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no. 6: x. generation -> x-linguisch
 

Ich spreche x-linguisch

Aus dem leben eines 'gewöhnlichen' wanderers und grenzgängers mehrerer sprachen und kulturen

von Halil Can

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* druckbares
* diskussion

Wenn es eines Beweises bedürfte, daß wir nicht das Produkt allein einer Kultur sind, sondern multiple Identitäten sich in polyphoner Vielfalt in uns mischen, man bräuchte nur einmal auf unsere Sprachen zu hören. Hier verbindet sich unentwegt alles mit allem, finden die Kulturen zu neuen Worten zusammen und entfalten im Klang der Kauderzancas ihre sprühende Kreativität. Mit besten Grüsslerim aus Bürülün-Kroyzberg.

 

"Nein, ich verleugne es nicht", waren seine ersten worte, die mich sofort hellhörig gemacht hatten. "Im gegenteil, ich bekenne mich zu meiner sprache, besser gesagt zu meinen sprachen und damit zu mir selbst." Ich war irritiert und fassungslos zugleich. Was meinte er bloß mit sich "bekennen"? Während ich in mich hineingekehrt nach einer geeigneten antwort ausschau hielt, merkte ich plötzlich, wie er seine gedanken puzzel für puzzel sammelte und in den tiefen gefilden seiner gefühlswelt aufging. Sodann legte die karawane los und die wanderschaft in die sprachen- und kulturwelt eines grenzgängers begann.

 

"Die landschaft meiner sprachenwelt ist wild, lebensfroh und freiheitsliebend"

"Warum sollte ich auch meine zunge in eine von anderer hand konstruierte fassung oder gar zelle hineinzwingen lassen. Die landschaft meiner eigenen sprachenwelt ist zu wild, lebensfroh und freiheitsliebend, als daß ich sie, als daß ich mich der faden, zwanghaften und bornierten sprachlosigkeit der reinen, destilierten und sterilen einsprachigkeit aufopfern würde."

Denn alle meine sprachen sind farbig, so wie ich es auch bin. Im korsett von allein einer sprache würde ich mein selbst verlieren und praktisch aufhören zu sprechen, zu träumen, zu phantasieren und gedichte über liebe, trauer und hoffnung zu schreiben.

Wenn ich in gedanken mit mir spreche, ist es nicht eine sprache, in der ich spreche. Es sind die sprachen mit denen ich aufgewachsen bin, die sprachen, die im verlauf meines lebensweges auch mein geworden sind und mit der zeit einen mir eigenen schliff, eine besondere form und farbe bekommen haben. So wie meine gedanken mit sich sprechen, so hören auch meine ohren. Die welt ist nicht einwellig und eintönig in meinen ohren. Sie können mehr als nur die klangwelt einer sprachenlandschaft erfassen. So beweglich die eigene muttersprache auch sein mag, ihre schönheit und ihren reichtum kann man erst dann erkennen und erleben, wenn man ihre konstruierten grenzen zu anderen sprachen sprengt und einen zugang zu ihnen gewinnt, um so überhaupt einen klaren blick zur eigenen sprache bekommen zu können. Manchmal hat man glück, wie bei mir, und man lernt schon von kleinauf mehrere sprachen (gleichzeitig) oder man eignet sie sich später an.

Jede sprache ist wie ein instrument oder wie eine menschliche stimme, es klingt immer anders und ist einzigartig. Hat man gelernt verschiedene sprachen zu hören und zu verstehen, dann kann man auch in ihre fast mystische atmosphäre der orchestermusik oder des chorgesangs eintauchen, wie man sie häufig auf basaren, in bahnhöfen oder großen festlichkeiten erleben kann. Setzt man sich beispielsweise in Berlin in die u-bahn und fährt die linie 1 runter nach Kreuzberg, öffnet sich einem eine welt von menschen mit den verschiedensten sprachen. Immer ist es für mich dabei ein genuß, an den gesprächen in den für mich vertrauten sprachen teilzunehmen, indem ich den menschen zuhöre und sekundenschnell von einer sprache auf die andere springe. Dabei habe ich oft das gefühl, als ob ich nur das gespräch wechsele, aber nicht die sprache. Das heißt, daß ich aus mehreren sprachen im kopf nur eine sprache mache, indem ich sie sozusagen mische.

