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no. 11: virtuelle städte -> stadtvisionen
 

Stadtvisionen

von Susanne Hauser

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* diskussion

Nicht die Veränderung der Bausubstanz hat die Entwicklung deutscher Städte in den letzten zehn Jahren am nachhaltigsten beeinflußt, sondern die Entstehung von Stadtvisionen, die bestehenden Städten neue Funktionen verleihen sollen. Bei der Erzeugung mediterraner Einkaufslandschaften und Kulturparks im Ruhrgebiet sind die anfallenden materiellen Umbauten nur noch sekundäres Mittel, nicht Primärzweck. Eine neue Stadt erzeugen heißt also vor allem: einzelne Aspekte (über)betonen, die sich zuweilen an der überkommenen Infrastruktur orientieren, oftmals aber auch nicht.

 

I.

Was eine Stadt ausmacht, ist heute unklarer denn je. Das ist keineswegs ein Effekt der Verbreitung postmoderner Skepsis oder des Verschwindens der erdenschweren Stadt in den Kommunikationsnetzen, von dem manche träumen und andere alpträumen. Städte erfüllen nur einfach die Erwartungen nicht mehr, die an sie mit einigem Grund über viele Jahrhunderte hinweg gerichtet waren.

Die Städte Europas, und um die geht es hier, haben im 20. Jahrhundert tiefgreifende Veränderungen ihrer Funktionen erfahren, die sich in den letzten Jahrzehnten beschleunigt hat. Noch in den Städten um 1900 waren im allgemeinen in den Zentren politische Funktionen vertreten, lokalisiert und zentral repräsentiert, es gab eine relativ stabile Bevölkerungsschicht, die diese Funktionen trug, dazu gab es einen Verkehrsknotenpunkt, in größeren Städten schon mehrere, es gab den Markt, den Handel, die Verwaltung, die ins Zentrum drängten oder es erweiterten, eine zahlreiche Wohnbevölkerung daselbst und das dichteste und genauest verfügbare Bildungs-, Wissens- und Informationsangebot. Städte waren überdies meist, in ihrem Kern wie an ihrer Peripherie, spürbar Orte der Produktion, und insofern je zentrale Teile einer Ökonomie, in der die Entmaterialisierung der Wertschöpfung noch kaum eine Rolle spielte. Die Abgrenzung von Städten fiel vergleichsweise leicht, sie hatten ein Umland, das definitiv nicht Stadt war, sondern Land oder auch Landschaft.

Ich bin absichtlich ein ganzes Jahrhundert und in eine nicht nur durch Industrie geprägte oder entstandene europäische Stadt zurückgegangen. Und ich habe abstrahiert, um den Unterschied deutlich zu machen. Heute ist in den dicht besiedelten Gebieten Europas die äußere Abgrenzung der Städte in keiner sinnfälligen Weise mehr möglich und auch kaum mehr praktisch sinnvoll. Auch überlagern sich die traditionellen städtischen Funktionen nicht mehr selbstverständlich an einem zentralen Ort oder wenigen Orten dieser Art. Die Funktionen sind entzerrt, verbrauchen mehr Platz oder sind in Räume und Organisationsformen anderer Art und Qualität abgewandert. Keinesfalls aber sind sie mehr lokal an irgendein ohnehin schon 'dichtes' Zentrum gebunden.

Während die städtischen Funktionen ihre Ordnung und ihre Orte verlagert und vervielfältigt haben, hat eine Angleichung und damit eine weitgehende Urbanisierung aller Lebensverhältnisse stattgefunden, mögen sie nun innerhalb oder außerhalb von Stadtverwaltungsgrenzen lokalisiert sein. Und ein weiteres Moment, das die Situation der Städte heute bestimmt, ist, daß die Wahl zur Niederlassung an einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Stadt, in einem bestimmten Land sowohl für Unternehmen wie für die heute gesuchten steuerzahlenden Bürger und Bürgerinnen entschieden freier und einfacher ist als vor 100 Jahren.

Dazu haben Infrastrukturausbauten und Technologien beigetragen, die die Ortsabhängigkeit von Produktionen und anderen Aktivitäten verringert haben. Unter anderem dieser Umstand zwingt Städte zur Konkurrenz mit anderen Städten um Investitionen und finanzkräftige Einwohner und erzeugt Stadthierarchien in globalem Maßstab. Deregulierungen von etablierten Formen des Umgangs mit (Lebens-)Zeit und Raum sind für Städte spürbar relevante Tatsachen insofern, als erwünschte soziale Bedingungen und ökonomische Verhältnisse auf einem flexiblen, mindestens nationalen, zunehmend internationalisierten Markt erkämpft sein wollen.

