![]() |
elektronische zeitschrift für kulturen · künste · literaturen ![]() |
![]() | |
no. 9: kommunikation
![]() |
Auf dem Weg zur liberalen Demokratie?Frankreich zwischen autoritärer Monarchie und parlamentarischem System 1815-1830 |
||
von Peter Geiss |
|
Nach den Erfahrungen der revolutionären Terreur und der napoleonischen Eroberungspolitik war die französische Gesellschaft von einer tiefsitzenden Skepsis gegenüber den 'großen Erzählungen' vom Staat und seinen Zielen erfüllt. Die 1814 beginnende Restaurationszeit war weniger eine Periode des historischen Rückschritts als eine Zeit der realpolitischen Kompromisse. Im Verlust des epochalen Optimismus von 1789 läßt sich vielleicht eine Parallele zur Gegenwart sehen. |
||||
Im europäischen Wendejahr 1989 schien sich ein überwältigender Sieg der liberalen Demokratie über den sozialistischen Zwangsstaat abzuzeichnen. Ein Jahrzehnt später ist die beinahe heilsgeschichtliche Euphorie dieser Zeit weitgehend verflogen. Die Erfahrungen der 90er Jahre lassen Zweifel an der Annahme aufkommen, daß auf den Zusammenbruch des Staatssozialismus und marktwirtschaftliche Reformen zwangsläufig die Zivilgesellschaft westlichen Typs folgt. Militaristisch-autoritäre Tendenzen im postsowjetischen Raum und ethnozentrische Gesellschaftskonzepte in Südosteuropa vermitteln jedenfalls vorläufig einen anderen Eindruck. Eine abschließende Bilanzierung der immer noch andauernden Systemtransformationen wäre mehr als verfrüht. Sicher ist aber, daß die Exportfähigkeit der liberalen Demokratie global betrachtet hinter den Hoffnungen von 1989 zurückgeblieben ist. |
||||
Vielleicht ist es angesichts dieser Feststellung hilfreich, einen Blick auf die Vorgeschichte der liberalen Demokratie im Frankreich des 19. Jahrhunderts zu werfen, um sich anhand dieses Beispiels die spezifischen, vielleicht singulären Voraussetzungen eines Demokratisierungsprozessses europäischen Typs bewußt zu machen. Von der revolutionären Proklamierung der Werte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit bis zur dauerhaften Etablierung demokratisch-liberaler Staats- und Gesellschaftsstrukturen war es ein weiter und zudem historisch keineswegs vorgezeichneter Weg. Eine entscheidende Etappe in dieser Entwicklung war paradoxerweise ausgerechnet die vielfach als rückwärtsgewandt wahrgenommene Restaurationzeit. Anders als heute und anders als während der radikalen Phase der Französischen Revolution (1793-1794) bildeten die Werte Freiheit und Demokratie im Bewußtsein der politischen Klasse der Restaurationszeit keine unauflösliche Einheit -- im Gegenteil. Selbst die am weitesten links stehende parlamentarische Kraft, die liberalen 'Unabhängigen' sahen in der Demokratie eher eine Gefahr als eine Garantie für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Unter den Bedingungen der konstitutionellen Monarchie war es wahrscheinlich gerade die Distanzierung vom demokratischen Erbe der Revolution, die eine Fortentwicklung der rechtsstaatlich-liberalen Traditionsstränge von 1789 erlaubte und damit die Grundlage für die spätere Demokratisierung des Landes schuf. |
||||
