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no. 9: kommunikation
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Vom Sprechen, Schweigen und SchreibenZwei Frauenfiguren bei Kafka und Goethe als Allegorien des Romans |
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von Bettina Krüger |
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Ureigenstes Medium eines jeden Schriftstellers ist die Sprache. Um so befremdlicher also, wenn zwei Autoren verschiedener Epochen jeweils eine Frauengestalt zum im wahrsten Sinne des Wortes verschwiegenen Zentrum ihrer Romane machen. |
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Amalia -- Schweigen als Verweigerung | ||||
Über Kafkas Frauenfiguren ist viel geschrieben und gerätselt worden; Maurice Blanchot geht so weit zu behaupten, "[der] Process und [...] [das] Schloss" seien "beide gleichermaßen angesichts der Provokation der weiblichen Fremdheit geschriebene Werke".[Anm. 1] In der Tat reicht das Spektrum der Kafkaschen Frauenfiguren von promiskuitiven "Sumpfgeschöpfen" wie Leni im Proceß über mütterliche Wirtinnen bis zu widerspenstigen Charakteren wie Fräulein Bürstner (ebenfalls im Proceß -- schon ihr Name spricht Bände!) oder den beiden Barnabas-Schwestern im Schloß, Olga und Amalia. Allen gemeinsam ist, daß von ihnen das Schicksal des männlichen Protagonisten abzuhängen scheint; zumindest geraten sie (fast) alle in ein Wechselspiel von Benutzen und Benutzt-Werden. Die einzige, die sich dem konsequent entzieht und völlig jenseits der beschriebenen Gesellschaft steht, ist die Figur der Amalia im Schloß. Sie wird damit zur rätselhaftesten unter ihnen allen. |
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Der Protagonist des Schlosses, K., trifft in einer Winternacht in einem Gasthof im Dorf ein. Er stellt sich als Landvermesser vor und möchte vom Schloßherrn, der angeblich nach ihm hat schicken lassen, seine Dienstanweisung und -ausrüstung in Empfang nehmen. Wie sich jedoch im Verlauf der Handlung zeigt, ist es unmöglich, sich dem Schloß in irgendeiner Weise zu nähern. K. versucht dies dennoch auf unterschiedlichsten Wegen, vor allem aber, indem er sich Frauen zunutze macht. Einige haben in seinen Augen dadurch einen möglichen Zugang zur Macht, daß sie Geliebte von Schloßbeamten waren. Er verwechselt allerdings ihr Ansehen im Dorf mit realer Macht im Sinne eines privilegierten Zugangs zum Schloß... |
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K. hat eine einzige wirkliche Gelegenheit, seinen Wunsch nach Anerkennung als Landvermesser einem Schloßbeamten gegenüber kundzutun -- und diese Gelegenheit verschläft er, da ihn, wie alle Dorfbewohner, die sich dem Schloß nähern, eine ungeheure Müdigkeit ergreift. Während K. selig schlummert, hält der Schloßbeamte einen Monolog, und dem Leser wird deutlich, daß die Möglichkeit eines Dorfbewohners, sein Anliegen dem Schloß gegenüber vorzubringen und erhört zu werden, eine "unmögliche Möglichkeit" ist. Der monologisierende Schloßbeamte nennt dies "vorzüglich und trostlos" zugleich -- vorzüglich, weil er als Beamter nicht die Vernichtung der Schloßordnung wünschen kann, die ihm seinen Unterhalt sichert. Trostlos, weil er als Mensch der bedrückenden Verdinglichung sowohl der Dorfbewohner wie auch der Schloßbeamten nicht entkommen kann. K. bleibt also in seinem Kampf gefangen, der in ein Dilemma von Freiheit und Bindung mündet. Er möchte einerseits in seiner Autonomie als Landvermesser, andererseits aber auch als Mitglied der Dorfgesellschaft anerkannt werden. Bei seinem Vorhaben unterliegt er schließlich den Mechanismen, die er zu bekämpfen vorgibt -- er benutzt die Menschen, die ihm begegnen, als Instrumente, um zum Schloß zu gelangen und verdinglicht sie darin genauso, wie es die Schloßbeamten mit den Dorfbewohnern tun. |
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Die einzige Ausnahme, die sich den oben beschriebenen Mechanismen der Schloß- / Dorfgesellschaft entzieht, ist die Figur der Amalia. Amalia wurde einst auf unflätige Weise von einem Schloßbeamten aufgefordert, seine Geliebte zu werden, ein Ansinnen, dem sie sich entrüstet entzog. Von da an nimmt das Schicksal der Familie seinen Lauf: Sie wird zunächst wirtschaftlich boykottiert, dann völlig geächtet, und Amalia verfällt in beharrliches Schweigen. Sie weicht zurück in die soziale Isolation und folgt damit letztlich der Strategie des Schlosses selbst, sich dem Zugriff der Dorfgemeinschaft stets zu entziehen. Amalias Vater erfährt nach zahlreichen, ihn seine Gesundheit kostenden Bemühungen, es läge im Schloß gar keine Klage gegen Amalia vor, also gäbe es auch nichts zu verzeihen. Offensichtlich erfolgt die Bestrafung allein durch die Dorfgemeinschaft, die wiederum glaubt, "alles ginge vom Schloß aus". Mehr noch: Wenn die Familie sich einfach über die Ächtung hinwegsetzte, wäre das das Signal für die Dorfgemeinschaft, daß das Schloß ihr vergeben hat. Dadurch aber, daß die Familie permanent im Bewußtsein ihres Vergehens agiert, zeigt sie dem Dorf, daß eine Schuld vorliegen muß. Wie in Kafkas Proceß führen also die Angeklagten letztlich selbst ihre Strafe aus. |
