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no. 20: ohr
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editorial |
Man braucht kein Medientheoretiker zu sein, um den vielbeschworenen visual turn rund um sich herum wahrzunehmen. Wohin man auch schaut: ikonische Zeichen, rotierende Plakatdisplays in visuellem Wettstreit mit Verkehrsampeln, oder Web-Animationen, die ihren 'Content' bunt erschlagen. Der Überdruß am visuellen Overkill ist allerdings nicht so neu wie wir glauben. |
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Goethe stellte fest: "Das Auge bevorteilt gar leicht das Ohr und lockt den Geist von innen nach außen." Gerade die im Vergleich zum Sehsinn nach innen gerichtete Qualität des Hörsinns schätzte sein zeitweiliger Freund Herder. So qualifizierte dieser das Auge zwar als den schnellsten, umfassendsten und hellsten Sinn, stellte ihm jedoch mehr als deutlich den tiefdringenden und unermeßlichen Hörsinn gegenüber. Er lehnte die bisherige Höherstellung des Auges ab und stellte das Gehör als besonders 'menschlichen' Sinn zwischen Fühlen und Sehen: "Da der Mensch bloß durch das Gehör die Sprache der Natur empfängt [...], so ist Gehör auf gewisse Weise der mittlere seiner Sinne, die eigentliche Tür zur Seele [...] geworden." |
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Mit Schopenhauer begann eine weitere Phase der Aufwertung des Ohrs gegenüber dem Auge. Von ihm inspiriert, prägte Nietzsche die Metapher vom "dritten Ohr", mit dem sich das ästhetische Hören erschließt. Vor allem in Deutschland vermißte er Sorgfalt beim Achten auf den Ton. |
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Heute scheint sich trotz -- oder gerade wegen -- des aktuellen Visualprimats erneut eine Aufwertung des Hörsinns durchzusetzen. Der Boom der MP3-Player hat die Hörkultur restlos privatisiert; fast alle lauschen ihrem persönlichen Soundmix, und zwar fast überall. Kaum noch ein Haushalt, geschweige denn ein Kino, ohne Dolby-Surround-System. Auch das letzte Reservat des geschriebenen Worts wird in Gestalt von Audiobooks in seine phonetische Urform zurückgeführt, und experimentelle Hörspiele erfreuen sich neu erwachten Interesses. |
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Müssen wir also nicht eher von einer 'auditiven Wende' sprechen? |
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Diese parapluie-Ausgabe nimmt sich vor, unseren ontogenetisch frühst- und höchstentwickelten Sinn aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und dem Phänomen des Hörens ein wenig genauer auf die Spur zu kommen. Die dabei anklingenden Tendenzen sind bisweilen gegenläufig und befinden sich nicht alle auf einer Wellenlänge. So konstatiert Andreas Haderlein in seinem Artikel ein verstärktes kulturelles und kulturtheoretisches Interesse am Ohr, welches aber laut Paul Gebhardt nicht unbedingt verhindert, daß eine per Hörbuch neu entfachte Begeisterung an den Gedichten Rilkes genau am phonischen Kern dieser Werke vorbeihört. Susanne Bisgaard dokumentiert die soziale Dimension der Anstrengungen von Hörgerätträgern, die ihre auditive Beeinträchtigung unter Umständen als einen Selbstverlust erfahren, während Thomas Wägenbaur Arten und Weisen eines kognitiven Hörversagens identifiziert, von denen viele -- ob intentional oder nicht -- im alltäglichen Umgang zur Befestigung des Selbst in der Kommunikation mit anderen dienen. Diese und andere Beiträge zeigen an, daß wohl nicht von einem Vorrang des Ohrs vor dem Auge (oder umgekehrt) gesprochen werden kann, daß aber Momente der sinnlichen und gedanklichen Konzentration auf den Hörsinn Erstaunliches über unsere Verfassung zutage fördern können -- wie zum Beispiel Brian Gygis Beschreibung der Schwierigkeit, im Rahmen der Zen-Meditation völlig absichtslos zu hören, oder Alex Schafferts Umwertung aller kulinarischen Werte beim Dinieren in der Dunkelheit. |
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Die Maßlosigkeit des Ohres, das laut Herder "die Seele in eine süße Verrückung setzt", läßt sich wohl kaum treffender charakterisieren als durch die allegorischen Exzesse der dunklen Ironie David Lynchs, denen Oliver Speck nachgeht, oder der auralen Verführung durch Klänge im öffentlichen Raum, die Sacha Knoches Bilder vom Sónar-Festival in Barcelona dokumentieren. Das Ohr als Schnittstelle also von Innen und Außen, in der sich diese beiden Gegensätze regelmäßig verkehren und ineinander stülpen auf ihrem nicht immer rational determinierten Gehör-Gang. Gehen Sie ein Stück mit, und überlassen Sie sich den Frequenzen, die wir aus der ganzen Bandbreite des Themas für Sie ausgewählt haben. |
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Anke Bahl |
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