Die mit dem Wiener Kongreß von 1814/15 beginnende Restaurationszeit war in Frankreich bedeutend mehr als eine Phase der politischen Reaktion. Trotz der Rückkehr der alten Königsfamilie auf den französischen Thron war an eine Wiederherstellung des Ancien Régime nicht zu denken. In der königlichen Verwaltung und Polizei hielt sich zwar vielfach der repressive Geist der napoleonischen Zeit, und royalistische Extremisten träumten öffentlich von einer Erneuerung der alten Monarchie samt Ständegesellschaft; diesen Tendenzen stand aber eine beachtliche Ausweitung bürgerlicher Handlungsspielräume und Partizipationsmöglichkeiten im Rahmen konstitutioneller Strukturen entgegen. Dazu gehört nicht nur das Recht zur Wahl einer parlamentarischen Vertretung, sondern auch die Etablierung von Massenmedien und, damit verbunden, die Entstehung einer breiten, politisch interessierten Öffentlichkeit. |
||||
Trotz dieser Entwicklungen war das politische Leben im Frankreich der Restauration natürlich weit von dem entfernt, was ein heutiger EU-Bürger unter demokratischen Verhältnissen verstehen würde. Der Begriff der Volkssouveränität war aus dem Verfassungstext der vom König aufoktroyierten Charte constitutionelle verbannt, und an der Wahl der Abgeordnetenkammer konnte nur teilnehmen, wer mindestens 300 Francs an direkten Steuern zahlte. Bei einer Gesamtbevölkerung von fast 30 Millionen Menschen verfügten nur um die 100 000 Männer über dieses Privileg. Im Grundsatz bejahten alle parlamentarischen Gruppierungen einschließlich der liberalen Linken das Zensusprinzip, da die Erfahrungen mit dem revolutionären Druck der Straße lagerübergreifend nachwirkten. Wählen sollte nur, wer materiell unabhängig war, sich Bildung leisten konnte und damit politische Urteilsfähigkeit besaß. |
||||
Es würde den Liberalen wenig gerecht, die Befürwortung des Zensusprinzips pauschal als aristokratisch oder reaktionär einzustufen. Die bloße Einführung des allgemeinen Wahlrechts hätte im Frankreich der Restaurationszeit mit Sicherheit nicht zu dem geführt, was man heute Demokratisierung nennen würde. Angesichts des erheblichen Einflusses, über den Adel, Kirche und Bürokratie auch nach der Revolution noch verfügten, wären die Wahlen alles andere als frei gewesen. Man muß sich vor Augen halten, daß gerade in den ländlichen Regionen des Landes, wo die Masse der Bevölkerung lebte, die traditionellen Klientelstrukturen fortbestanden und die konstitutionellen Bürgerrechte überlagerten. Oft hatten aus der Emigration zurückgekehrte Feudalherren wieder das Sagen, oder einflußreiche Dorfpfarrer hielten ihre Schäfchen politisch auf Kurs. Selbst Liberalen wie dem Herzog von Broglie war deshalb die Qualität der politischen Partizipation wichtiger als deren Quantität: |
||||
"120 000 politisch repräsentierte Franzosen sind mir lieber als zwei Millionen Männer, die ihre Rechte aufs Geratewohl abtreten, ohne darüber nachzudenken, was sie tun." |
||||
Postrevolutionärer Pragmatismus | ||||
Die Geschichte der Restaurationszeit war von Anfang an von dem Versuch geprägt, die revolutionäre Vergangenheit zu bewältigen. Der Bezug auf die Französische Revolution ist deswegen in den politischen Debatten der Zeit allgegenwärtig. Wenn es so etwas wie ein Gesamtprojekt dieser Revolution gegeben hat, dann bestand es darin, die geschichtlich gewachsene Lebensordnung der alten Ständegesellschaft durch eine gänzlich ahistorisch gedachte Ordnung der natürlichen Vernunft zu ersetzen. Zu diesem Vorhaben bekannte sich besonders nachdrücklich Maximilien Robespierre, der in den Jahren 1793-1794 ideologischer Vordenker und mächtigster Akteur der Revolutionsregierung war. Am 5. Februar 1794 erklärte er vor dem Nationalkonvent recht unbescheiden: "Wir wollen, in einem Wort ausgedrückt, die Wünsche der Natur erfüllen, das Schicksal der Menschheit vollenden und die Versprechen der Philosophie einlösen." Das blutige Regiment des Wohlfahrtsausschusses, von Robespierre selbst als "Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei" verteidigt, kostete nach Schätzungen etwa 35 000 bis 40 000 Menschenleben. |
