parapluie elektronische zeitschrift für kulturen · künste · literaturen -> übersicht | archiv | suche
no. 6: x. generation -> kritik medialer vernunft (3)
 

Zur Kritik der medialen Vernunft -- Teil 3

Aporien medialer Authentizität

von Goedart Palm

zum artikel:

* druckbares
* diskussion

Seit das aufgeklärte Subjekt sich von unhinterfragter Fremdbestimmung durch gesellschaftliche Traditionen zu emanzipieren beansprucht, scheitert es an dem Wunsch, autonom die eigene Identität und Authenzität zu garantieren und diese gleichzeitig mit den Ansprüchen der Gesellschaft zu vermitteln. Eigentlich sollten die Medien in diesem Prozeß zu Agenten der individuellen Authenzität werden und den Zusammenschluß des Individuums mit der Gesellschaft versichern. Doch in einem permanenten Informationszuwachs, dessen Vermittlung sich letztlich jeder Sinnstiftung durch das individuellen Subjekt entzieht, provozieren diese letzten Endes dessen mediatisierte Selbstaufgabe.

 

"Von sich selbst hintergangen zu werden, ist doch das Allerärgste. Wenn nämlich der, der uns täuschen will, keinen Augenblick von unserer Seite weicht, sondern immerfort zugegen ist, wie sollte das nicht schrecklich sein?" konstatierte Platon. Mentalitätshistorisch bildet sich von hier bis zur Entstehung neuzeitlicher Identität ein moralisch immer stärker aufgeladener Anspruch, authentisch zu sein. Dieser Anspruch stößt sich noch nicht an Nietzsches Wissen über den Menschen als das "nicht festgestellte Tier". Authentizität heißt zunächst, das eigene Selbst als originäres In-der-Welt-Sein zu begründen. Seit dem 18.Jahrhundert etwa gilt demgemäß der Unterschied zwischen Kopie und Original als Maßstab des wahren Menschseins. Zwischen 'homme-copie' und 'candeur' werden Gegenüberstellungen von Typen bemüht, um erfolgreiche Konzepte des 'Autodesigns' anzugeben. Der Prozeß der Selbstfindung beschreibt nichts anderes als das rechte Weltverhältnis des Subjekts, das nach Mitteln sucht, die diesen Anspruch befördern. Mit der Wahl der Mittel wird das Projekt der "Selbstfindlinge" (Sloterdijk) zum medienkompetentiellen Anliegen. Aber fördern Medien dieses Programm wirklich oder sind sie seine Widersacher? Exemplarisch erscheint etwa Jean Pauls Klage über den Verderb des Authentischen durch Lektüre. Alle Wege zurück zur Natur sollen auch zum Selbst führen, weg von medialen Überformungen und zivilisatorischen Selbstentfremdungen zu jenem mythischen Ursprung eines unverbildeten Selbst, das seine Heimat wiederfindet.

Hier begegnen wir einer Aporie, die bis heute keine Auflösung erfahren hat, sondern geradezu zum immer wohlfeileren Betriebsstoff von Massenmedien wurde. Denn einer präzeptiven Aufklärung nach haben sich Medien dem Anspruch des Authentischen unterzuordnen, ja mehr, sie sollen zu Agenten des Authentischen, des umfassenden Welt(ge)wissens von Gesellschaften und Einzelnen werden. Giacomo Leopardi meinte paradigmatisch dazu: "Der Tyrannis, die auf völliger Barbarei, auf Aberglauben, auf ganz und tierisches Wesen der Untertanen gegründet ist, nützt die Unwissenheit, und die Einführung der Kultur bringt ihr heillosen, tödlichen Schaden" (Das Gedankenbuch). Also ist Bildung doch Macht -- kulturelle Macht über sich und die Heteronomie der Verhältnisse. Wer liest, weiß entgegen Jean Pauls Verdikt diesem Medien- und Kulturverständnis nach nicht nur mehr, sondern erfährt auch sein Selbst, macht urbar, was zuvor fremdbestimmter Boden war. Fremdreferenz und Selbstreferenz umzirkeln sich schon in vormodernen Kommunikationsmedien unendlich, um dem Subjekt als Träger gesellschaftlichen Fortschritts und individuellem Glücksgaranten auf die Sprünge zu helfen.