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Weshalb nun ist Amalias Reaktion auf diesen Vorgang ausgerechnet ein hartnäckiges Schweigen? Wie wir bereits gesehen haben, werden alle Geschehnisse im Dorf und alles Handeln der Beamten als Zeichen der angeblichen Machtfülle des Schlosses interpretiert, ohne daß sich diese Macht je spürbar zeigte. Mit Hilfe von Barthes' Mythosdefinition kann man eine solche Gesellschaft als eine "mythisch verfaßte" verstehen: Alles Handeln und Nichthandeln der Schloßbehörden auf der ersten, der Tatsachenebene, wird auf der zweiten "Mythosebene" als Ausdruck der Macht des Schlosses interpretiert. Alle Zeichen verweisen auf denselben Mythos und dienen damit der Machterhaltung, d.h. der Stabilisierung des etablierten Systems. Widerstand in K.s Sinne ist in einem solchen System zwecklos, da alle Vorstöße bei den Schloßbehörden Reaktionen bzw. vielmehr Nicht-Reaktionen hervorrufen, die sowohl von den Dorfbewohnern wie auch von ihm gleichermaßen als Bestätigung der Machtfülle des Schlosses interpretiert werden. Selbst K.s. Widerstand stabilisiert diese Gesellschaftsordnung nur. Amalia durchschaut diesen Mechanismus offensichtlich und antwortet dem Schloß nicht mit einem Kampf, sondern mit seinen eigenen Mitteln: Sie ignoriert es, weicht zurück, führt ihr Leben in einem minimalen sozialen Umfeld (ihrer Familie) und damit in einem 'machtfreien' Raum. Selbst der Sprache der Schloßgesellschaft, die in einer verdinglichten Ordnung per definitionem nichts außerhalb dieser Ordnung wiedergeben kann,[Anm. 2] bedient sie sich kaum noch. Denn da es keine andere Sprache als die der herrschenden Gesellschaftsordnung gibt, kann selbst Kritik an ihr nur in ihrer Sprache formuliert werden, was bedeutet, in ihren Diskursen und Denkmustern gefangen zu bleiben. Statt dessen pflegt Amalia ein uneigentliches, ironisches Sprechen, das ihr quasi über einen Umweg doch noch zu einem Ausdruck ihrer Individualität verhilft. Dieses Verfahren erinnert an das dichterische, ebenso absichtsvoll uneigentliche Sprechen, wie es Roland Barthes definiert: "Unglücklicherweise gibt es kein Außerhalb der menschlichen Sprache [langage]: Sie ist ein verschlossener Ort [...]. Es bleibt, wenn ich das so sagen darf, nichts anderes übrig, als mit der Sprache [langue] zu betrügen, als die Sprache zu betrügen. Diesen heilsamen Betrug, dieses Ausweichmanöver, diese wundervolle Verlockung, die es erlaubt, die Sprache jenseits der Macht zu hören, im Glanz einer permanenten Revolution der Sprache [langage], nenne ich für meinen Teil: Literatur."[Anm. 3] |
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Zwar ist Amalias Verweigerung der einzige Weg, ihre Würde zu bewahren, indem sie einer verdinglichenden Ordnung ihre Nicht-Verfügbarkeit entgegenhält, doch ist sie damit zugleich der Möglichkeit beraubt, diese Ordnung (außer für sich selbst) außer Kraft zu setzen. Denn auch ihr Widerstand trägt letztlich zum Erhalt des Systems bei, indem er eine sonst ungreifbare Ordnung erst als Ordnung erfahrbar macht. Vor diesem Hintergrund erklärt sich Amalias Sympathie für K.: Mit der Ankunft eines Fremden, also eines weiteren Außenseiters, wird ihre Erfahrung objektiviert. Zumindest wäre es denkbar, daß die Dorfbewohner dann Amalias Geschichte nicht länger als selbstverschuldet ansähen, sondern begännen, ein 'Außerhalb' der bisherigen gesellschaftlichen Ordnung zu erahnen. Damit erst würde dann ein die Ordnung in Frage stellender, von der gesamten Dorfgemeinschaft getragener Widerstand möglich. Doch leider begreift K. Amalias Botschaft nicht. |