||||
Die Schreckensherrschaft der jakobinischen Aufklärer hatte ihre Legitimationsgrundlage in der uneingeschränkten Souveränität des französischen Volkes. Es ist daher nicht verwunderlich, daß man bald nach dem Sturz Robespierres begann, sich über den Charakter der Volkssouveränität Gedanken zu machen. So kam etwa der Revolutionsveteran Emmanuel de Sieyès 1795 zu der Einsicht, daß die Französische Revolution zwar die Person des Königs entmachtet, gleichzeitig aber die monarchische Souveränität in vollem Umfang erhalten und lediglich auf das Volk übertragen habe. |
||||
Der liberale Publizist und Politiker Benjamin Constant griff diesen Gedanken auf und erweiterte ihn zu einer umfassenden Kritik am Souveränitätsverständnis Jean-Jacques Rousseaus, den die Jakobiner als politische Ikone verehrt hatten. Für die Freiheit und Sicherheit des einzelnen Bürgers, so Constant, sei es im Grunde völlig unerheblich, wer als Träger der Souveränität auftritt. Für entscheidend hält Constant vielmehr, daß der Verfügungsbereich staatlicher Souveränität auf ein unbedingt erforderliches Minimum begrenzt wird. Diese urliberale Forderung verbindet sich bei Constant mit einem starken antimetaphysischen Impuls, der für das politische Denken im postrevolutionären Frankreich insgesamt charakteristisch ist. So schrieb er um 1806: |
||||
"Die Forschungen zur Verfassungsorganisation der verschiedenen Staatsformen genießen gegenwärtig ein sehr geringes Ansehen. [...] Wir haben in wenigen Jahren fünf oder sechs verschiedene Verfassungen ausprobiert und das ist uns sehr schlecht bekommen. Keine Überlegung der Vernunft kann das Gewicht einer solchen Erfahrung für sich in Anspruch nehmen." |
||||
Constant und viele seiner Zeitgenossen sahen in der antikisierenden Staatstheorie der Aufklärung die geistige Wurzel des revolutionären Terrors und der napoleonischen Militärmonarchie. Der große Irrtum der philosophes des 18. Jahrhunderts habe darin bestanden, den freiheitsliebenden Menschen der Neuzeit das kollektivistische Staatskorsett einer antiken Polis aufzwängen zu wollen. Freiheit, so Constant, bedeute für den einzelnen Bürger um 1800 nicht mehr, den ganzen Tag auf der Agora oder dem Forum zu sitzen und mit seinen Mitbürgern über die Staatsgeschäfte zu verhandeln. Freiheit bedeute um 1800 vor allem eines: vom Staat nicht behelligt zu werden und in aller Ruhe seinen privaten Geschäften nachgehen zu können. Gewählte Repräsentanten sollten die Politik des Gemeinwesens im Interesse der Bürger und stellvertretend für sie gestalten. Dabei sollte der Kompetenzbereich dieser Repräsentanten auf das unbedingt Notwendige beschränkt bleiben. |
||||
Die konstitutionelle Monarchie als nationale Kompromißlösung | ||||
