880-1974) kaum bekannt sein. In Norwegen ist sie jedoch eine zentrale literarische Persönlichkeit. Sie zählt zu den großen weiblichen Schriftstellerinnen neben Sigrid Undset, Camilla Collett und Amalie Skram, und ihr Werk hat Ähnlichkeiten mit dem Virginia Woolfs und Marcel Prousts. Ihre Bücher gehören zur Pflichtlektüre im Literaturstudium an norwegischen Universitäten, und in der jüngsten norwegischen Literaturgeschichte (Andersen) wird sie als "eine der herausragendsten Prosaisten Norwegens" bezeichnet.

Ihr Hauptwerk ist die Trilogie über Alberte: eine Figur, die sich im Laufe der drei Bände vom jungen Mädchen zur Frau entwickelt. Das erste Buch Alberte og Jakob beschreibt ihr Leben in Nord-Norwegen, wo sie sich nach Wärme, neuen Erfahrungen und Liebe sehnt. Im zweiten Buch Alberte og friheten führt sie ein Bohème-Leben unter Künstlern in Paris. Sie hat mit Schreibversuchen begonnen und sammelt Eindrücke, unter anderem beim Flanieren. Als das dritte Buch Bare Alberte einsetzt, hat sie einen Sohn von sechs Jahren und wohnt gemeinsam mit Freunden in Süd-Frankreich. Am Ende des Buches ist sie so weit, ihre gesammelten Notizen zu einem fertigen Text zusammenzuführen, und verläßt ihr Kind, um Schriftstellerin zu werden.

Aus dieser Trilogie wurden 1941 -- während der deutschen Okkupation in Norwegen -- insgesamt ganze vier Seiten herausgenommen. Die Erstausgaben der Bände waren in den Jahren 1926, 1931 und 1939 erschienen und sollten im Herbst 1941 vom Osloer Verlag Gyldendal (einer der zwei größten Verlage in Norwegen) neu herausgegeben werden. Als Schwierigkeit erwies sich dabei, daß das dritte Buch Passagen enthielt, in denen sehr kritische Aussagen zu Deutschland und den Deutschen gemacht wurden -- eingebettet in Gespräche von Franzosen, die unter anderem die Friedenslösung von Versailles diskutierten. Die betroffenen Personen behaupten in erregter Diskussion, daß die Deutschen unkritisch ihren Führern folgten und keine eigene Meinungen besäßen: "Deutschland, eine Republik? Ein Kunstgriff, nichts anderes. Die Deutschen sind ein Paradevolk, ein Militärvolk, sie sind überheblich, kennen keine Maß. Sie wollen in Reihe marschieren." Sie vermuten auch, daß Deutschland -- sobald es die Chance dazu bekommt -- einen neuen Krieg anfangen wird, (Sandel schrieb dies im Jahre 1938), und daß die Bedingungen von Versailles notwendig waren, um die Kriegsgefahr zu mindern: "Wenn ein Verrückter freikommt, muß man ihn übermannen, an Händen und Füßen fesseln, es gibt keine andere Möglichkeit."

 

Auswirkungen der deutschen Okkupation auf den Osloer Verlag Gyldendal

Es ist kaum verwunderlich, daß solche Äußerungen sich schlecht mit den deutschen Besatzern vereinbaren ließen. Norwegen wurde 1940 von deutschen Truppen besetzt, und die bis 1945 andauernde Okkupation berührte alle Teile der Gesellschaft. Der Verlagsredakteur bei Gyldendal wurde im Sommer 1941 wegen 'aufständischer Arbeit' beim Nationaltheater verhaftet. Anschließend wurde der Verlag provisorisch von vier Mitarbeitern des Hauses geführt, bis 1942 Tore Hamsun -- Sohn von Knut Hamsun und Kollaborateur -- die Leitung übernahm. Als die Alberte-Trilogie im Herbst 1941 neu gedruckt werden sollte, war die Leitung also immer noch norwegisch, aber die Stimmung beim Verlag war sehr gespannt: zum einen, weil der Verlagsdirektor im Gefängnis war, und zum anderen, weil die Besatzungsmacht in diesem Herbst die Regeln verschärfte, die die Herausgabe von Büchern betrafen. Viele Bücher wurden beschlagnahmt, immer mehr Verlage wurden unter deutsche Leitung gesetzt, und Verlagspersonal wurde verhaftet. Entsprechend war bei neuen Publikationen große Vorsicht geboten.