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Welche Funktion nun hat die Figur der Amalia nicht für die Handlung, sondern für den Text als solchen? Wie sich bereits im Titel und der beziehungsreichen Bemerkung, "es gibt mehrere Zufahrten ins Schloß" andeutet, thematisiert sich im Schloß der Text selbst. Er wird autoreferentiell, er ist ein Schloß ohne Schlüssel, es gibt keinen eindeutigen Weg, keine letztgültige Deutung, keine Auflösung der Widersprüche. Das heißt, daß die Aporien der Handlungsebene auf der strukturellen Ebene des Textes erneut aufgegriffen werden. Wie bereits im Proceß finden auch im Schloß aufgrund der Leerstellen und Widersprüche des Romans die Fragen kein Ende, und zugleich ist jede vorgeblich endgültige Deutung des Romans in ihrer Eigenschaft als Veränderung des 'absolut' gesetzten Textes ein Unrecht.[Anm. 4] Das entspricht genau dem, was Olga über ihre Schwester Amalia sagt: K. solle nicht daran zweifeln, daß sie die Wahrheit spräche. Nun ist aber gerade das sehr schwierig, weil Amalia, wenn sie überhaupt spricht, eben keine eindeutigen Aussagen trifft und man nicht weiß, "ist es ernst oder ironisch". Genau wie der Text sich dem Leser entzieht und wie sich das Schloß K. entzieht, so entzieht sich Amalia allem: dem Schloß, K., dem Text, dem Leser. Dem Leser ist angesichts dieser Umstände die Möglichkeit gegeben, ebenso zu verfahren, das heißt, seine Lektüre abzubrechen, oder aber weiterzulesen und die Lektüre als Selbstbegegnung zu begreifen. Damit ist dem Leser etwas möglich, das den Kafkaschen Protagonisten verweigert bleibt -- eine eigene, freie Entscheidung. |
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Kafka und Goethe | ||||
Amalia spiegelt also als Figur das Verfahren des Schloß-Romans -- darin hat sie eine berühmte literarische Vorgängerin, nämlich die Ottilie aus Goethes Wahlverwandtschaften. Ein Vergleich der Ottilie und der Amalia ist nur eingeschränkt möglich in dem Sinne, daß Kafka Goethes Roman als direkte Vorlage genutzt haben könnte. Eine Lektüre der Wahlverwandtschaften durch Kafka läßt sich weder durch Berichte seiner Freunde und Angehörigen noch durch seine Tagebuchaufzeichnungen belegen. Anzunehmen, Ottilie habe der Amalia direkt "Modell gestanden", wäre also reine Spekulation. Der Vergleich ist dennoch sinnvoll, als sich Kafka zwar nicht explizit mit den Wahlverwandtschaften, wohl aber mit der zur damaligen Zeit die deutschsprachige Literatur geradezu dominieren Figur Goethes auseinandergesetzt hat. Zudem wird nicht nur das Besondere eines Werkes oft gerade im Vergleich sichtbar, auch Entwicklungen in der Literaturgeschichte kommen erst durch eine vergleichende Perspektive erst wirklich zu Bewußtsein. Bereits anhand dessen, in welcher Weise Kafka Goethesche Topoi bzw. Topoi der Goethe-Rezeption aufnimmt und verarbeitet, können möglicherweise erste Schlüsse auf die sich von Goethe bis zu Kafka ziehende literaturgeschichtliche Entwicklung gezogen werden, ehe dies an den beiden Frauenfiguren überprüft werden soll. |
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"Der mich ganz durchgehende Eifer mit dem ich über Goethe lese (Goethes Gespräche, Studentenjahre, Stunden mit Goethe, Ein Aufenthalt Goethes in Frankfurt) und der mich von jedem Schreiben abhält." Bereits in diesem Tagebucheintrag Kafkas zeigt sich aufs deutlichste, was für die gesamte Auseinandersetzung mit dem Klassiker bestimmend ist: das Gefühl der Lähmung und der Unmöglichkeit zu schreiben angesichts des schöpferischen Genies. Wie sich bald herausstellt, wird die Auseinandersetzung mit Goethe nicht, wie erhofft, Ausgangspunkt eigener schöpferischer Ideen, sondern Anlaß, das eigene Ungenügen festzuhalten: |
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"So vergeht mir der regnerische, stille Sonntag, ich sitze im Schlafzimmer und habe Ruhe aber statt mich zum Schreiben zu entschließen, in das ich z. B. vorgestern mich hätte ergießen wollen mit allem was ich bin, habe ich jetzt eine ganze Weile lang meine Finger angestarrt. Ich glaube diese Woche ganz und gar von Goethe beeinflußt gewesen zu sein, die Kraft dieses Einflusses eben erschöpft zu haben und daher nutzlos geworden zu sein." |
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Zugleich erkennt Kafka aber auch, daß ein solches 'organisches' Schreiben, wie Goethes es praktiziert hat, in der modernen Lebenswirklichkeit nicht mehr möglich ist: |
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"Reisebeobachtungen Goethes ganz anders als die heutigen, weil sie aus einer Postkutsche gemacht mit den langsamen Veränderungen des Geländes sich einfacher entwickeln und viel leichter selbst von demjenigen verfolgt werden können, der jene Gegenden nicht kennt. Ein ruhiges förmlich landschaftliches Denken tritt ein." |