Die Restauration von 1814 schuf ein politisches Klima, in dem die Verwirklichung der liberalen Freiheitsvorstellungen möglich schien. Im Schutz der gegen Frankreich verbündeten Mächte kehrten die Bourbonen wieder auf den Thron zurück. Ludwig XVIII., der Bruder des 1793 hingerichteten Königs, war Realist genug, den durch Revolution und napoleonisches Kaiserreich geschaffenen politisch-sozialen Status quo anzuerkennen. Die Charte constitutionnelle von 1814 gewährte Frankreich ein Zweikammersystem mit einem aristokratisch geprägten Oberhaus und einer gewählten Abgeordnetenkammer, außerdem garantierte sie die durch die Revolution geschaffenen Eigentumsverhältnisse: Ländereien aus Kirchen- und Adelsbesitz, die der revolutionäre Staat eingezogen und dann weiterverkauft hatte, sollten im Besitz der Käufer bleiben und anderem Eigentum gleichgestellt werden. Dieser Grundsatz war für den inneren Frieden der Restaurationsgesellschaft von größter Bedeutung, da sehr viele Franzosen günstig Nationalgüter erworben hatten. Die Frage der biens nationaux erinnert in ihrer politisch-sozialen Brisanz durchaus an das Problem der Eigentumsverhältnisse in der ehemaligen DDR. |
||||
Neben diesen schon auf die liberalen Zeitgenossen progressiv wirkenden Prinzipien, fallen in der Verfassungsurkunde des Jahres 1814 aber auch ausgesprochen archaische Elemente auf. Gewollt altertümlich ist schon die Bezeichnung des Dokuments: Eine Charte (lat. carta) ist eine Urkunde, wie sie die Vorgänger Ludwigs XVIII. seit dem Mittelalter ausstellten, um ihren königlichen Willen in rechtlich verbindlichen Formen zu manifestieren. Schon der Name des Verfassungstextes drückt also unmißverständlich aus, was dieses Dokument nicht ist: ein Vertrag zwischen Herrscher und Volk. Ludwig XVIII. präsentiert sich wie seine Ahnen als König von Gottes Gnaden, der seinen Untertanen aus freien Stücken eine Verfassung aufoktroyiert. |
||||
Auch der Inhalt der Charte constitutionnelle entzieht sich in wichtigen Punkten einer Lektüre im Sinne des Parlamentarismus: Dies gilt etwa für die Konzeption der Regierungsverantwortung gegenüber dem Parlament. Während das parlamentarische System Englands schon lange eine politische Regierungsverantwortung kannte, legte die Charte lediglich eine strafrechtliche responsabilité fest. Für die politische Praxis der Restaurationszeit bedeutete dies, daß die Abgeordneten zumindest formalrechtlich keine Möglichkeit hatten, die Regierung aus politischen Gründen zu stürzen. So blieb ihnen nur der Umweg über das Strafrecht oder die Verweigerung des jährlichen Staatshaushaltes. |
||||
Der zwischen monarchischer Tradition und modernem Parlamentarismus schillernde Text der Charte spiegelt gerade in seiner Widersprüchlichkeit den pragmatischen Geist der postrevolutionären Ära wider: Man sucht einen Kompromiß, der den seit 1789 geschaffenen Tatsachen ebenso Rechnung trägt wie den Traditionen des alten, vorrevolutionären Frankreichs. So verschiedene Gruppen wie enteignete Adelige und Kleriker, Opfer der Schreckensherrschaft, Käufer von Nationalgütern und ehemalige Soldaten sollten sich in der erneuerten Monarchie und ihren Verfassungsorganen wiederfinden. Der Ultraroyalist Chateaubriand bezeichnete die Charte deshalb zu recht als einen "Friedensvertrag zwischen den beiden Parteien, die Frankreich gespalten haben", und der konservative Liberale François Guizot betrachtete sie als eine historisch notwendige "Transaktion" zwischen Gegenwart und Vergangenheit. |
||||
Der Deutungskampf um die Verfassung | ||||