Es ist dem mündigen Subjekt nicht länger erlaubt, sich fremdbestimmt auf unhinterfragte Positionen des Kollektivs zurückzuziehen, die eigene Identität nur auf gesellschaftliche Voreinstellungen zu stützen. 'Sapere aude' verkündeten optimistisch die, die allerdings zugleich exklusiv dekretierten, wie diese Vernunft denn auszusehen habe. Auch hier entwickelten Theoriedesigner die Bedingungen der Freiheit, einer Freiheit, die sich dem zu fügen hatte, was als kategorischer Imperativ, herrschaftsfreier Diskurs oder minima moralia gelten sollte.

Der mittelalterliche Mensch war dagegen noch fest in eine hierarchisierte Wertwelt und dieser zugeordnete Wahrheiten eingebunden, die seine Authentizität nicht wert machte, von einer Person zu künden, die in der Heteronomie untergeordnet, aber auch in göttlicher Ordnung eingeordnet war. Einzelpersönlichkeiten waren den mittelalterlichen Physiognomen individualpsychologisch nicht faßbar. Authentizität leitete sich von fremder Auslegungsherrschaft ab. Im Decretum Gratiani (um 1140 n.Chr.) etwa definierte sich Ketzertum als intellektuelle Überheblichkeit, weil der Ketzer seine eigene Meinung der Meinung jener vorzog, die alleine autorisiert waren, sich zu religösen Angelegenheiten authentisch zu äußern. Excommunicatio bedeutete nicht nur sakrale Ächtung, sondern zugleich gesellschaftlichen Kommunikationsausschluß. Das widerspenstige Selbst wurde annulliert, weil es schuldig geworden war, nicht in eine vorgegebene Ordnung einzugehen, sich autonom, d.h. unmittelbar zu gerieren, wo nur Inklusivität das rechte Maß seiner Selbstvermittlung war.

Mit der Renaissance wurde das mediale Spannungsfeld zwischen Subjekt und gesellschaftlicher Selbstreproduktion immer explosiver. Das Subjekt reklamierte Autonomie, erkannte sich selbst gegen gesellschaftliche Ordnungen und verlangte nach Medien, die seine eigensinnige Welterschließungskraft und Selbstbehauptung aufrüsten sollten. Noch wurde die heteronome Dialektik von Medien, ihre Widerspenstigkeit gegen menschliche Instrumentalisierungsgewißheit nicht geahnt, weil Heteronomie nur als gesellschaftlicher Antagonismus markiert wurde. So ging es im Gutenberg-Universum, das sich nach dem Verlust alter Weltordnungen als neuer kognitiver Kosmos anempfahl, zunächst nur um die Multiplikation des Wissens zum Nutzen und Frommen der Selbstbewußtwerdung. Sowohl die kognitive Welt als auch die Welt der äußeren Dinge sollten kolonisierbar sein, eine neue Sicherheits- und Klimazone des Subjekts nach der Demontage heteronomer Ordnungen schaffen. So entsprachen dem Buchdruck invasive Transportmedien -- etwa die Nußschalen der christlichen Seefahrt, die in Gottes weite Welt vordringen sollten, um sie nicht nur christlicher Herrschaft zu unterwerfen, sondern auch einen erweiterten Kosmos des Weltwissens zu begründen und dem fernen Europa zu vermitteln.

Die Entstehung der Identität aus dem Widerstand gegenüber gesellschaftlichen Fremdbestimmungen und der Lust des Selbst an sich selbst, veränderte folgenreich das Wertgefüge von Gesellschaften und Einzelnen: Nur das Kollektiv, das die Selbstbestimmung des Subjekts mit gesellschaftlichen Ansprüchen harmonisiert, ist politisch und sozial legitimierbar. Medienmanufakturen rüsteten dem weltgierigen Selbst zu, was freischwebender Geschichtsinterpretation nach bereits in der nachgeklärten Antike gegolten haben sollte. In den Ikonografien der Renaissance und noch vehementer der des Barocks verbreitete sich die Lust autonomer Protagonisten, die immer notdürftiger mit christlichem Traditionserbe und alten dogmatischen Bildwelten vermittelt werden konnten. Das In-der-Welt-Sein löste sich aus der statuarischen Sicherheit mittelalterlicher Statisten, ließ den Menschen im Kosmos schweben oder vermittelte ihn in Nichträume. Paradigmatisch ist Athanasius Kirchers berühmte Darstellung des vorwitzigen Menschen, der in das Universum vordringt, um sich seiner Geworfenheit und schollengebundenen Bodenhaftung zu entwinden.