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Der Goetheschen Organizität des Schaffens, der Einheit von Leben und Werk, der klassischen Idee vom "schönen Geist in einem schönen Körper" stellt Kafka seine eigenen Zerrissenheit gegenüber. So erweckt Goethes vollkommene Silhouette in ihm Ekel, der er den eigenen fragmentiert empfundenen (Fremd-)Körper gegenüberstellt: "Meine Ohrmuschel fühlt sich frisch rauh kühl saftig an wie ein Blatt. Ich schreibe das ganz bestimmt aus Verzweiflung über meinen Körper und über die Zukunft mit diesem Körper." Kafka greift also mit sicherem Gespür die entscheidenden Elemente der damaligen Goethe-Stilisierung auf -- die körperliche Vollkommenheit, die Heroisierung des Genies --, um sich von ihnen zu distanzieren und zu neuen Ausdrucksformen zu finden, auch wenn diese Negation des klassischen Ideals keine gänzliche Loslösung davon darstellt. |
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So ist der Bezug auf Goethe für Kafka einerseits durch den Bruch mit dem, was Goethe verkörpert, gekennzeichnet, zugleich blickt Kafka auf ihn wie auf ein verlorenes Paradies. Gegen Ende seiner Tagebuchaufzeichnungen muß Kafka sich eingestehen, daß die Auseinandersetzung mit dem "schöpferischen Universalgeist" ihm nicht weiterhilft. Anders als Goethe, der an seine künstlerische Produktivität glaubte bzw. diese dementsprechend für die Nachwelt zu stilisieren verstand, bleibt Kafka nichts als der Zweifel. Das zeigt sich in seinen Tagebüchern und schlägt sich ebenfalls in seinen Romanen nieder, die künstlerisch immer großartiger, in dem, was zur Darstellung gelangt, jedoch immer trostloser werden. Denn zunehmend werden diese zu einer Inszenierung des Verschwindens des Subjekts, das mit Goethe gerade glanzvoll seine Entstehung gefeiert hatte und das im Schloß von einer gleichgültigen Ordnung aufgesogen, also bereits wieder vernichtet wird. Versteht man Goethe und Kafka also als Anfangs- und Endpunkt einer Entwicklung, so heißt Entwicklung ja auch Kontinuität und impliziert, daß schon im Anfang (bei Goethe) die Keime angelegt sind, die schließlich das Ende herbeiführen. Dies soll nun an der Figur der Ottilie überprüft werden. |
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Ottilie -- Schweigen als Selbstvernichtung | ||||
Als 'Wahlverwandtschaften' wurden zum Zeitpunkt der Entstehung des gleichnamigen Romans chemische Verbindungen bezeichnet. In der sogenannten 'Gleichnisrede' im Roman wird eine solche Wahlverwandtschaft eigens beschrieben: Kalziumkarbonat reagiert mit Schwefelsäure, die freigewordene Kohlensäure verbindet sich mit Wasser. Diese Auflösung alter Verbindungen zugunsten einer neuen Konstellation nimmt die späteren Ereignisse der Romanhandlung vorweg, und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem der Kreis der Hauptpersonen noch unvollständig ist: Eduard und Charlotte konnten nach langen Wirrungen endlich heiraten und laden in ihre glücklich gefundene Zweisamkeit Otto, einen Freund Eduards, ein. Dieser erläutert eines Abends das Phänomen der sogenannten Wahlverwandtschaften, was Charlotte erlaubt, um eine Gesellschafterin für sich zu bitten. Denn da sich Eduard und Otto aus ihrer Sicht so gut verstehen, kommt sie sich wie die Kohlensäure, sprich: überflüssig vor. Deshalb möchte sie ihre Nichte Ottilie auf das Schloß einladen. |
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Doch mit der Ankunft Ottilies entstehen schließlich ganz andere Verbindungen als vorhergesehen: Eduard und Ottilie verlieben sich ineinander, während Otto und Charlotte ihre Neigung füreinander entdecken. Der fast novellistische Wendepunkt der Geschichte ist die Liebesnacht Eduards und Charlottes, in der sich beide in Gesellschaft der jeweils abwesenden geliebten Person wähnen. Und wie um den "Ehebruch im Ehebett" ruchbar werden zu lassen, wird das in dieser Nacht gezeugte Kind die Gesichtszüge Ottos und die Augen Ottilies besitzen. Als Charlotte Eduard von ihrer Schwangerschaft in Kenntnis setzt, löst sich die Vierergemeinschaft vorübergehend auf: Der Hauptmann nimmt andernorts eine Stelle an, Eduard beschließt, in den Krieg zu ziehen, und die beiden Frauen bleiben allein zurück. Zu einem späteren Zeitpunkt versucht Eduard, die Scheidung von seiner Frau zu erwirken und kehrt auf seinen Besitz zurück, wo er Ottilie mit dem Kind antrifft. Über der Wiedersehensfreude vergessen beide die Zeit, und Ottilie muß schließlich bei einbrechender Dunkelheit mit dem Kind ins Schloß zurückeilen. Als Abkürzung wählt sie den Weg über den See, wo sie im Boot das Gleichgewicht verliert, das Kind ins Wasser gleitet und sie es nur noch tot bergen