Doch wie sollten die 76 Verfassungsartikel mit politischem Leben gefüllt werden? Die politischen Kämpfe der Restaurationszeit waren in erster Linie Auseinandersetzungen um die Interpretation der Charte. Einer parlamentarischen Auslegung stand die Betonung der monarchischen Elemente gegenüber. Interessanterweise lassen sich diese beiden Interpretationsstränge jeweils nicht durchgehend denselben politischen Lagern zuordnen. Zu Beginn der Restaurationszeit waren es in Frankreich ausgerechnet die Ultraroyalisten, die sich die parlamentarische Lesart auf die Fahnen schrieben, wohingegen ein Teil der Liberalen das monarchische Prinzip betonte. |
||||
Einer der einflußreichsten Exegeten der Charte war der ultraroyalistische Publizist und Politiker François-René de Chateaubriand. Er veröffentlichete 1816 eine vielbeachtete Broschüre mit dem Titel De la Monarchie selon la Charte ("Über die Monarchie gemäß der Charte"). In dieser Schrift vertrat er eine ausgesprochen parlamentarische Auslegung der Charte, die sich verfassungsmechanisch betrachtet in nichts von den Vorstellungen der liberalen Linken um Benjamin Constant unterschied. Die Regierung soll Chateaubriands Vorstellungen nach über die Mehrheit in der Deputiertenkammer verfügen und dieser gegenüber politisch verantwortlich sein; das Handeln der Minister darf zudem niemals direkt von der Person des Königs ausgehen, da dieser politisch unangreifbar bleiben muß. |
||||
Was Chateaubriand 1816 fordert, ist nicht nur eine konstitutionelle, sondern eine parlamentarische Monarchie. Dies bedeutet aber keineswegs, daß er sich von seinen ultraroyalistischen Überzeugungen entfernt hätte. Er hält es zwar aus realpolitischen Erwägungen heraus für notwendig, die "materiellen Interessen der Revolution" anzuerkennen; dies gelte aber nicht für ihre "moralischen Interessen". Die aus der Revolution hervorgegangenen Eigentumsverhältnise und Partizipationsrechte sollen Chateaubriand zufolge erhalten bleiben; gleichzeitig fordert er aber die entschlossene Bekämpfung ihres weltanschaulichen Erbes, d.h. insbesondere der antichristlichen und egalitären Lehren. Chateaubriands politisches Programm wurde von ihm selbst in einem Satz auf den Punkt gebracht: |
||||
"Man muß das politische Werk der Revolution, das die Charte geheiligt hat, bewahren und doch gleichzeitig die Revolution aus diesem ihrem eigenen Werk herausreißen, statt sie darin einzuschließen." |
||||
Das Paradox von 1816: Royalistischer Parlamentarismus gegen liberale Regierungstreue | ||||
Den Liberalen wirft Chateaubriand vor, ihre eigenen Ideale verraten zu haben: Sie predigten nun die passive Unterwerfung der Kammern gegenüber der königliche Regierung, die Einschränkung der Pressefreiheit und die Ausweitung polizeilicher Überwachungsstrukturen. Liberale fordern den starken Staat, während überzeugte Monarchisten das politische System parlamentarisieren wollen -- wie ist diese verkehrte Welt zu erklären? Die Hauptursache dieser paradoxen Situation ist in den Kräfteverhältnissen des Jahres 1816 zu sehen: Nach der zweiten Abdankung Napoleons hatten die französischen Ultraroyalisten 1815 einen erdrutschartigen Wahlsieg errungen. Die königstreue Mehrheit in der zweiten Kammer war derart komfortabel, daß Ludwig XVIII. von einer Chambre introuvable sprach, einer in dieser idealen Zusammensetzung eigentlich 'unauffindbaren' Kammer. Die königliche Freude über dieses Geschenk währte allerdings nicht lange, da die radikal reaktionären Forderungen der Ultraroyalisten die Ausgleichspolitik des Monarchen und seiner Minister empfindlich störten und ein Wiederaufflamnen der Revolution befürchen ließen. Die Ultras führten Sondergerichte ein, die nach dem zweiten Sturz Napoleons dessen Parteigänger und andere Regimegegner ohne Berufungsmöglichkeiten aburteilten; außerdem setzten sie sich für eine Ausweitung des adligen Grundbesitzes und eine Stärkung des klerikalen Einflusses auf Politik und Gesellschaft ein. |