Das neuzeitliche Subjekt will sich machtvoll aus fremdbestimmten Vermittlungen lösen und steht plötzlich da, wo es steht und kann angeblich nicht anders. Aber steht es wirklich? Wer nicht wie Luther in historisch glücklichen Konstellationen auf konsensfähigen Diskursen und machtbesetzten Differenzen steht, verflüchtigt sich auf dem Scheiterhaufen, der seine Authentizität von einer logischen Sekunde auf die andere zugleich ratifiziert wie vernichtet. "Und sie bewegt sich doch" wagten wenige zu sagen, wenn der Bannfluch der allmächtigen Kurie drohte. Giordano Bruno wurde noch zu Beginn der Aufklärung 1600 als Ketzer verbrannt, weil er es gewagt hatte, Gott kurzerhand mit dem Weltganzen gleichzusetzen.

 

Von der Aufklärung zur Abklärung

Als Motivationsfaktor und Legitimationsgrund des neuzeitlichen Selbst herrschte die aufklärerische Idee der Freiheit, die den Menschen erst seiner wahren Bestimmung zuführt. Freiheit der Entscheidung und Wissen um die Welt koinzidierten in Bildungsprogrammen humanen Fortschritts zum vollen Menschsein. Damit wuchs zugleich der Selbstzweifel, die Befürchtung, nichtauthentisch zu sein, weil permanent (Selbst)Erfüllungsdefizite und Gewißheitsverluste auftraten, die in spätmodernen Selbstverwirklichungsspiralen ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden haben.

Historisch leitete sich die Aufklärung als Medienzentrum und gigantische Nachrichtenbörse ein, die zwischen Flugblättern, Zeitungen und Enzyklopädien die ganze Welt als Bezugsgröße des Subjekts topografierte. Enzyklopädisten gingen von der tendenziellen Medialisierbarkeit des Wissens für das autonome Subjekt aus, wenngleich etwa die Kosten der berühmten Enzyklopädie Diderots und d'Alemberts nach historischen Angaben das Budget der meisten Zeitgenossen überschritten. Autonom konnte nur der citoyen werden, der auch die kognitiven und ökonomischen Ressourcen besaß, um sich medial aufzurüsten. Solche Widersprüche waren in der euphorischen Geburt der Welt aus dem Geist der Bibliothek indes marginal, wo es doch jetzt und in alle Ewigkeit darum ging, das relevante Weltwissen für Zeitgenossen und spätere Generationen zu vermitteln. Aber nicht nur das Kollektivwissen der Menschheit sollte Stoff der Selbstvermittlung werden. Mit der Entstehung persönlicher Aufzeichnungen in Memoiren, Biografien und Tagebüchern emanzipierte sich zugleich das individuelle Wissen über die Welt als genuines Erkenntnismedium. Persönliche, d.h. authentische Erfahrung war ab jetzt wertvoll genug, das gemeinsame Wissen, die Großerzählungen von Weltereignissen und fleischgewordenen Weltgeistern zu ergänzen -- aber auch zu konterkarieren, weil nur so die eckige Rationalität emotional rund werden könnte. Nicht nur Hegels Weltgeist, sondern auch Werthers sentimentalpsychologische Leiden oder romantische Herzensergießungen kunstliebender Klosterbrüder sollten vermittelt werden. Der Weg zum Wissen über die Welt führte nicht nur in fremde Kontinente und zurück zum Anfang der Menschheitsgeschichte, sondern tief in individuelle Seelenlandschaften. Unsichtbar wurde im romantischen Diskurs gemacht, daß Authentizität durchweg eine ambivalente condition humaine ist, weil die Wege zurück zur Natur, d.h. zum authentischen Ursprung nicht erst in funktional differenzierten Gesellschaften verschlossen bleiben, sondern schon je ein Eiertanz, wenn nicht eine Springprozession zum nicht auffindbaren Ursprung dieses Selbst waren. Der rousseauistische Rekurs führt in die Leere, kehrt die erstaunlichen Emergenzen des Selbstseins um, endet in der Selbstauflösung der Person im adamitischen Urschlamm.