kann. Ottilie beschließt nun, in ihr ehemaliges Pensionat zurückzukehren, um dort als Lehrerin tätig zu sein. Eduard reist ihr nach und versucht, sie davon abzuhalten. Während der 'Unterredung' im Gasthaus -- Ottilie spricht kein Wort mit ihm, sondern schüttelt nur den Kopf oder nickt -- gelingt es ihm, sie zu überreden, weiterhin mit ihm, Charlotte und dem zurückkehrenden Otto auf dem Schloß zu leben. Nicht abzubringen ist sie hingegen von ihrem Vorsatz, Eduard zu entsagen, seit der Begegnung im Gasthaus zu verstummen und nur das Nötigste zu sich zu nehmen. So hungert sie sich schließlich zu Tode, um als Heilige in der Kapelle beigesetzt zu werden und nach ihrem Dahinscheiden Wunder an herbeireisenden Pilgern zu vollbringen. Goethe hat diese Entscheidung Ottilies als "reinste Katharsis", also als echte Buße im Sinne von Umkehr beschrieben. Sie selbst sagt, sie sei "aus ihrer Bahn geschritten" und wolle dies mit ihrer Entscheidung büßen. Wie wir sehen werden, wird dieser Aspekt, daß es sich bei Ottilies Buße um eine echte Umkehr handelt, entscheidend für die sich hier anschließende Interpretation des Romans. |
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Angesichts dieser grausamen Selbstbestrafung stellt sich zunächst die Frage, was Ottilie eigentlich so bekämpft, weshalb sie den Hungertod wählt und welche Bedeutung ihre Todesart für den Roman hat. Hierzu ist die Funktion der Figur der Ottilie noch näher zu untersuchen. Sowohl für die Charaktieriserung der Ottilie wie auch den Roman der Wahlverwandtschaften läßt sich eine Überdeterminierung feststellen, ein Geflecht einer Vielzahl unterschiedlichster Bezüge und Verweise. Laut Waltraud Wiethölter macht dies eine mehrfache Lektüre des Romans erforderlich, eine antike, eine christliche und eine alchemistische. Was damit gemeint ist, sei in einigen wenigen Beispielen gezeigt, die notwendigerweise im Rahmen dieses Artikel nur Hinweischarakter haben können. |
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Die schicksalhafte Begegnung Eduards und Ottilies ist ein Verweis auf den Narziß-Mythos: Schon am Abend von Ottilies Ankunft bemerkt Eduard Charlotte gegenüber, was für ein unterhaltendes Wesen Ottilie habe -- woraufhin seine Frau sehr überrascht entgegnet, sie habe doch noch kein einziges Wort gesprochen! Ebenso sprachlos und darin als perfekte Projektionsfläche (also letztlich als Spiegel) für Eduards Phantasien zeigt sich Ottilie, als Eduard Otto erzählt, daß er in Ottilies Namen Briefe an sich selbst schreibe und diese wiederum beantworte. Auffällig ist ebenfalls, daß Ottilie bei der Abschrift eines Dokumentes in Eduards Handschrift diese schließlich so perfekt imitiert, daß Eduard selbst nicht mehr unterscheiden kann, welcher Text von ihm und welcher von Ottilie geschrieben ist. Auch werden die beiden zeitweise von starken einseitigen Kopfschmerzen heimgesucht, Eduard rechts, Ottilie links -- auch hier liegt also eine Spiegelbildlichkeit vor, die das Schicksalhafte der Verbindung der beiden herausstreicht. Wie Narziß also verliebt Eduard sich letztlich in sein eigenes Spiegelbild, und wie Echo, die bei Ovid versteinert wird, drückt Ottilie das ertrunkene Kind an ihre Brust, die "an Weiße, leider aber auch an Kälte dem Marmor gleicht". Ein weiterer Verweis auf den Narziß/Echo-Mythos ist auch die Reihenfolge des Auftretens der Personen: Eduard, Charlotte, Hauptmann, Ottilie. Beispiel für die alchemistische Lektüre ist der Name Otto, der in allen vier Namen auftaucht: Eduard heißt mit zweitem Namen Otto, in Charlotte klingt er an, der Hauptmann heißt Otto, Ottilie ist die weibliche Form dieses Namens, und das Kind, in dessen Herkunft und Physiognomie sich alle vier Figuren vereinigt finden, trägt ebenfalls diesen Namen. Somit versinnbildlicht das Kind "mit dem wahlverwandten Namen Otto", wie Waltraut Wiethoelter schreibt, gleich "mehrfach das alchemistische Ideal, indem er nicht allein durch die Anzahl seiner Buchstaben auf die Vier und das heilige Tetragrammaton des Gottesnamens anspielt, sondern aufgrund seiner palindromischen Symmetrie dem Klang wie der graphischen Gestalt nach den alchemistischen Prozeß unmittelbar vor Augen stellt. Gemeint ist die um die Mittelachse rotierende Identität, das im Zeichen des Kreises, des O, in sich zurückkehrende Eine und dessen Entzweiung sowohl als Wiedervereinigung 'übers Kreuz', wie sie -- selbstverständlich genausowenig zufällig -- im vierten Kapitel angekündigt und schließlich der Doppelung des T entsprechend tatsächlich über eine zweifache Verschränkung