||||
So kam es zu der paradoxen Situation, daß die parlamentarische Mehrheit zunehmend gegen eine Regierung opponierte, die wegen ihrer politischen Mäßigung von den Liberalen unterstützt wurde. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb radikale Monarchisten wie Chateaubriand und Vitrolles für die weitergehende Parlamentarisierung eintraten, während konstituitionelle Liberale wie Guizot, Royer-Collard und Barante das monarchische Prinzip betonten und den Ultras sogar vorwarfen, Frankreich in eine demokratische Republik verwandeln zu wollen. So erklärte der konservative Liberale Royer-Collard Anfang 1816 in der Deputiertenkammer: |
||||
"An dem Tag, an dem die Regierung ihre Existenz nur noch der Mehrheit in der Abgeordnetenkammer verdanken wird, an dem Tag, an dem die Kammer die Minister des Königs ablehnen kann, an diesem Tag wird es nicht nur um die Charte geschehen sein, sondern auch um unser Königtum. ... An diesem Tag befinden wir uns in der Republik." |
||||
Der Demokratievorwurf, den ein Teil der Liberalen an die Adresse der Ultraroyalisten richtete, war nicht ganz unbegründet: In der Debatte über ein neues Wahlgesetz hatte gerade die extreme Rechte eine Herabsetzung des Wahlzensus von 300 Francs an direktem Steueraufkommen auf 50 Francs gefordert. Im Ergebnis hätte dies eine Stärkung der aristokratischen Kräfte bedeutet. Der ultraroyalistische Adel hoffte nämlich, durch die Senkung des Zensus seine bäuerliche Klientel in die Wählerschaft integrieren und so das politische Gewicht des liberalen Bürgertums neutralisieren zu können. Außerdem wollten die Ultras ein Zweiklassenwahlrecht einführen, daß der Masse der Wähler lediglich ein Vorschlagsrecht eingeräumt und die Endauswahl den Höchstbesteuerten überlassen hätte. Zur Verwirklichung dieser Pläne kam es jedoch nicht, da der König die Chambre introuvable am 5. September 1816 auflöste und die Wahlen der folgenden Jahre eine liberal-konstitutionelle Mehrheit ergaben. |
||||
Die Reaktionsphase der Jahre 1820-27 | ||||
Der liberale Trend hielt nur bis Anfang 1820 an, als mit der Ermordung des bourbonischen Herzogs von Berry eine Periode harter Reaktion einsetzte. Die bereits verwirklichte Pressefreiheit wurde nun wieder zurückgenommen, das Wahlrecht zum Nachteil der Liberalen reformiert. Außerdem setzte die nun von den Ultraroyalisten dominierte Regierung den zentralistischen Verwaltungsapparat ein, um die Wahlen gezielt zu manipulieren. Dazu stand den Präfekten als Vertretern der Zentralregierung in den Departements ein vielfältiges Instrumentarium zur Verfügung: Sie konnten mißliebigen Bürgern unter bürokratischen Vorwänden die Eintragung in das Wählerverzeichnis verweigern, parteiische Wahlleiter vorschlagen und oppositionelle Publikationen verbieten. Außerdem standen Polizei und Justiz bereit, um die Operationsfreiheit der Liberalen während der Wahkämpfe durch Beschattung, willkürliche Verhaftungen und zeitaufwendige Prozesse einzuschränken. Die von Polizei und Justiz angelegten Personendossiers erinnern in ihrer Detailverliebtheit oft an Akten der DDR-Staatssicherheit. |
||||