 

II.

Unter diesen Bedingungen spielen Visionen der Stadt und ihre Manifestationen in allen möglichen Medien ihre Rolle für das Konzept des Städtischen und damit auch für die baulich manifestierte Stadtentwicklung.

Von Visionen spreche ich in diesem Zusammenhang einigermaßen unbekümmert, weil sich mit diesem Ausdruck seit den 1980er Jahren nahezu alle hoffnungsfrohen Zukunftserwartungen verbinden, besonders, wenn sie geschäftlicher Natur sind. Und seit den 1990er Jahren verbinden sich ökonomische und visionäre Ziele, allgemein gesagt: gesellschaftliche Erfolgs-, wenn nicht Glückserwartungen nahezu reflexartig mit neuer Kommunikationstechnologie, auf die die Wünsche nach einer anderen, besseren und ökonomisch zufriedenstellenderen Situation projiziert werden.

So steht der weite und territorial nicht fixierte Raum des Internet, durchaus nicht ohne Grund, im Verdacht, visionäre Ideen der Stadt zu enthalten, zu fordern oder auch zu produzieren. Verschiedenste Vorstellungen bis hin zu Stadtutopien sind schon an Netzstädten durchgespielt, einige dieser Städte sind so konstruiert, daß sie bestehende Städte auf verschiedenste Weise in ihrem Funktionieren zu unterstützen suchen. Auch bildet sich das Verhältnis zwischen Stadt und Visionen der Stadt, die sich über neue Technologien definieren, differenziert aus, ebenso ein Verständnis vom städtischen Raum und seinen künftigen Entwicklungen, der sich allmählich deutlich von Kommunikationstechnologien und ihren wirtschaftlichen Bedingungen und Folgen bestimmt zeigt.

Dennoch sind es die damit zusammenhängenden Visionen und Erwartungen nicht, die hier zunächst Thema sein sollen. Es geht hier um Visionen, die ohne expliziten Rekurs auf neue Technologien auskommen, und den Stadtumbauten der letzten zehn Jahre als Leitsterne gedient haben.

 

III.

Die gemeinsamen Merkmale der charakteristischen Stadtumbauten der letzten zehn Jahre sehe ich darin, daß sie Versuche darstellen, die entschwindende Urbanität festzuhalten oder neu zu erfinden und Städte und städtische Orte als Materialisierungen von relativ kurzfristigen und kurzlebigen Stadtvisionen zu erzeugen.

Ihre Vorraussetzung ist, daß sie sich auf Städte beziehen, deren Urbanität fraglich geworden ist und die in ihrer Gestalt, ihrer Funktion und ihrem Gebrauch einer Verfügbarkeit für neue Visionen keinen Widerstand entgegensetzen können.

Über diese Visionen und ihre medialen Niederschläge stellt sich Stadt nun erst her, möglicherweise nur für eine kurze Zeit. Was den gerade passenden städtischen Ort für eine aktuelle ökonomische Entwicklung, für eine soziale Konstellation kreiert und für eine Weile zusammenhält, ist die Vision. Sie findet ihren Grund oder Anlaß nicht mehr in einer baulichen Struktur, einer geographischen Situation, einem als fest zu begreifenden sozialen Gefüge, sondern reagiert auf Gelegenheiten und günstige Umstände verschiedener Qualität, die den Einfluß der einzelnen Stadt allemal zu übersteigen pflegen. Im Prinzip kann die Stadt der letzten zehn Jahre 'überall' erzeugt werden und ist von vornherein ein Simulakrum. Das Spiel zwischen der Verstärkung dieser Entwicklung und ihrer Gegensteuerung halte ich für das zentrale stadttheoretische und städtebauliche Phänomen seit Anfang der 1990er Jahre.

 

IV.

Der für das Florieren der Stadtvisionen wichtigste Umstand ist die Aushöhlung der alten Stadt, das heißt, der Umstand, daß es klassische Stadtzentren mit jener großen Dichte von Funktionen und Aktivitäten, von der oben die Rede war, nicht mehr gibt. Statt dessen gibt es das angestrengte Bemühen von Städten um den Erhalt, die Dichte und Belebung und die Urbanität ihrer Innenstädte, die sich verflüchtigt. Das ist ein Bemühen um eine alte Realität, die sich zunehmend als rückwärtsgewandte Vision entpuppt.