 

"Du nix sprechen kauderwelsch, kauderzanca oder code switching"

Die gemischtsprachigkeit in meinem denken und hören spiegelt sich unbewußt auch in meiner gesprochenen sprache wieder. Im deutschen gibt es hierfür die bezeichnung 'kauderwelsch'. Sie ist jedoch kein passendes wort für dieses sprachphänomen. Deshalb findet hierfür das amerikanische wort 'code switching' bessere anwendung. Funktionieren tut sie jedoch meist nur unter gleichsprachigen code switchern. In meinem gleichsprachigen verwandschafts- und freundeskreis ist es beispielsweise völlig normal und selbstverständlich, in den sprachen türkisch und deutsch zu code switchen. Es ist weniger eine konstruktion als eine eigene für sich selbst stehende sprache, die ihre quelle aus der türkischen und der deutschen sprache speist. In unseren reihen hat sich hierfür in Berlin deshalb die bezeichnung 'kauderzanca' etabliert, ein mischwort aus dem wort 'kauderwelsch' und der dazugehörigen türkischsprachigen bezeichnung 'tarzanca'. Die kreation dieses kunstwortes findet ihren ursprung in der vor 10 Jahren in Berlin gegründeten interkulturellen zeitschrift kauderzanca.

-- "Lan moruk, wie gehtsler nasil ?" (Ey alter, wie gehts denn so?)
-- "Ey alta, kommsana !" (Ey alter, komm doch mal !)
-- "Idiot topu schießen etmiyoki." (Der idiot schießt ja nicht den ball her.)

wären einige beispiele für eine vermischung von (zwei) sprachen durch code switching. Hierbei werden in den fließenden türkischen satz nicht nur wörter aus dem deutschen eingepflanzt, sondern sie werden in der grammatik, dem satzbau sowie der vokalharmonie der türkischen sprache angepaßt. Das ergebnis dabei sind neue wortschöpfungen, ähnlich wie bei chemischen reaktionen, wo durch den zusammenprall von verschiedenen atomen moleküle mit völlig neuen eigenschaften entstehen.

Doch noch charakteristischer für das code switching ist, wie der name schon sagt, der wechsel bzw. sprung zwischen den sprachen. Im fiktiven dialog sieht es dann so aus:

Deniz: Ne diyorsun, gehen wir heute schwimmen? (Was meinst du, ...?)
Ceylan: Weiß nicht, canim hic istemiyor. (..., eigentlich habe ich überhaupt keine lust.)
Deniz: O zaman, schlag was vor. (Dann ...)
Ceylan: Wir könnten ja zum beispiel ins kino gehen.
Deniz: O.k., anlastik, aber in welchen film? (O.k., einverstanden, ...)
Ceylan: Titanic nasil? (Wie wärs mit dem film Titanic?)
Deniz: Sahane, daran hab' ich auch gerad' gedacht. (Super, ...)
Ceylan: Dann is' ja die sache geritzt. Birde biletleri aldimi ... (... Bis auf die tickets.)

 

(Meine) sprachen kennen keine grenzen

Gesprochen wird bei uns zu hause nicht nur in Türkisch und Deutsch. Da meine eigentliche muttersprache Zaza ist -- eine indoeuropäische sprache, die vom ursprung her im ostmittelanatolischen raum von einer minderheit gesprochen wird. Zwar lassen zugegebenerweise meine kenntnisse in dieser sprache zu wünschen übrig -- besonders wenn es um das sprechen geht -- aber ich bin vor allem vom emotional-melodischen klang dieser sprache stark geprägt. Ich habe sie verinnerlicht, zumal damit viele kindheitserinnerungen verbunden sind.

Meine oma Hayal (zu deutsch: traum), die ich sehr mochte und zu der ich mich sehr nah fühlte, sprach fast ausschließlich in Zaza. Kam es mal ausnahmsweise doch dazu, daß sie in die gewässer des Türkischen eintauchte, so verhaspelte sie sich sofort in ein höchst kreatives kauderwelsch-duett aus Zaza und Türkisch. In diesen momenten konnten wir kinder uns vor lachen kaum mehr im zaum halten, bis unsere tränen ihren freien lauf nahmen und aus unseren augen runterkullerten. In ihrer selbstironie nicht zu übertreffen, gesellte sie sich nachdem der erste ärger verpufft war zu uns und lachte mit uns mit.

Trotz der zweisprachigen 'sprachlosigkeit' zwischen mir und meiner oma, die hier nur als beispiel für die großelterngeneration meiner familie steht, konnten wir uns dennoch recht gut verstehen. Sie sprach in Zaza, ich antwortete in Türkisch und umgekehrt.