Je mehr Wissen über kollektive und individuelle Welten verfügbar wäre, desto geringer sollten die Gefahren sein, daß das Subjekt in Ketten liegt und sein Recht auf ein authentisches Weltverhältnis verfehlt. In idealistischen Großkonzeptionen der Selbstverwirklichung wurde dabei nicht verkannt, daß das Selbst nicht lediglich eine antinomische Position zu gesellschaftlichen Ansprüchen manifestiert, sondern selbst ein Medium ist, das eben in der Vermittlung zu sich selbst vordringt. Etwa bei Fichte konstituierte sich das 'Ich' in der medialen Spannung von 'Ich' und 'Nichtich', um sich das Fremde einzuverleiben. Das 'Ich' markierte fortan die schwierige Position zwischen Identitätsbildung, Selbstbehauptung und sittlichem Handeln in gesellschaftlicher Vermittlung, die erst ein authentisches Sein möglich machte.

Selbstbestimmung im inneren Diskurs von Ich und Anderen stieß sich zunächst noch nicht an den Kehrtwendungen einer Aufklärung, die neue Unfreiheiten gegen alte eintauschte und das 'Ich' immer welt- und ortloser werden ließ. In der Aufklärung nistete aber bereits früh eine boshafte Dialektik, die etwa den kategorischen Imperativ in der Deutung de Sades zum ungehemmten Machtdiskurs werden ließ. Indes sollte auch dieser 'Kollateralschaden' der Aufklärung den Protagonisten ein authentisches Selbst garantieren, das aber nicht länger mit sittlichen und moralischen Ansprüchen verkoppelt war. Folgenreicher noch als die Dialektik in den beiden Herzkammern der Aufklärung war aber der Weg in Innenwelten, die immer nachhaltiger vom medial wuchernden Weltwissen aufgeladen wurden. In der Vermittlung des Selbst wurden gesellschaftliche Widerstände gegen persönliche Autonomie und Authentizität auf reflexivem Wege wieder eingeführt, nachdem dogmatische Herrschafts- und Machtwege immer unpassierbarer wurden. Ab jetzt konnte das Subjekt die Demarkationslinie zwischen sich und der Gesellschaft nicht mehr nur nach außen auf die Barrikaden seines Freiheitskampfs verlegen, sondern mußte sie in seiner Identität vermitteln. Freilich war das eine ante litteram schon von Augustinus verordnete Kondition, die immer stärker von der Sorge um sich selbst erfüllt wurde. Auch wenn dieses Wissen noch nicht im heutigen Fraktalwissen schlecht vernähten Medien-Patchworks implodierte, das zur formlosen Form unserer Kommunikationsmedien wurde, war mit der medialen Selbstkonstruktion des Subjekts eine schwierige Aufgabe entstanden.

Das Authentische avancierte so zur selbstverständlichen, aber zugleich paradoxalen Großkategorie, die in sämtlichen gesellschaftlichen Bezügen zum Gradmesser neuzeitlicher Identität wurde. Wohl dem, der auf dem schmalen Grad dieser Selbstvermittlung des authentischen Seins wandeln konnte, ohne sich an den scharfen Klippen der Entfremdung zu stoßen. Schnell erwies sich auch nach dem Ausglühen der Scheiterhaufen die pragmatische Hintergehbarkeit eigener Positionen als der mitunter bessere Stolperpfad des Subjekts -- weit unterhalb des von der Vernunft gepflasterten Königswegs. In heteronomen Bezügen kann Authentizität, d.h. der aufrechte Gang des mündigen Subjekts teuer werden. Der individuellen Verfügbarkeit von Medien folgte schon früh die Zensur auf dem Fuße und nicht nur Büchners "hessischer Landbote" wurde zum gejagten Reporter. Metternichs Zensur terrorisierte Europas Intellektuelle, die ihre Authentizität gegen die Staatsräson stemmten -- ein leidensgeprüfter, aber auch selbstverliebter Gestus, von dessen Restposten auch noch zeitgenössische Literaten zehren, obwohl im Westen längst die Apathie gegenüber antagonistischer Wahrheitsfreude zur subjektiven Grundausstattung wurde. Satanische Verse oder Blumen des Bösen sind dem Okzident gefällige Nachttischlektüre geworden.