In dem Prozeß einer visionären Rückschau ist in gewisser Weise schon jene Entwicklung der mittleren 1970er und 80er Jahre engagiert, die auf den Abriß und den Verfall alter Städte oder Stadtkerne antwortete: Das Verschwinden des Vertrauten und das Entweichen des Urbanen aus der Stadt führten damals zu großen Anstrengungen in Denkmalschutz und -pflege. Nach dem authentischen Altstadtgefühl gab es in dieser Zeit eine enorme Nachfrage. Der Stadttourismusboom der 80er Jahre richtete sich unter anderem auf den Besuch von wiedererstandenen, intakten alten Städten, in denen die Bevölkerung unter anteilnehmender Beobachtung der Zugereisten zwischen den echten alten Häusern geschäftig ihren alltäglichen Vollzügen und ihrer städtischen Tradition nachging.

Auch wenn sie in eine Geschichte des Verschwindens alter Funktionen und der Neuerzeugung der Städte über Visionen gehören, so funktionieren und funktionierten die erneuerten alten Städte als anziehende Orte eigener Art und geschätzter (Lebens-)Qualität für die Einwohner.

Die funktionale Aushöhlung der alten Städte und Stadtkerne hat sich in den 1990er Jahren dennoch nicht wesentlich verändert oder aufhalten lassen. Selbst als Zentren des Einzelhandels, eine klassische Funktion, haben Innenstädte Schwierigkeiten in Konkurrenz zur "Grünen Wiese". Einkaufszentren wiederum werden zunehmend darin perfektioniert, städtisches Leben als Idyll zu simulieren, verkürzt um alles, was ein Problem darstellen oder an soziale oder politische Fragen erinnern könnte.

Wenn in dieser Lage alte Stadtzentren dem Abfließen der Kaufkraft und damit dem Abfließen ihrer eigenen wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung nicht tatenlos zusehen wollen, so müssen sie ihre Vorstellungen von sich selbst revidieren. Möglicherweise müssen sie von Einkaufszentren lernen, ein Simulakrum ihrer selbst als ihr Ideal, als ihre Vision zu entwerfen und zu bauen?

Das ist keine skurrile Vorstellung, sondern ein zur Zeit weithin stattfindender Prozeß. Weil die Innenstädte darben, kehrt der Einkauf zurück, nun aber in der Gestalt ihres großflächigen Umbaus zur shopping mall, dem "urbanistische(n) Vehikel beim Versuch des Stadtrecyclings im Zeitalter der elektronischen Produktion" (Gerwin Zohlen). Gigantische Verkaufsflächen sind entstanden und werden weiter entstehen. In ihnen verbinden sich Shopping, Entertainment und ständig veränderte Szenarien, nicht selten umhüllt von Architektur in großer Pose.

Die Gründe für die Anziehungskraft und das Prosperieren der neuen Zentren (und für den damit meist verbundenen wirtschaftlichen Abstieg ihrer Umgebung) sind vielfältig. Veränderte Zeitbudgets der Einkaufenden gehören dazu, ein Einkaufsverhalten, bei dem das Einkaufen konzentriert und mit kurzen Wegen erledigt sein will, die Attraktivität jener aufwendigen Ästhetik, die sich mit der Attraktivität avancierter Medienästhetiken messen kann und muß, und nicht zuletzt die Möglichkeit, das Freizeit-Shopping in den 'Kulissen des Glücks' zwanglos mit den Erlebnisintensitäten eines Themenparkbesuchs zu verbinden. Letzteres werden in Deutschland auf jeden Fall jene großen Zentren in Perfektion bieten, die derzeit in Bremen, Frankfurt und Dortmund geplant sind.

 

V.

Ein weiterer Funktionsverlust, der nicht nur Innenstädte beeinflußte, sondern auch die Ränder der Städte betraf, lieferte sie ebenso deutlich visionären Zugängen aus und machte sie zum selbstverständlichen Gegenstand der Projektion verschiedenster virtueller Welten: Deindustrialisierungsprozesse, langwierige oder auch plötzliche Schließungen von Produktionsanlagen veränderten die Bedingungen in den betroffenen Städten drastisch. Nicht jede Stadt hatte eine Alternative zur alten Produktion zur Verfügung.