Faszinierend war die sprache meiner eltern bzw. elterngeneration, denn sie ähnelte in ihrer vielfältigkeit meiner eigenen bzw. der meiner generation. Mit meiner oma sprachen sie immer in ihrer muttersprache Zaza. Unter sich Zaza oder Türkisch oder das code-switching von beiden. Mit uns, den kindern, wurde nur Türkisch gesprochen. Zaza bekamen wir leider nicht beigebracht, denn unsere eltern waren aufgrund der staatlich-ideologischen türkisierungs- und assimilierungspolitik gegenüber minderheiten erheblich eingeschüchtert und immer von angst begleitet gewesen. Diese politik spiegelte sich folglich auch in unserer sprachlichen erziehung durch unsere eltern wieder.

Gerne hätte ich die Zaza-sprache richtig gelernt bekommen. Es wäre auf jeden fall eine bereicherung für mich gewesen. Immer noch verspüre ich einen ungestillten durst danach. Als meine oma noch lebte, war es für mich immer ein genuß dabei zuzuhören, wie die älteren zwischen den sprachen hin und her segelten. Verstehen tat ich zwar von dem gesprochenen nur einen teil, aber ich fühlte mich dazugehörig und wohl in dieser üppigen sprachenwelt. Leider ist von diesen zeiten wenig übrig geblieben. Die gründe sind offensichtlich: Die traditionellen großfamilienstrukturen sind zusammengebrochen, die großelterngeneration lebt nicht mehr und die migration nach Deutschland hat zu einem grundlegenden sprachlich-kulturellen wandel beigetragen.

 

Von der gesprochenen- zur schriftsprache

Lesen und schreiben konnte ich schon bevor ich mit der schule angefangen hatte. Mein vater und meine schwester hatten es mir frühzeitig beigebracht. Es war das türkische alphabet. Wie meine erste gesproche sprache Türkisch war, so war sie auch meine erste schriftsprache. Zwar war auch das türkische alphabet dem lateinischen entlehnt und es unterschied sich nur in einigen buchstaben vom deutschen alphabet, aber sie war leichter zu erlernen, gerade wenn es ums lesen und schreiben ging.

In der schule machte mir demgegenüber die deutsche rechtschreibung viel kopfzerbrechen, weil sie nicht so logisch aufgebaut war, wie die türkische. Ähnlich verhielt es sich mit der grammatik. Und ausnahmen bestätigten immer die regel. Was in einem fall logisch war, entpuppte sich im anderen fall als unlogisch.

Auf die deutsche sprache war deshalb selten verlaß. Also, blieb mir nichts anderes übrig, als mich erst einmal der macht des diffusen sprachwirrwarrs zu beugen. Es kostete mich anfangs jahre bis ich durch stures pauken und allmähliches gewöhnen mich mit der deutschen schriftsprache anfreunden konnte. Es war harte arbeit, dennoch hat es sich im endeffekt gelohnt, wenn es auch im rückblick vergeutete zeit war. Denn eine logisch aufgebaute und vereinfachte deutsche rechtschreibung und grammatik hätte die eher vergeudete energie und zeit für mehr kreatives lernen freisetzen können.

 

Zwischen gedanken- und gefühlswelt

In der mittelstufe war mein deutsch wesentlich ausgeprägter als mein türkisch, das sich eher auf die alltagssprache beschränkte. So versuchte ich daraufhin durch meine intensive beschäftigung mit der türkischen sprache und meine häufigen türkeiaufenthalte das entstandene ungleichgewicht wettzumachen. Was mir auch gelang.

Irgendwann fühlte ich mich dann sowohl im schreiben als auch im sprechen in beiden sprachen zu hause. Nur merkte ich sehr bald, wenn ich beispielsweise mit zum dolmetschen gehen mußte oder in einer der beiden sprachen etwas

schreiben wollte, daß ich mich nicht so ausdrücken konnte, wie ich dachte oder wie ich mich fühlte. Mir wurde klar, daß ich zwar durch lernen eine annäherung der beiden sprachen erreicht hatte, um so mich fließend in beiden sprachen verständigen zu können. Doch blieben barrieren der sprachlichen selbstartikulation bestehen, die eben in diesem fall nicht in mir, sondern in der grundlegenden unterschiedlichkeit der herkunft, geschichte, struktur und dem aufbau beider sprachen begründet lagen.

So fällt es mir heute leichter, komplizierte sachverhalte und denkprozesse in der deutschen sprachen leichter und besser zu artikulieren. Demgegenüber ermöglicht mir die türkische sprache durch ihre melodik, ihren rhythmus und ihren reichtum an bildhaften verben und adjektiven, gefühle besser und leichter zur sprache zu bringen.