bis ins achte Kapitel des zweiten Teils durchgeführt wird." Zuletzt verbinden sich schließlich in Ottilie Anspielungen auf Marien- einerseits und Venusdarstellungen andererseits. So sind ihre "schönen schwarzen Augen" ein Attribut der Venus, zugleich wird sie selbst aufgrund ihrer Schönheit als Augentrost bezeichnet, der in seiner Wirkung der des Smaragd gleichkomme. Der Smaragd gilt ebenfalls als der Stein der Venus, zugleich wird mit dem Bild des Augentrostes Ottilie von Anbeginn an aber auch einer Heiligenfigur angenähert. Nicht zufällig beschreibt Goethe in Dichtung und Wahrheit die Figur der heiligen Ottilie, die Augenkrankheiten heilen könne und die ihn so beeindruckt habe, daß er einer seiner späteren 'Töchter' ihre Züge verliehen habe. An anderer Stelle wird Ottilie als "anmutige Penserosa" charakterisiert, mit Kind und Buch im Arm, was an Mariendarstellungen in der Art der Dürerzeichnung Maria mit der Meerkatze erinnert. Aber auch der sogenannten 'Venus genetrix' wird in der Ikonographie ein Wickelkind beigegeben. In welchem Zusammenhang stehen aber nun diese Überdeterminierung bestimmter Erzählsequenzen und das Schweigen Ottilies? |
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Für den Leser ist Ottilie zwar einerseits stets präsent, doch erfährt er aufgrund ihres Schweigens letztlich nur wenig über sie. Denn sogar Ottilies Tagebuch, aus dem in den Wahlverwandtschaften zitiert wird, ist ganz im Ton der damaligen Traktatliteratur gehalten. Selbst da also, wo Ottilie zwar nicht spricht, aber zumindest schreibt, findet sich nicht ihre eigene Sprache, ja sogar noch nicht einmal ihre eigene Handschrift. Ottilie bleibt, obwohl sich zum Ende des Romans das Geschehen mehr und mehr um sie dreht, rätselhaft und hinter den vielfältigen Bildern und Projektionen unerreichbar. Ottilies Schweigen und ihre Unerreichbarkeit spiegeln also das Verfahren des Romans selbst: In der Verschwiegenheit der Hauptfigur spiegelt sich die Verschwiegenheit des Romans, und wie an einer Matrix generiert sich der Text der Wahlverwandtschaften entlang der Lektüre anderer Texte, die sich ebenso aus der Lektüre vorangegangener Texte speisen und so fort. In den Wahlverwandtschaften zeigt sich sozusagen Intertextualität avant la lettre. |
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Ottilies Charakter scheint sie auf den ersten Blick nicht unbedingt zu prädestinieren, eine solche Funktion für den Roman einzunehmen bzw. zu einer 'Allegorie der Dichtung' schlechthin zu werden: Sie ist intellektuell recht unbedarft, lernt langsam, und ihre Naturhaftigkeit scheint zunächst im Gegensatz zu ihrer am Ende des Romans anläßlich ihrer Beisetzung erfolgenden Heiligung zu stehen. Doch berücksichtigt man Ottilies Katharsis, das heißt ihre Rückkehr zu ihrem ureigensten Wesen und den ihr eigenen Regeln, die sie als 'schöne Seele' charakterisieren -- ein typisches Konzept von Weiblichkeit der Weimarer Klassik -- und zieht die Beschreibung dieses Konzeptes durch Adorno/Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung hinzu, läßt sich der Widerspruch auflösen: |
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"[Die Frau] wurde zur Verkörperung der biologische Funktion, zum Bild der Natur, in deren Unterdrückung der Ruhmestitel dieser Zivilisation bestand [...]. Sie selbst erreichte für die ganze ausgebeutete Natur die Aufnahme in die Welt der Herrschaft, aber als gebrochene. Sie spiegelt, unterjocht, dem Sieger seinen Sieg in ihrer spontanen Unterwerfung wider: Niederlage als Hingabe, Verzweiflung als schöne Seele, das geschändete Herz als liebenden Busen. [...] Kunst, Sitte, sublime Liebe sind Masken der Natur, in denen sie verwandelt wiederkehrt und als ihr eigener Gegensatz zum Ausdruck wird. Durch ihre Masken gewinnt sie die Sprache; in ihrer Verzerrung erscheint ihr Wesen; Schönheit ist die Schlange, die die Wunde zeigt, wo einst der Stachel saß." |
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Ottilies Schweigen ist, so gesehen, Affirmation der bestehenden Gesellschaftsordnung, und das um so mehr angesichts der Tatsache, daß sie, im Gegensatz zur vitalen Amalia in Kafkas Schloß, darüber hinaus ihren Körper mit ihrer Anorexie zum Verschwinden bringt. Offensichtlich spürt sie, daß selbst in ihrer schweigenden Präsenz etwas zum Ausdruck kommt, das in dieser Gesellschaft keinen Platz hat. Mit ihrem Hungertod will sie es außer Kraft setzen, doch gelingt es ihr nicht, denn auch in ihrer Heiligung findet, im Sinne des obigen Zitats, die Natur sublimiert doch noch Eingang in die Gesellschaft. Darin wiederum hat die Figur der Ottilie, trotz aller Unterschiede, eine ähnliche Funktion wie die der Amalia, nämlich ein 'Anderes' zu präfigurieren. |