Der Verlag besaß angesichts dieser schwierigen Lage nicht den Mut, einen deutschlandkritischen Text herauszugeben, sondern strich die in seinen Augen provozierendsten Aussagen. Zu dieser Art von Selbstzensur, gewissermaßen im vorauseilenden Gehorsam, kam es in den Kriegsjahren häufiger, dann aber immer in Zusammenarbeit mit dem Autor oder der Autorin. Die Verlagskorrespondenz aus der Zeit zeigt jedoch, daß Cora Sandel an dieser Entscheidung nicht beteiligt wurde -- und es sieht so aus, als ob man sie auch im Nachhinein nicht darüber informierte. Daß im Fall der Alberte-Trilogie ohne Wissen der Autorin gehandelt wurde, liegt vermutlich in der Person der Autorin selbst begründet: sie stand Änderungsvorschlägen in ihren Texten äußerst kritisch gegenüber und war nicht zu Kompromissen bereit -- nicht zuletzt auch weil sie äußerste Mühe darauf verwandte: für das Schreiben dieser Trilogie hatte sie dreizehn Jahre gebraucht. Den Verlegern war bewußt, daß die Trilogie politisch angepaßt werden mußte; sie wußten aber auch, daß die Autorin solche Eingriffe aufgrund ihrer Einstellung nie gestattet hätte. Wenn die Trilogie herauskommen sollte, mußten die Anpassungen deswegen heimlich erfolgen.

 

Neuauflagen und Übersetzungen nach dem Krieg

Das Geheimhalten hatte jedoch erhebliche Konsequenzen: Bis zum Jahre 1997 wußte niemand -- abgesehen von den direkt Beteiligten --, daß es zwei unterschiedliche Versionen dieses Textes gibt. Der Mitarbeiter, der mit Sandel korrespondierte und für die Kriegsausgabe der Trilogie verantwortlich war, verließ den Verlag kurz nach dem Krieg, und es gab keine schriftlichen Vermerke, die auf die Änderungen aufmerksam machten. Bei den darauffolgenden Neuausgaben nahm man die jeweils letzte Ausgabe zur Grundlage, ohne zu ahnen, daß man damit die zensierte Kriegsausgabe wählte und somit weiter zementierte. Alle norwegischen Ausgaben dieses Klassikers seit dem Krieg waren also bisher politisch zensiert.

Interessanterweise ist das aber bei den Übersetzungen nicht immer der Fall: Die Trilogie erschien 1942 auf dänisch, und bei dieser Ausgabe hat man die vollständige Erstausgabe benutzt. Die erste schwedische Ausgabe erschien bereits 1940 und war deswegen natürlich ebenfalls vollständig; die zweite von 1948 genauso, aber im Jahre 1970 erschien plötzlich eine zensierte Version -- diese Übersetzerin hatte also eine spätere norwegische Ausgabe gewählt, wahrscheinlich im Glauben, daß diese dem letzten Willen der Autorin entsprach. Erst 1995, als die Trilogie auf schwedisch neu übersetzt werden sollte, entdeckte die zuständige Übersetzerin Gun-Britt Sundström die Unterschiede zwischen den Ausgaben und schlug Alarm. Der Grund für die vielen Neuübersetzungen liegt in den Gegebenheiten der schwedischen und norwegischen Sprache: Die Rechtschreibung wird häufig modernisiert, und besonders bei Übersetzungen will man den Text gern so modern wie möglich haben, um neue Leser zu gewinnen.

Die deutsche Ausgabe, die 1961-63 herauskam, ist verkürzt, und das ist auch bei der englischen von 1965 der Fall. Die anfangs zitierten politischen Passagen habe ich also selbst übersetzt, denn in der deutschen Ausgabe kommen sie nicht vor.

 

Konsequenzen für die Romaninterpretation

Auf der Ebene des Romans stellt sich die Frage, wie es möglich war, all die Jahren nicht zu bemerken, daß vier Seiten fehlten? Die Antwort darauf ist, daß der Text auch trotz der gekürzten Passagen schlüssig wirkt. Anpassungen wurden an zwei verschiedenen Stellen vorgenommen; am Anfang des dritten Buchs sind zwei ganze Seiten ausgelassen, und in der Mitte desselben Romans sind fünf kürzere Abschnitte von zwischen sechs und zwanzig Sätzen entfernt worden. Nichts ist ergänzt worden; der Text wurde einfach dort zusammengefügt, wo die jeweiligen Abschnitte herausgenommen worden waren. Um die Auslassungen zu entdecken, mußte man den Text entweder sehr gut kennen oder die zwei Versionen miteinander vergleichen, Wort für Wort. Erschwerend kam hinzu, daß die Autorin bei keiner der folgenden Neuausgaben beteiligt war.