 

Wenn das krankenhaus zur ersten sprachschule wird

Mein sprachliches aha-erlebnis im Deutschen erfuhr ich erstmals in einem kinderkrankenhaus. Ich muß wohl vier oder fünf jahre alt gewesen sein, da fiel es mir wie schuppen von den augen. Es war wie ein dammbruch, der über mich kam. Von einem zum anderen augenblick konnte ich im nu einen vernünftigen satz in deutscher sprache zustandebringen. Ich saß im krankenbett und rief plötzlich nach der schwester. Ab dem moment fühlte ich, daß ich um eine sprache reicher geworden war. Deutsch war nun auch meine sprache, es war auch zu einem teil von mir zusammengewachsen. Glücklich verwirrt und verzaubert fühlte ich, wie ich neu geboren wurde.

Meiner kindheitsbronchitis hatte ich es schließlich zu verdanken, schon vor meiner schulzeit das räumliche ghetto meiner verwandschaft zu sprengen und somit das krankenhaus zu meiner ersten (sprach-)schule zu machen.

Hier begegnete ich erstmals und dann immer von neuem unter extremsten bedingungen kulturellen und sprachlichen grenzen. Schritt für schritt überschritt und überschnitt ich diese und setzte somit die ersten weichen für mein jetziges grenzgängertum. So wärte es im krankenhaus nicht lange, als man mich schließlich als mittler zwischen den sprachen Deutsch und Türkisch einsetzte. Eine dolmetscher-odyssee nahm ab hier ihren lauf, zunächst in der familie, der verwandschaft und bekanntschaft, dann auch im schulischen, sozialen und beruflichen leben.

 

Auf zu neuen sprachlichen ufern

Ab der fünften klasse eröffnete sich für mich eine neue sprachenwelt: Englisch wurde zu meinem unterrichtsfach. Zu der zeit waren weder mein Türkisch noch mein Deutsch, ganz zu schweigen vom Zaza, voll ausgereift. Dennoch stellte sich sehr bald heraus, daß das Englische im wortschatz und dem satzbau dem Deutschen und in der rechtschreibung dem Türkischen ähnelte. Von daher lebte ich mich sehr schnell in die neue sprache ein und gewann auch mehr und mehr spaß, sie zu lernen. Leider fehlt mir bis heute die ausreichende sprachpraxis. Dennoch, auch sie ist mein geworden.

Französisch wollte ich eigentlich nie lernen. Das war mir doch schon etwas viel des guten, nach so vielen sprachen. Doch mit der einschulung in die gesamtschule mußte ich es als wahlpflichtfach nehmen. Zu meiner überraschung und freude hörte ich sehr bald im Französischen klänge und wörter, die mir gar nicht so fremd waren. Es entwickelte sich im laufe der zeit eine sympathische symbiose zwischen mir und meiner neuen sprache. Erst viel später konnte ich mir unsere tiefe verbundenheiten erklären. Die Zaza-sprache wies in der melodie und der grammatik große nähe zum Französischen auf. Ähliches galt für die türkische sprache, die seit der europäisierung einen teil ihres wortschatzes auch aus dem französischen speist. Für mich eröffnete sich mit dieser sprache ein neuer ozean, in den ich nunmehr eintauchen konnte.

Mit jeder neuen sprache lernte ich von neuem andere menschen, andere länder, andere kulturen und andere lebensformen kennen. Vor mir breitete sich jedesmal von neuem ein unermeßlicher reichtum von grenzenloser vielfalt und der in ihr verborgenen schönheit aus. Ich hatte gefunden, was ich suchte. Es war immer in mir. "Bruder, sieh dieses geheimnis nunmehr auch als dein an. Ich habe es dir anvertraut, als ein zeichen unserer beginnenden freundschaft. Behüte es so wie die kostbaren augen eines kindes. Die saat, die du streuen wirst, soll frieden, glück und liebe in dich und in die seelen der menschen bringen."

In diesem moment stand der mir bis vor kurzem noch fremd erscheinende hagere mann -- in dessen gesicht die falten seine lebensgeschichte gezeichnet hatten -- auf. "Verzeih mein bruder, ab hier endet unser weg, aber wir werden uns wiedersehen, ganz bestimmt" und stieg im nächsten atemzug aus der u-bahn aus. Ich konnte noch seine letzten worte hören: "Bruder, wir werden uns wiedersehen. Denn das leben ist wie der fluß, er geht und kommt wieder."

Bürülün, 25.02.1998

(Dieser Text erschien erstmals in dem Band: Maria del Mar, Castro Varela u.a. (Hg.): Suchbewegungen -- Interkulturelle Beratung und Therapie. dgvt-Verlag. Tübingen 1998. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.)

 

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