 

Vom heteronomen Scheiterhaufen zur authentischen Selbstverbrennung

In der späten Neuzeit verschärft sich der Selbstvermittlungskonflikt des Subjekts mit einer Gesellschaft, die auch nach der Demontage von feudaler Fremdherrschaft zu ihrer Reproduktion in erheblichem Maße von der 'Nichtverwirklichung' ihrer Mitglieder, von Authentizitätsdefiziten und kognitiven Scheuklappen abhängig ist. Beim Pyramidenbau war der Entfremdungszusammenhang noch unhinterfragt, weil eine "bikameralistische Psyche" (Jaynes) identitäre Regungen noch nach außen verlegte. Die Helden der Ilias und Odyssee waren noch Protagonisten ohne die Fährnisse von Ich-Funktionen, die widerstrebend zwischen Ich und Über-Ich gepackt werden mußten.

Mit der Kritik stratifizierter Gesellschaften, heteronomer Arbeitswelten und dem Ausbau stabiler Innenwelten schien aber Möglichkeiten zu wachsen, Authentizitätsaktiva auf dem Konto des Individuums zu verbuchen. Dieser Anspruch wurde zu einem fruchtbaren Feld medialer Gestaltung, in dem aber durchgehend fragil blieb, wie Subjekt und Gesellschaft zu beider Nutzen vermittelt werden sollten, ohne ein völlig überlastetes Selbst zurückzulassen.

Marx formte prämedial den Begriff der Entfremdung als Kampfbegriff gegen eine Klassenherrschaft, die authentisches Selbstsein nicht einmal als Reservat der Herrschenden zuließ, sondern als 'conditio (in)humana' vorsozialistischer Gesellschaften beschrieb. Marx' Sozialutopie scheiterte an der Uneinlösbarkeit harmonisierter Beziehungen zwischen Einzelnem und Kollektiv, weil der Weltgeist offensichtlich lustlos war, sich der Geschichtsphilosophie des dialektischen Materialismus zu fügen. Aber der Bruch zwischen authentischem Selbst und gesellschaftlichen Ansprüchen blieb Bearbeitungsgegenstand philosophischer, soziologischer und psychologischer Nachfolgetheorien. Freud führte mit der psychoanalytischen Urbarmachung entfremdeter Seelenlandschaften den Kampf gegen die Selbstentfremdung machtvoll weiter, verlegte den Konflikt aber in die frühe Familiengeschichte, ohne die gesellschaftlichen Einflüsse auf dieses Programm angemessen zu berücksichtigen.

Heute konturiert sich ein globaler Authentizitätsdruck, der die Ambivalenz medialer Aufkärung immer quälender hervortreten läßt und nicht länger auf fragile Theorien der 'Innen-Außen-Verschränkung' setzt: 'Overload information' aufgrund des exponentiellen Wissenszuwachses läßt Selbstverortungen immer fragwürdiger werden. Medial aufbereitete Katastrophen ringen uns Verantwortlichkeiten im globalen Maßstab ab, ohne Hoffnung, sie im individuellen Maßstab des 'homo mensura' noch länger befrieden zu können. Das Selbst wird zum Gegenstand permanenter Informationen, unendlicher Überformungen seiner Konstitution. Tempo und Disparatheit gesellschaftlichen Wissens hindern das Individuum, seinen leichtfertigen Anspruch kognitiver Transzendenz einzulösen. Den moralische Bekenntnisdruck, der sich inzwischen auf alle Weltveranstaltungen vom Hungertod in Afrika über die Demontage des Regenwaldes bis hin zu den Kriegen im Irak und Kosovo ausdehnt, lösen Informationsschübe aus, die das authentische Subjekt nicht mit der Welt kurzschließen, sondern es tief und hoffungslos in das kollektive Weltelend verstricken. Unablässig wird das Subjekt ab jetzt unter medialen Selbstvollzugsdruck gestellt.