Obwohl man die Streichungen beim Lesen nicht unmittelbar bemerkt, so hatte die politische Anpassung doch ästhetisch-literarische Konsequenzen. Die politische Tendenz des Romans wird selbstverständlich dadurch geschwächt, daß die meisten politischen Teile fehlen. Aber es leiden auch andere Aspekte darunter. Die Verkürzung berührt die Darstellung mehrerer Romanfiguren; sie verlieren wesentliche Seiten ihrer Persönlichkeit, entweder weil sie sich nicht mehr politisch äußern, oder weil ihre Aussagen so stark verkürzt sind, daß sie komisch erscheinen. Erschwerend kommt hinzu, daß die politischen Szenen von zentraler Bedeutung für die persönliche Entwicklung Albertes sind. Sie interessiert sich am Anfang des dritten Bandes nicht sehr für Politik, und zu Beginn der Trilogie schon gar nicht, aber im Laufe des letzten Buches engagiert sie sich politisch im Zuge ihrer Entwicklung als Mensch und Frau. In der zensierten Fassung ist dieses politische Aufwachen kaum zu erkennen, während es in der vollständigen eines der Hauptthemen ist. Die politische Anpassung berührt also sowohl Personendarstellung, Konsistenz, Aufbau als auch politische Tendenz des Textes, was auch bedeutet, daß die ursprüngliche Version von höherer literarischer Qualität ist.

Interessant ist auch, daß die meisten Interpretationen auf der gekürzten Version basieren, in der diese Aspekte fehlen. Das hängt teilweise mit der Praxis des Buchhandels in Norwegen zusammen, die sich deutlich von deutschen Gepflogenheiten unterscheidet. Bücher älteren Erscheinungsdatums findet man eigentlich nur in Bibliotheken oder eher zufällig in einer der vielzähligen Antiquariate; die Buchhandlungen vertreiben fast nur Neuerscheinungen, und einmal jährlich findet ein Ausverkauf der Restposten zu sehr günstigen Preisen statt. Anschließend sind sie dann nicht mehr regulär erhältlich, so daß wir deswegen auf die jeweiligen Neuausgaben angewiesen sind.

 

Die editorische Praxis in Norwegen

Daß die Zensur über fünfzig Jahre unentdeckt geblieben ist, liegt in erster Linie an der editorischen Praxis Norwegens. Es gibt keine wissenschaftliche Tradition, zeitgenössische Standardwerke textkritisch zu untersuchen -- unsere Textkritik hat sich bis jetzt vor allem mit altnorwegischen Texten beschäftigt, die Sprachwissenschaftler haben sich auf Sprachkonflikte und Dialektforschung konzentriert, und die Verlage betrachten es nicht als ihre Verantwortung, textkritische Untersuchungen anzustellen. Selbst als die schwedische Übersetzerin den Verlag auf die Unterschiede in der Trilogie aufmerksam machte, reagierte erstmal keiner, worauf sie einen engagierten Artikel in der schwedischen Zeitung Expressen schrieb. Dieser Artikel wurde in norwegischen Zeitungen in einer kleinen Agenturmeldung kurz zusammengefaßt, aber es hat darüber hinaus keinerlei Resonanz darauf gegeben, daß einer der zentralen Texte unserer Literatur in seiner schwedischen Fassung dem Urtext näher kommt und entsprechend "besser auf Schwedisch" zu lesen sei.

In Deutschland gibt es z.B. den Verlag Reclam, der mit seinen Ausgaben die Verantwortung für einen solchen Fall gleich übernehmen würde; in Norwegen hingegen ist es meist der privaten Initiative überlassen. Bei Erscheinen der Zeitungsnotiz am 22. September 1997 arbeitete ich als Literaturstudentin gerade an meiner Magisterarbeit über die Alberte-Trilogie und wollte deswegen natürlich herausfinden, was es mit den Kürzungen genau auf sich hatte. Mein Interesse an einer Untersuchung wurde vom Verlag Gyldendal positiv aufgenommen; sie öffneten alle Archive, um die Sache ans Licht zu bringen, und als die Umstände der Änderungen aufgedeckt waren, baten sie mich, eine Neuausgabe der Trilogie zu redigieren. Diese Ausgabe mußte durch verschiedene Stipendien und Verlagsmittel finanziert werden, weil es keine Institution gab, die diese Arbeit voll finanzieren wollte bzw. konnte. Seit dem letzten Jahr ist nun also die vollständige Version der Alberte-Trilogie zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg endlich wieder erhältlich.

Allmählich etabliert sich auch in Norwegen eine textkritische Tradition. Im Augenblick ist eine Neuausgabe von Henrik Ibsens gesammelten Werken nach deutschen textkritischen Prinzipien im Entstehen, die hoffentlich im Jahre 2007 erscheinen wird. Es könnte noch eine ganze Weile dauern, bis wir uns ein weiteres Projekt von diesem Ausmaß leisten können -- bzw. bis wir ein System haben, das alle unsere Klassiker auffängt. Bei nur vier Millionen Norwegern und noch weniger aktiven Lesern ist der Beginn dieser Arbeiten aber immerhin schon ein Schritt.

 

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