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Die Dantebarke

von Hanna Hilger

Die Dantebarke von Eugène Delacroix
(1822, Paris, Musée du Louvre)

Düstere Nacht. Dante steht mit seinem Meister Vergil in dem engen Nachen, der sich als große Horizontale nach vorne ins Bild schiebt. In einem gewaltigen Schwung steuert der Fährmann Phlegias die beiden Dichter über den Fluß der Verdammten zur Höllenstadt Dis, die in rötlichem Licht links am Horizont auftaucht. Rundherum krümmen sich im bewegten Wasser die Verdammten -- nackte Gestalten, die sich mit verzweifelten Gesichtern am Boot anklammern oder hineinzuklettern versuchen.

Seine Vorliebe, Stoffe aus der Literatur in dramatischen Historienbildern zu verarbeiten, sollte Eugène Delacroix (1798-1863) sein Leben lang beibehalten. So wählte der junge Maler bereits für sein 1822 entstandenes Erstlingswerk Dante und Vergil eine Szene aus der Göttlichen Komödie -- und bezog damit gleich in vielfacher Hinsicht Position. Der Reichtum an Bildern im poetischen Werk Dantes inspirierte zu Anfang des 19. Jahrhunderts eine ganze Generation von Künstlern und Dichtern, sein bewegtes Leben erschien als eine Art Vorläufer des 'modernen' Künstlerdaseins. Delacroix selbst hatte Passagen aus der Göttlichen Komödie übersetzt und ließ sich Dantes Texte beim Malen vorlesen.

Die Szene aus dem achten Gesang der "Hölle" reduziert Delacroix auf einen spannungsvollen Moment, der seine Dramatik weniger einer detailreichen Bilderzählung verdankt als vielmehr dem Einsatz kompositorischer Mittel. Beide Hauptfiguren sind nahezu frontal wiedergegeben und verleihen der Szene trotz der Sturmlandschaft Ausgewogenheit und Ruhe. Blicke und Gesten der Dichter gehen zur Seite und richten sich auf einen für den Betrachter nicht sichtbaren Bezugspunkt außerhalb des Bildes. Eine Unbestimmtheit, die Interpretationsspielräume öffnet und damit zweifelsohne einer über den literarischen Stoff hinausgehenden Sinnbildlichkeit Rechnung trägt, wie sie drei Jahre zuvor Géricault in gewaltiger Dramatik mit seinem Floß der Medusa vorgelegt hatte: Auch die Barke wird zum Symbol von Schicksalhaftigkeit, treibt sprichwörtlich dahin auf der Schwelle von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Unruhige Gewässer und mit schmerzvoller Verzweiflung ringende Geschöpfe verweisen auf schwindende Seinsgewißheiten im revolutionsgeschüttelten Frankreich.

Selbstbewußt präsentiert der junge Künstler mit dem großformatigen Bild sein Können bei diesem ersten Auftritt im Pariser 'Salon', der damals regelmäßig in den Räumen des Louvre stattfindenden Kunstausstellung. Mit Farbkontrasten und Lichteffekten setzt er die Konzeption effektvoll in Szene. Die Körper im Wasser stellen, auch für das damalige Publikum erkennbar, als akademische Bravourstücke Reminiszenzen an prominente kunstgeschichtliche Vorbilder wie Michelangelo oder Rubens dar. Programmatisch zeigen auch der enge Bildausschnitt, die Nahsicht auf die Figuren und deren Häufung im Vordergrund die Nähe zum großen flämischen Vorbild. Rubens stand zudem für die aufgerauhten Farbflächen Pate, die Delacroix vor allem im Vordergrund seines Bildes einsetzt und die den dynamischen Ausdruck steigern. Das Aufnehmen oder -- anders ausgedrückt -- Belassen von skizzenhaften Partien im ausgeführten Bild widersprach klassischer Norm, wie sie an der französischen Akademie vermittelt und von den 'Poussinisten', allen voran Ingres, vehement verfochten wurde. "Das ist kein Gemälde, das ist eine Schlammwüste!" bemängelte denn auch ein zeitgenössischer Kritiker an Delacroix' Dantebarke im Hinblick auf die fehlenden klaren Konturen. Skizze, Farbe und Licht werden von Delacroix jedoch bewußt als suggestive Ausdrucksmittel eingesetzt, die mit dem Bildgegenstand in seiner Wirkung unmittelbar verknüpft sind, indem sie den Eindruck finsterer Tragik steigern. Diese Untrennbarkeit der formalen Mittel vom Sujet sollte in der Folge eine zunehmend größere Rolle im Oeuvre Delacroix' sowie auch in der Geschichte der Kunst des 19. und 20. Jahrhundert überhaupt spielen.

Die Dantebarke kann im WebMuseum online besichtigt werden.

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