Zu den Folgen der Deindustrialisierung gehörte neben Arbeitsplatzverlusten und Zu- und Abwanderungen auch das Brachfallen unbrauchbarer Gebiete. Aus dieser Lage hat sich eine Aufgabe ergeben, vor der Stadt- und Landschaftsplanung, Stadtentwicklung und Architektur so noch nie zuvor gestanden hatten: Es galt, genutzte und teilweise verbrauchte Gelände und verarmte Regionen großflächig neu zu erfinden. Kaum ein Thema hat soviele Aufrufe zu neuen Visionen ausgelöst, wie die Frage danach, was denn mit den alten Industriegebieten geschehen soll.

Viele der Konzepte, von denen es Beispiele in allen alt-industrialisierten Ländern gibt, knüpften kaum an die vorherige Situation an, sondern orientierten sich an anderen Maßstäben. Der bekannteste und umfangreichste Fall der konfliktreichen Art dürften die Docklands in London sein, deren Entwicklung vorwiegend auf die Entstehung eines neuen international konkurrenzfähigen Bürostandortes auf zeitgemäßem technischen Niveau zielte. Und wenn das umstrittene, heute überregional anziehende "Centr-O" auf dem Gelände eines ehemaligen Stahlwerks in Oberhausen ein Einkaufszentrum mit 'mittelmeerischem Ambiente' zu sein verspricht, dann ist es nicht die vorgefundene städtische Situation, an der sich dieses Ziel entwickeln konnte.

Auch die Umbauten, die im letzten Jahrzehnt in den Städten und Orten des Ruhrgebiets durch die Internationale Bauausstellung Emscher Park initiiert worden sind, sind vor allem das Ergebnis einer Gestaltung über eine Vision, die hier allerdings andere und stärker situationsbezogene Wege einschlägt als im Centr-O. Sie führte zu Umnutzungen, Ansiedlungen einer Vielzahl von neuen Betrieben und Forschungseinrichtungen, einer historisch informierten und informierenden Musealisierung, der Sanierung und Schaffung von Wohnbauten, der nur gelegentlichen Disneyfizierung und vor allem zu einer Landschaftsgestaltung, die sich als Grundsatzerklärung zur neuen Kulturlandschaft mit alter Industrie an der Emscher lesen läßt. Der initiierte Prozeß war so erfolgreich, daß andere Gebiete, wie etwa die weitgehend vom Braunkohletagebau bestimmte Lausitz, diesem Beispiel zu folgen versuchen. Und nicht nur die Lausitz, Unternehmen und andere Organisationen in der reichen Region Rhein-Main versuchen sich gerade in einer an diesem Prozeß orientierten visionären Arbeit an ihrer Region.

 

VI.

Ein dritter Umstand, der Stadtvisionen beflügelt hat, hat nun doch direkt mit Folgen neuer Technologien zu tun: Viele Tätigkeiten sind durch neue Technologien durchaus robuster geworden gegen die Eigenschaften der konkreten Örtlichkeiten, an denen sie ausgeführt werden. Während die Stadtplanung für die funktionalistische Stadt genau wußte, wie die Industrie, das Wohnen, der Verkehr und die Erholung zu trennen sind, und damit Orte verschiedenen und spezialisierten Typs schuf, ist das heute kaum mehr denkbar. Für einige Berufe und einige Aufgaben ist überhaupt die Fixierung an einen funktional bestimmten Platz gar nicht mehr vonnöten.

Ein Aspekt davon, und nur den greife ich hier heraus, ist, daß Arbeiten und Wohnen für viele Erwerbstätige wieder vermehrt in eins fallen, und beides ist dabei, dank einer Verkehrsinfrastruktur, die Beweglichkeit sehr unterstützt, weitgehend gleichgültig in Bezug auf den Ort, an dem man schließlich wohnt und arbeitet. Deshalb löst sich die Konstituierung dieser 'sozialen Räume', für einige, vor allem für privilegierte, Gruppen von territorialer Fixierung und öffnet den Raum zur freien Wahl und symbolischen Besetzung von Territorien. Für die von Raum- und Zeitzwängen befreiten Arbeitenden ergibt sich die Möglichkeit, sich einen Ort oder auch Orte zu (er)finden, wenn sie denn einen oder gar mehrere haben möchten.