Als nach dem Tod Ludwigs XVIII. auch noch dessen reaktionär eingestellter Bruder Karl X. den Thron bestieg, schien das Schicksal des Parlamentarismus in Frankreich wenigstens vorläufig besiegelt. Doch die Vertreter der Reaktion überspannten den Bogen: Die Debatte über das Gesetz gegen die Sakrilegien, dessen Entwurf bei Hostienschändung das Abhacken der Hand vorsah, die Entschädigung der enteigneten Revolutionsemigranten und nicht zuletzt die Krönung Karls X., der sich in Reims wie ein mittelalterlicher Herrscher salben ließ, irritierten die Öffentlichkeit so, daß schließlich 1827 die ultraroyalistische Regierungsmehrheit in der Kammer abgewählt wurde. Entscheidenden Anteil am liberalen Wahlerfolg des Jahres 1827 hatte eine politische Vereinigung, die den umständlichen Namen 'Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott' ('Aide-toi le ciel t'aidera') trug. Diese Gesellschaft hatte sich zum Ziel gesetzt, möglichst viele konstitutionell gesinnte Bürger in die Wählerlisten eintragen zu lasssen. Sie informierte in Zeitungsartikeln und Flugschriften über die Modalitäten der Einschreibung und klärte potentielle Wähler darüber auf, wie sie durch das Addieren mehrerer Steueraufkommen innerhalb ihrer Familie den Wahlzensus erreichen konnten. In flammenden Appellen riefen die Aktivisten von 'Aide-toi le ciel t'aidera' ihre Mitbürger dazu auf, ihre patriotische Pflicht durch die Teilnahme an den Wahlen zu erfüllen. |
||||
Das Zerbrechen des postrevolutionären Kompromisses -- die Julirevolution von 1830 | ||||
Nach dem liberalen Wahlsieg von 1827 sah es zunächst so aus, als wäre Karl X. zu Zugeständnissen an die Liberalen bereit. Die Pressezensur und andere freiheitsbeschränkenden Ausnahmegesetze der Reaktionsjahre wurden zurückgenommen. Außerdem bereitete die Regierung Martignac Gesetzesentwürfe zur Selbstverwaltung von Departements und Gemeinden vor, die von den Liberalen schon lange gefordert worden waren. Diese Gesetze sollten einen Beitrag zur administrativen Dezentralisierung Frankreichs leisten; Bürgermeister und Departementräte wären dann nicht mehr von der Regierung eingesetzt, sondern von einem Teil der Steuerzahler gewählt worden. Als die Liberalen Nachbesserungen verlangten, zog Karl X. das Projekt aber wieder zurück. Im August 1829 ernannte der König schließlich das reaktionäre Kabinett Polignac. Der seit dem Rückzug der Dezentralisierungsgesetze schwelende Konflikt zwischen der königlichen Regierung und der Deputiertenkammer spitzte sich nun weiter zu. Als der Monarch dann am 26. Juli 1830 die Kammer auflöste, die Pressefreiheit aufhob und das Wahlrecht zugunsten der Großgrundbesitzer änderte, kam es zur Revolution. Dem zivilen Ungehorsam der Journalisten folgte ein Barrikadenaufstand der Pariser Bevölkerung, der sich bald auch die Armee anschloß. Karl X. mußte zugunsten Louis-Philippes aus dem Hause Orléans abdanken, der den Titel 'König der Franzosen' annahm und die revolutionäre Trikolore als Staatsflagge akzeptierte. Die Restauration der alten Bourbonendynastie auf der Grundlage eines postrevolutionären Kompromisses zwischen dem alten und dem neuen Frankreich war damit gescheitert. Es folgte das Experiment einer liberal-konservativen Bürgermonarchie. Das Zensusprinzip war damit keineswegs vom Tisch; allerdings wurde der Wahlzensus nun auf 200 Francs herabgesetzt. Mit bis zu 240 000 Männern war die Gruppe der Wahlberechtigten deutlich größer als während der Restaurationszeit. Außerdem gewann nun das Industriekapital gegenüber dem Grundbesitz zunehmend Einfluß auf die Politik. Das 'allgemeine' Wahlrecht für Männer wurde in Frankreich erst mit der Revolution von 1848 eingeführt; die französischen Frauen erhielten dieses Recht erst 1944. |
