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no. 11: virtuelle städte
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revisionen |
Constant: Neu-Babylonvon Toby Norris |
Abbildungen des Projekts Neu-Babylon siehe: |
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Künstler und Architekten der Avantgarde sind seit jeher damit befaßt, die Welt nach ihren eigenen, oftmals eher kuriosen Maßgaben umzubauen. Das Credo französischer Sozialisten des neunzehnten Jahrhunderts wie Henri de Saint-Simon und Pierre Joseph Proudhon, denen zufolge Künstlern geistige und vielleicht gar politische Leitfunktion zuzutrauen sei, hat man sich dabei in der Regel ohne viel Aufhebens zueigen gemacht. Die Ergebnisse gleichwohl sind oft nichts weniger als erschreckend. Ob es nun Frank Lloyd Wrights Entwurf einer idealen Siedlung namens Broadacre City sei, die von der ominösen Figur eines "Kreisarchitekten" mit praktisch unbegrenzter Macht über die Lebensumstände der Leute regiert werden sollte, oder aber die Città Nuova im Stile Fritz Langs, die der italienische Futurist Antonio Sant'Elia plante -- man kann nur vom Glück sagen, daß die überwiegende Mehrheit dieser Projekte niemals über das Reißbrett hinausgekommen ist. |
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Dem niederländischen Künstler-Architekten Constant Nieuwenhuys (Constant gennannt) muß man anrechnen, daß sein Projekt Neu-Babylon, das er von den späten 1940ern bis 1970 entwickelte, sich auf den ersten Blick weniger autoritär als die meisten seiner avantgardistischen Vorgänger ausnimmt. Neu-Babylon nahm in den späten 50er Jahren Form an, als Constant Teil der Situationistischen Internationale war, der vom französischen Autor und Regisseur Guy Debord ins Leben gerufenen Gruppe. Die Situationisten waren radikal antikapitalistischer Gesinnung, aber ihre gleichfalls radikale Ablehnung aller Formen zentraler Regierung hielt sie zugleich davon ab, sich eine politische Revolution zu erträumen, die lediglich eine Machtform durch eine andere ersetzen würde. Stattdessen entwickelten sie das Prinzip des 'Einheitlichen Urbanismus', demzufolge Architektur "das einfachste Mittel sei, um die Realität zu formen, um Träume zu erzeugen". Durch eine Umgestaltung urbaner Texturen wollten die Situationisten die Leben derer neu definieren, die in diesen Geweben zu leben haben. Das Ludische oder Spielerische war den Situationisten dabei von zentraler Wichtigkeit. Die zunehmende Freizeit, ihrerseits ermöglicht von der fortschreitenden Mechanisierung der Arbeit, sollte so ausgenutzt werden, um das Alltagsleben der Stadtbewohner weg vom Broterwerb und hin zum Spiel zu orientieren. |
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Wie seine situationistischen Mitstreiter wandte sich auch Constant gegen die grassierende bevorzugte Berücksichtigung automobiler Bedürfnisse bei der Stadtplanung, die das Ende der Straße als sozialem Raum ankündigte. Seine Lösung des Problems ging dahin, die gesamte materielle Struktur von Neu-Babylon oberhalb der Erdoberfläche auf eine Reihe von Pfeilern zu setzen, unter denen dann sämtlicher Verkehr laufen sollte. In den Räumen von Neu-Babylon selbst eröffnete sich so die Möglichkeit eines ununterbrochenen spielerischen Prozesses. Die großen, offenen Innenräume sollten von situationistischen Technikerteams permanent umgestaltet werden. Die Einwohner von Neu-Babylon würden ungehindert durch diese Räume wandern, in Herbergen schlafen, und vom Zufall geleitet auf die in die Stadtstruktur eingelassenen Labyrinthe und Stimmungsräume stoßen: den lauten Raum mit seinen grellen Farben und ohrenbetäubendem Lärm, den leisen Raum mit seinen schallgeschützen Wänden, den erotischen Spiel-Raum, undsoweiter. Der ganze Innenraum sollte klimatisiert sein, mit absichtlich gesteuerten Schwankungen der Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Lichtmenge. Der Gesamteffekt würde so laut Constant einer "wohltuenden Gehirnwäsche" gleichkommen: ihr Design sollte verhindern, daß die Einwohner je einer abstumpfenden Routine zum Opfer fallen würden. |
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Den ambitioniertesten Theoretikern der Situationistischen Internationale allerdings war Neu-Babylon nicht gut genug. Constants durchaus konkret gemeinte Entwürfe scheinen die Gruppe beunruhigt zu haben, die die Theorie stets der Praxis vorzog; Constants Bereitwilligkeit, eine aus durchweg neuen Gebäuden und Strukturen bestehende Stadt zu planen, widersprach zudem Guy Debords Ansicht, daß die Schönheit jeder Stadt gerade im Prozeß der 'Sedimentierung' liegt, dank welchem einzelne Spuren ihrer Vergangenheit sogar die aggressivsten Formen kapitalistischer Neubebauung überleben können. Constants Technophilie brachte diesen schließlich in unüberbrückbaren Konflikt mit seinen situationistischen Genossen. 1960 trat er aus der Gruppe aus, und im folgenden Jahr wurde er in ihrer Zeitschrift als "hinterhältiges Subjekt" verurteilt, "das sich schamlos als Agent einer Integration der Massen in die kapitalistische technische Zivilisation verkauft". |
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Der Plan von Neu-Babylon, gedacht als Modell einer idealen neuen Welt, liest sich heute eher als dystopisches High-Tech-Szenario denn als Liebesgruß an den Kapitalismus. Durch Constants Leitprinzip einer gezielten Verwirrung der Einwohner seiner Stadt wird das Autoritätsdenken quasi durch die Hintertür wieder eingeschmuggelt, wenn es auch angeblich auf einem idealistischen Verständnis der Vorzüge des Spielerischen basieren soll. Die ökologischen Implikationen sind gleichfalls horrend: "In diesen immensen Strukturen sehen wir die Möglichkeit verwirklicht, die Natur zu unterwerfen und das Klima unserem Willen gemäß zu gestalten" schrieb Constant im Jahr 1959. Nur gut, daß Neu-Babylon heute lediglich als ein Ideal existiert, so wie zahlreiche voraufgegangene Utopien der Avantgarde auch. |
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(Aus dem Amerikanischen von Martin Klebes.) |
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Literaturhinweise
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