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Ottilie und Amalia -- Unterschiede und Gemeinsamkeiten | ||||
Vergleicht man die beiden Figuren der Amalia und der Ottilie, so ist zunächst die unterschiedliche Funktion ihres Schweigens innerhalb der erzählten Handlung auffällig. Schweigt Amalia, weil sie sich den Regeln der Gesellschaft nicht unterwerfen will und auf ihren Rechten beharrt, so schweigt Ottilie, weil sie selbst ihre Wünsche verurteilt. Als sie erkennt, daß die 'Wahlverwandtschaft' zu Eduard weiterhin besteht, unabhängig von ihrem Entschluß, die Verbindung zu ihm abzubrechen, erlegt sie sich ihr Schweigen als Buße auf. Trotz der Machtlosigkeit gegenüber dem Schicksal befindet sich bei Goethe, anders als bei Kafka, das Subjekt auf seinem bewußtseingeschichtlichen Höhepunkt: Ottilies eigene Regeln lassen sich zunächst durchaus mit denen der Gesellschaft in Einklang bringen, und als sie diese übertritt, wählt sie selbst ihre Buße. Anders als Amalia hingegen gewinnt Ottilie durch ihr Schweigen nicht an Vitalität, denn ihr Körper, seine Bedürfnisse und Wünsche sind es ja, die in dieser Gesellschaftsordnung als 'Naturnotwendigkeit' keinen Platz haben. Pointiert formuliert, soll sich in den Wahlverwandtschaften einen Frau über ihren Körper hinwegheben, im Schloß hingegen allein damit begnügen. |
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Ottilies Hungertod und ihre Heiligung verweisen darauf, daß die Wahrheit der Kunst als verwandelte Natur ihren Ort nicht in dieser Gesellschaft hat, sondern in einem Jenseits. Dieser Verweis auf ein Jenseits ist das, was Amalia und Ottilie trotz mancher Ähnlichkeit am entschiedensten voneinander trennt, obwohl die Ambivalenz von Ottilies Charakter -- ihre Naturhaftigkeit wird nicht verurteilt, ist aber dennoch das zu Überwindende -- bereits die Aufgabe der vor allem christlich geprägten Leibfeindlichkeit und damit den modernen Transzendenzverlust ankündigt. Doch wirklich modern ist allein die Figur der Amalia, die als 'Repräsentantin' der Dichtung nicht auf ein Jenseits, sondern eher auf ein Nebenan, ein Anderswo verweist. In der unterschiedlichen Funktion und Bewertung ihrer Köperlichkeit spiegeln Ottilie und Amalia den Paradigmenwechsel der Moderne, wie ihn Nietzsche in den folgenden Worten formuliert: |
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"[...] der Leib ist ein erstaunlicherer Gedanke als die alte 'Seele'. Es ist zu allen Zeiten besser an den Leib als an unseren eigentlichsten Besitz, unser gewissestes Sein, kurz unser ego geglaubt worden als an den Geist (oder die Seele oder das Subjekt, wie die Schulsprache jetzt statt Seele sagt)." |
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Die alte Ordnung wird mit dem Zweifel an der Existenz Gottes zunehmend fragwürdig, und Erzählen in einer zerfallenden Welt heißt, dem Darzustellenden angemessene Erzählstrukturen zu finden. Vergleicht man unter diesem Gesichtspunkt Goethes Wahlverwandtschaften und Kafkas Schloß, so zeigen sich ähnliche Unterschiede wie in der Charakterisierung der Ottilie und Amalia. So finden wir in den Wahlverwandtschaften einen auktorialen Erzähler, der das Geschehen präsentiert. Er selbst hält zu dem Erzählten Distanz, was zur Folge hat, daß, wie Benjamin es nennt, "die Teilnahme des Lesers in das Zentrum des Geschehens selbst" nicht hineingerufen wird. Denn der Erzähler gewährleistet nicht nur den 'geordneten' Ablauf der Erzählung; durch die Bewußtmachung des Erzählprozesses selbst gesteht der Roman seine Fiktionalität ein (was Goethe übrigens die erbitterte Kritik einiger seiner Zeitgenossen eintrug). Doch auch wenn die Wahlverwandtschaften eine Montage verschiedenster Motivstränge sind, so hält doch immerhin ein Erzähler dieser Stränge noch in der Hand, erläutert und kommentiert das Geschehen. Das Erzählen selbst wird nicht in Frage gestellt, nur sein Bezug auf eine Wirklichkeit. |
