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no. 3: unkultur -> editorial
 

editorial

'Unkultur' negiert Kultur -- zumindest einen Begriff davon. Wenn das so einfach wäre, aber jeder Anhänger des 'schlechten Geschmacks' -- und derer gibt es heute viele -- weiß, wovon die Rede ist: von Lutschern mit Würmern, Musik aus dem Sampler, Pulp-Fiction etc. Natürlich gibt es einen kulturellen Fortschritt, der sich immer über die Negation der früheren Kulturstufe fortschreibt, aber wir wissen längst, daß das keine lineare Entwicklung ist. Der Punkt, an dem die einstmals konstitutiven kulturellen Gegensätze immer noch einmal in sich zerbrechen, ist längst erreicht und nennt sich 'Postmoderne'. Wenn die Unterscheidung von Natur und Kultur, hoher und niederer, eigener und fremder Kultur nicht mehr eine historische Kulturrevolution markiert, sondern ständig und von jedem unternommen werden kann, dann sind wir bei einer Hybridkultur, der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen angekommen. Definiert sich Kultur als Heterogenität, negiert sie die Auffassung von Kultur als Homogenität. Vom Standpunkt dieser Tradition wäre also von Unkultur zu sprechen. Vom Standpunkt der Unkultur -- aber hierfür gibt es keinen Standpunkt, weil alles in die kulturelle Bewegung hineingerissen wird -- ist Homogenität eine Fiktion, eine Illusion, eine Ideologie und Kultur schlicht ein Kampfbegriff. Ob es eine Tradition der Unkultur gibt? Sowenig wie eine Tradition der Postmoderne, die es bekanntlich immer schon gab.

Kultur war nie das, was sie sein sollte: die allvereinigende Formel gesellschaftlicher Vielfalt. Sie war zwar Repertoire und Index kollektiver Normen und Werte, aber der einzelne verhielt sich eher antagonistisch dazu. Ohne Vorschrift keine Abweichung, ohne Abweichung keine Individualität. Befolgen alle immer brav die Vorschrift stagniert die Gesellschaft, sie wird inflexibel und erscheint zunehmend brutal, denn unter der virtuellen Käseglocke angeblich fixer kultureller Werte ändern sich ständig die Verhältnisse. Wie Zellen und andere lebende Organismen sind Kulturen dissipative Systeme: für Information offen, aber operativ geschlossen. Italienische Spaghetti waren uns willkommen, aber man ißt sie auf deutsche Art: mit Löffel und Gabel. Oder ganz anders: Derek Walcott liest Homers Odyssee, aber sein Omeros ist eben ein karibisches Epos. Unkultur ist der Platzhalter dafür, was an kultureller Dynamik nicht mehr fixierbar ist. Sie steht für den Import und Export symbolischer Energie, über den Kultur nicht mehr als Kultur, sondern als Kitsch, Abschaum, Gesockse, Dreck etc. Buch führt.

Auch Unkultur ist natürlich ein Kampfbegriff, nur nicht im Namen einer Nation, einer Schicht, einer Gruppe, einer autoritativen Persönlichkeit, sondern im Namen des einzelnen Grenzgängers zwischen den Kulturen. Wer den Verlust kollektiver Weltbilder erlebt, wird zum modernen Nomaden. Wer keiner traditionellen Kultur mehr angehört, erfährt dies schmerzhaft als Ausschluß oder vollzieht dies lustvoll als Ablehnung, wenn nicht beides zugleich. Aus der Perspektive der Kulturen gehört er/sie der Unkultur an, aus seiner/ihrer eigenen Sicht heraus schließt sie/er Freundschaften und geht Allianzen ein über die Grenzen hinweg. Nicht zuletzt macht dies die Telekommunikation möglich. Kreative Parasiten der ökonomischen Globalisierung sind es, die ständig das Projekt der allvereinigenden, kommerziellen Unternehmungen unterlaufen. Das gelingt auch noch da, wo Konzerne nicht nur im Namen der Kulturen agieren -- Deutsche Lufthansa, AT&T, Air France etc. --, sondern auch da, wo Unkultur selbst fixiert wird, um sie zu vermarkten. Wo z.B. Pop-Musik vermarktet wird, entsteht sofort die neue Protestbewegung zur bereits vermarkteten. Homogensierung und Heterogenisierung, repräsentative Fixierung und performative Auflösung, Verräumlichung und Verzeitlichung sind die Pole kultureller Dynamik, der auch der Zuschauer sich nicht entziehen kann.

Doch von Zeit zu Zeit wird es wichtig, daß Anhänger einer Unkultur sich miteinander verbünden und eine Gegenkultur zustande bringen, im Wissen, daß sie zwar nicht prinzipiell, aber doch strategisch besser ist als die dominante Kultur. Die bloße Dynamik der Unkultur, wie sie jeder erfährt, ist ein theoretisches Wissen, das notwendig zwar, aber nicht hinreichend ist für praktische Veränderungen. Im Übrigen: auch ohne unser Wissen verändert sich Kultur, es ist immer mehr Unkultur als Kultur.

Alexander Schlutz
Thomas Wägenbaur

 

autoreninfo 
Dr. Alexander Schlutz leitet die parapluie-Redaktion, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft in Bonn, Tübingen und Seattle, und unterrichtet zur Zeit Englische Literatur am John Jay College of Criminal Justice in New York City.
E-Mail: alexander.schlutz@parapluie.de

Prof. Dr. Thomas Wägenbaur M.A. in Komparatistik, University of California/Berkeley; Ph.D. in Komparatistik, University of Washington/Seattle, 2000-2009 Prof. of Cultural and Cognitive Studies und Director of Liberal Arts an der International University in Germany/Bruchsal. Zur Zeit freier Dozent und Kommunikationsberater. Veröffentlichungen zu Literatur-, Kultur- und Medientheorie. Forschungsschwerpunkte: natürliche vs. künstliche Sprachverarbeitung (Philosophy of Mind); Postkolonialismus und Globalisierung; Kognition in der Entscheidungstheorie.

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