Diese Art der Loslösung vom Territorium und diese Schaffung eines im Grunde gleichgültigen Raumgefühls macht einen bestimmten Typus von Vision so anziehend für viele, nämlich den der geschützten und auch bewachten Siedlung, die verspricht, im Vollsinn dessen, was Peter Sloterdijk als "intra-uterine Einbildungskraft" beschrieben hat, ein Ort mit einem bestimmten Charakter zu sein, der ein bestimmtes Wir-Gefühl gleich im ersten Verkaufsprospekt suggeriert, im Angebot zusammen mit günstigen und am besten fußläufig erreichbaren Einkaufs-, Sport- und sonstigen Erholungsmöglichkeiten, und der selbstverständlichen Anbindung an alle möglichen Verkehrs- und Kommunikationswege. Beispiele für diesen Typ der heimeligen, geschützten Vision eines (klein)städtischen Ortes finden sich allenthalben in den USA, extrem ausgeprägt wohl in der von der Walt-Disney-Corporation gebauten Siedlung, die den schönen Namen Celebration trägt, doch folgen ihr viele Entwürfe auch deutscher Siedlungen.

 

VII.

In den hier thematisierten Zusammenhängen ist von weiteren stadträumlichen Effekten internationaler Wirtschaftsentwicklungen zu sprechen. Prägend für die neue Gestalt alter Innenstädte sind, zumindest in den Städten, die sich als 'Standorte' profilieren konnten, Büro- und Infrastrukturbauten international agierender Unternehmen und Investmentgruppen, Teil jenes "neuen Internationalismus" (Vittorio Gregotti), der seine materiellen Strukturen ausbildet entlang unsichtbarer, immateriell gezogener Linien des Finanzkapitals, technischer und wissenschaftlicher Information.

Was sie in diesem Zusammenhang so interessant macht, ist, daß zumindest einige der großen Investoren vollständig ausgeformte Firmenkulturen und -ziele für die Ansiedlung und ihre Umgebung mitbringen, Visionen, die sie teils schon in vielen Versionen und Ländern realisiert haben. Die importierten Modelle formen dann jeweils eine bestimmte Stadt oder einen Stadtteil nach einer ubiquitären Vorstellung.

Komplementär dazu verhalten sich nicht selten Visionen der lokalen Stadtverwalter und -manager, die eine wichtige Rolle im Prozeß der Ansiedlung spielen. Sie müssen in einem internationalen Markt, auf dem sie mit anderen Städten konkurrieren, eine marktgerechte, attraktive Vision ihrer Stadt präsentieren, die letztlich (mit) über die Qualitäten entscheidet, die dort entstehen können. Diese Visionen sind integraler Teil der Politik und Ökonomie nicht nur der Metropolen, sondern auch kleinerer Städte.

Sie reagieren in ihren marktgerechten Selbstbildern auf den Umstand, daß die Wahl zur Niederlassung an einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Stadt für Unternehmen, übrigens auch für die gesuchten privaten Steuerzahler, weitgehend frei entscheidbar geworden ist. Spätestens in den 1990er Jahren konkurrieren Städte über die von ihnen propagierten Stadtvisionen nach den Spielregeln medienästhetisch aufbereiteter Attraktivität.

 

VIII.

Die meisten der genannten Visionen zehren von älteren Stadtmodellen, die sie punktuell recyceln, um die Stadt zu recyceln: dem Modell der alten Stadt, dem der aufregenden, erlebnisreichen, dichten Stadt, dem der Stadtlandschaft, der idyllnahen Klein- und Vorstadt, der City.

Eine Betrachtung, die Stadtvisionen auf die hier genannten eingrenzt, zeichnet selbstverständlich nicht das ganze Bild. Stadtbewohner, die an den vorgestellten Visionen keinen Anteil haben oder nehmen, haben eigene Bilder, eigene Nutzungsstrukturen ihres Umfeldes, auch möglicherweise anderen Zielen folgende Visionen der Stadt. Das gilt für nahezu jede soziale Gruppe, die sich als mehr oder weniger festen kulturellen Zusammenhang in der Stadt versteht, für Jugendkulturen, für Zuwandernde, für lange Ansässige mit und ohne Interesse an lokalen Traditionen und so fort. Was mich da so sicher sein läßt, ist der Umstand, daß sich bei größeren Umbauprojekten im Sinne der vorgestellten Visionen eben doch gelegentlich Widerstand regt.

Bei den hier genannten Visionen handelt es sich aber immerhin um diejenigen, die in den letzten zehn Jahren die Städte materiell am nachhaltigsten geprägt haben. Es sind nicht die einzigen Modelle, die auf die Unklarheit darüber, was die Stadt nach der Verflüchtigung ihrer zentralen Funktionen ausmacht, antworten können: Weil so unklar ist, worum es sich handelt, wenn von Städten die Rede ist, sind sie zur Zeit für viele Visionen und Experimente offen.

 

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