Während die Authentizität des selbstentfesselten Subjekts in der Nachstellung der Herrschenden nicht mehr allzu riskant ist, provozieren heute Medien das Selbst bis zur Selbstaufgabe. Authentizität schafft unüberwindbare Hindernisse für die Vermittlungsnotwendigkeiten der Existenz, innere Gewißheiten und Invasionen des Äußeren auf Menschenmaß zuzuschneiden. Die selbstverordnete Ethik des Weltgewissens im Wissen um Katastrophen bleibt zwar noch die spätmodernen Last des vermittelten Subjekts, aber längst läuft es wie der Hase hinter einer stachligen Welt her. Selbstverbrennungen anläßlich von Vietnamkrieg, imperialistischem Terror und atomarer Verseuchung sind ein hoher Preis für die Selbstbeharrung auf eigener Authentizität. Solche Widerstandsposen einer medial ausgelösten "Fernethik" (Arnold Gehlen) beruhen auf dem historisch entwickelten Kategorienfehler, das weltangewiesene Selbst mit der Welt selbst zu verwechseln.

Diese Identität von Selbst und Welt in der medialen Weltvermessung transformiert das klassische Konzept der Selbstsucher weg von der Selbstfindung hin zu melioristischen Selbstentwürfen. "Erkenne dich selbst" heißt plötzlich in der double-bind-Programmatik geltungssüchtiger Medien, ein anderes, nämlich besseres Selbst zu werden: Ein Subjekt, das den moralischen Anforderungen einer komplexen Welt nicht nur in der Sorge um sich gewachsen ist, sondern sich unendlich transzendiert. Individualpsychologisch wird das Bewußtsein in seinen stammesgeschichtlich spät erworbenen Ich-Funktionen durch Medien entlastet und strapaziert. Individualität als Weltferne oder -flucht ist ein Zustand, den Verbreitungsmedien nicht zulassen, weil alle Ereignisse dem Selbst vermittelt werden. Zum Dilemma wird aber, daß diese Medien keine Identitätsfunktion besitzen, sondern Wahrheiten wie Lügen, Alltag und Katastrophen, Ordnung oder Chaos gleichermaßen abbilden, ohne sie im Sinnhorizont des Individuums vorzuvermitteln. Medien widerstreiten der Überformung, der Integration, der Einheit menschlicher Sinnstiftung. Diese Aufgabe überlassen sie außermedialen Semantiken, die aber in dem Maße hinfällig werden, in dem Medien ihre ungebrochene Absorptionskraft gegenüber beliebigen Standpunkten immer neu einlösen. Es wäre danach naiv zu glauben, daß diese außermedialen Wertordnungen den nötigen Beharrungsdruck auf der je eigenen Kultur besitzen, weil Medien längst mit der Identität als Auslaufmodell kultureller Selbstsicherheit spielen, ohne zu einer geschlossenen Identität des Weltgewissens aufzuschließen. Jeder Authentizitätsanspruch kann in der Selbstreproduktion der Medien zugelassen werden und das muß jede Authentizität irritieren. Mit anderen Worten: Der Kampf der Kulturen findet nur solange statt, solange Medien ihren imperialen Durchmarsch noch nicht abgeschlossen haben. Gerade die Hartnäckigkeit kultureller Auseinandersetzungen zwischen Palästina, Kurdistan, Irak oder Kosovo ist ein Zeichen der Antiquierung klassischer Identitäten, die sich vor ihrer endgültigen Demontage in den Medien noch einmal aufbäumen, um ein letztes Mal gehört zu werden. Längst belegt die wachsende Inauthentizität politischer Willensbildungen, daß die Herrschaft der Medien die Stellung von Akteuren verstärkt, die nicht länger auf Authentizität angewiesen sind. Adornos Schrecken vor Menschen, die nicht 'Ich' sagen dürften, wird zur neuen conditio humana, nicht mehr 'Ich' sagen zu müssen, weil -- paradox genug -- anders keine Selbstbehauptung mehr möglich ist.

Fortsetzung folgt ...

[ Teil 1 | Teil 2 | Teil 3 | Teil 4 | Teil 5 | Teil 6 | Teil 7 ]

 

Für Ergänzungen, Meinungen, Widersprüche gibt es ein Diskussions-Forum zum Artikel.

copyright © 1997-2012 parapluie & die autorinnen und autoren. alle rechte vorbehalten.
issn 1439-1163, impressum. url: http://parapluie.de/archiv/generation/vernunft/