||||
Es wäre verfehlt, den Kompromißversuch von 1814 von Anfang an als eine historische Totgeburt zu betrachten. Das Frankreich der Restaurationszeit war ein Land in der Krise, das den 1789 einsetzenden Transformationsprozeß noch nicht abgeschlossen hatte: Ungeklärte Eigentumsverhältnisse und Entschädigungsfragen, die Beziehungen zwischen Staat und Kirche, der Einfluß vorrevolutionärer Eliten und das innenpolitische Gefahrenpotential einer unzufriedenen Armee seien hier nur als Beispiele für politisch-sozialen Sprengstoff und Instabilität genannt. Die dynastische Kontinuität des bourbonischen Königtums hätte entscheidend zur inneren Stabilisierung des Landes beitragen können, wenn sich der Monarch durch strikte Neutralität im Sinne Constants und Chateaubriands als überparteiliche Integrationsfigur angeboten hätte. Die französischen Liberalen haben die integrative Bedeutung des Königtums schon früh erkannt und vor allem auf die symbolische Kraft dieser Institution hingewiesen. So schrieb etwa Jacques Necker, der letzte Finanzminister Ludwigs XVI. und Vater Madame de Staëls im Jahr 1792: |
||||
"Die gemäßigte Monarchie läßt sich von der Vorstellungskraft der Menschen unterstützen, um mit den sanftesten Mitteln ihren Respekt und ihren Gehorsam zu erwirken. Dagegen ist in einer Republik alles nur Übereinkunft, Pakt zwischen Gleichgestellten und das Gesetz gleicht lediglich einer entschlossenen Überlegung." |
||||
Der konstitutionelle Monarch entzieht sich kraft seines dynastischen Prestiges der Sphäre des politischen Aushandelns und Infragestellens und kann so einen Pol gesellschaftlicher Ruhe und Einheit bilden. Die Verfechter der parlamentarischen Auslegung der Charte hielten es deshalb für sinnvoll, die Person des Monarchen metaphysisch zu überhöhen -- Chateaubriand bezeichnet ihn sogar als eine "Gottheit". Gleichzeitig verlagern sie den politischen Tageskampf auf die Ebene von Regierung und Parlament, denen konsequenterweise jede metaphysische Weihe abgesprochen wird. Für Benjamin Constant ist das Parlament nicht mehr als ein Ort des offenen Interessenkonflikts und des Aushandelns von Kompromissen: |
||||
"Was ist das allgemeine Interesse anderes als ein Ausgleich, der sich zwischen den Partikularinteressen vollzieht? Was ist die allgemeine Vertretung anderes als die Vertretung aller Partikularinteressen, die sich in den Punkten einigen müssen, die alle betreffen?" |
||||
Die demokratische Entwicklungsperspektive dieser Sichtweise liegt darin, daß Partikularinteressen nicht mehr moralisch abgewertet und einem abstrakten Gemeinwohl untergeordnet werden, wie dies für das jakobinische Politikverständnis typisch war. Das politische System der konstitutionellen Monarchie konnte und wollte eine Interessenvertretung im demokratischen Sinne nicht leisten; es hat sie aber im parlamentarischen 'Modellversuch' mit 100 000 Wählern gleichsam en miniature vorgeführt und ihre prinzipielle Machbarkeit trotz aller Turbulenzen 15 Jahre lang demonstriert. Voraussetzung hierfür war die Existenz eines starken, an Rechtsstaatlichkeit, freier Selbstentfaltung und politischer Partizipation interessierten Bürgertums. Die bürgerliche Gesellschaft war das Fundament der liberalen Demokratie, nicht umgekehrt. |
||||
|