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Bei Kafka hingegen greift der einmal entstandenen Zweifel an einer sinnvollen Ordnung und damit die immer dringlicher werdende Frage danach, ob und wie Erkenntnis überhaupt noch möglich ist, auf die Erzählerinstanz und die Erzählweise über. Bereits Nietzsche weitet seine Metaphysikkritik bekanntlich auf das kartesianische Subjekt aus, und seine Subjektkritik wird zum Todesstoß für die an diesem Subjekt festgemachte Erkenntnistheorie. Konsequenterweise gibt es bei Kafka keinen auktorialen Erzähler mehr, der noch die eine Wahrheit besitzen könnte. Das Geschehen wird statt dessen fast gänzlich aus der Sicht des Protagonisten geschildert, eben in der einsinnigen Erzählweise. Dieser Verlust eines erzählerischen Fixpunktes schließt auch den Verlust räumlich-zeitlicher Orientierung ein, dem Leser wird die irritierende und begrenzte Sichtweise des Protagonisten aufgezwungen. Das macht eine beträchtliche interpretatorische Eigenleistung des Rezipienten notwendig, die letztlich doch nur zu der Einsicht führt, daß eine objektive Wahrheit nicht rekonstruiert werden kann und eine abschließende Deutung des Textes unmöglich ist. Das heißt allerdings nicht, daß die Vorstellung einer Wahrheit damit gänzlich aufgehoben wäre -- durch den negativen Bezug auf diese bleibt sie weiterhin präsent. Genauso wie K. sich durch seinen negativen Bezug auf die Leerstelle des Schlosses nicht wirklich von diesem lösen kann, löst sich Kafkas Schaffen nicht wirklich von jeglicher Metaphysik. Doch bleibt es sozusagen bei einer negativen Metaphysik, wie sie sich auch in Kafkas Ausspruch Max Brod gegenüber, es gäbe "unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns", niederschlägt. Ausgelöst durch das Befremden, das das Verhalten der Kafkaschen Protagonisten und die Erzählweise in ihm auslösen, wird dem Leser eine Selbstbegegnung angeboten: In der Auseinandersetzung mit Kafkas Text und einer abwesenden Wahrheit erlebt er das, was K. in der Auseinandersetzung mit dem Schloß erfahren muß -- hinter allem befindet sich letztlich eine Leerstelle. In dieser Spiegelung von Inhalt und Erzählstruktur wird das Erzählen selbst das eigentliche Thema, und darin ist, wie Benjamin sagt, "Kafkas Romanform" das "Zerfallsprodukt von Erzählung". Erzählt wird, daß Erzählen eigentlich unmöglich ist. |
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Damit wird das Oeuvre selbst fragwürdig, und Kafka bewertet sein Schaffen auch nicht mehr -- wie Goethe -- im Hinblick auf eine Kunst die letztlich den Künstler übersteigt, sondern im Hinblick darauf, was er selbst im Moment des Schreibens gewinnt, und was Adorno folgendermaßen beschreibt: |
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"Merkwürdiger, geheimnisvoller, vielleicht gefährlicher, vielleicht erlösender Trost des Schreibens: das Hinausspringen aus der Totschlägerreihe Tat -- Beobachtung, Tat -- Beobachtung, indem eine höhere Art der Beobachtung geschaffen wird, eine höhere, keine schärfere, und je höher sie ist, je unerreichbarer von der 'Reihe' aus, desto unabhängiger wird sie, desto mehr eigenen Gesetzen der Bewegung folgend, desto unberechenbarer, freudiger, steigender ihr Weg." |
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Ort der Utopie ist damit nicht länger die Wahrheit 'hinter' dem Text, sondern sein 'Verfahren', nicht das, was er beschreibt, sondern der Prozeß seiner Produktion und Rezeption. So radikal wie nie zuvor ist damit die Utopie tatsächlich das, was 'keinen Ort' und keine Sprache und somit in einer schweigenden Figur seine perfekte Allegorie gefunden hat. |
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Und in ihrem Utopiecharakter im obigen Sinne werden Kafkas Texte immer wieder von neuem zu einer Herausforderung an das Hier und Jetzt -- das ist der "Skandal", auf den laut Adorno Kafkas Werk angelegt ist: "Die Beliebtheit Kafkas, das Behagen am Unbehaglichen, das ihn zum Auskunftsbüro der je nachdem ewigen oder heutigen Situation des Menschen erniedrigt und mit quickem Bescheidwissen eben den Skandal wegräumt, auf den das Werk angelegt ist, weckt Widerwillen dagegen, mitzutun und den kurrenten Meinungen eine sei's auch abweichende anzureihen." Mag auch dieser Artikel der Textflut über Kafka nur eine weitere Anekdote hinzufügen -- was dennoch bleibt, ist die schweigende Auseinandersetzung eines jeden einzelnen Lesers mit Kafkas Texten und die Möglichkeit einer Erfahrung, die in ihrer Radikalität jeder Geschwätzigkeit Einhalt gebietet. |
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autoreninfo
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Bettina Krüger, geboren 1970 in Lübeck. Studium der Germanistik und Romanistik in Tübingen und Aix-en-Provence, von 1998 bis 2007 in verschiedenen Unternehmensberatungen tätig. Seit 2007 Referentin Mitarbeiter- und Führungskräftekommunikation bei einer Versicherungsgesellschaft. Lebt seit 2001 in München.
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