Bielefeld, 08. Okt 2008_
Kommst Du nach Bielefeld, so vergiß den Photoapparat nicht.
Anderenfalls drohen anschließend umständliche Diskussionen mit
Freunden und Bekannten, denen es zu beweisen gilt, daß die
sagenhafte Stadt am Teutoburger Wald tatsächlich existiert,
beispielsweise keine Erfindung von Kleist ist. Bielefeld eilt meiner
Erfahrung nach der Ruf voraus, es gebe sie gar nicht; was übrigens
noch eines der netteren Komplimente ist, die den bundesweiten Leumund
der selbsternannten 'Metropole in OWL' ausmachen. OWL heißt
übrigens so viel wie Ostwestfalen-Lippe; das weiß auch jedes Kind
in OWL, ist für Neuankömmlinge wie mich allerdings eine unbekannte
Marke. Seitdem ich hier lebe, versuchen meine Freunde und Familie
mich zu trösten, natürlich ungefragt. Denn ich weiß ja, daß es
die Stadt wirklich gibt. Doch jedes Mal, wenn "Bielefeld" nun
irgendwo erwähnt wird, werde ich liebevoll davon unterrichtet. Nicht
selten fällt dabei der Satz: "Du siehst, so unbedeutend kann
Bielefeld also gar nicht sein." Ich sehe das optimistisch, wenn ich
nur lange genug hier bleibe, werden meine Informanten zur lückenlosen
Beweislage für ein existierendes Bielefeld entscheidend beigetragen
haben.
Also, seit wenigen Monaten erkunde ich nun die Wirtschafts- und
Hochschulregion OWL, und mitten drin liegt Bielefeld. Zurückgekehrt
bin ich nach Deutschland mit vier intensiven Jahren in Nairobi und
Afrika im Gepäck. Da bleibt der Kulturschock nicht aus. Wer jemals
in der Ferne heimisch wird, weiß, welche Sehnsüchte, welche Ängste
fortan jedem Neuanfang innewohnen. Erst vor wenigen Tagen besuchte
mich ein junger kenianischer Student, zum ersten Mal für sechs
Wochen auf Reisen, in Europa, in Deutschland -- auch auf Stippvisite
in Bielefeld. Er brachte mit kleine, liebenswürdige Requisiten aus
Nairobi: Gewürze, Stoffe, Musik, die mir vertraut und bekannt sind.
Während seiner Tage in Europa traf er mit gleichaltrigen Studenten
aus anderen Ländern zusammen, vertiefte seine Deutschkenntnisse,
erlebte Land und Leute seiner Wahlsprache, für die er sich vor
vielen Jahren in seiner Schule in Maseno, in West-Kenia, entschieden
hatte, ohne jemals zuvor mit einem Muttersprachler aus
deutschsprachigen Ländern Europas gesprochen zu haben.
Vielsprachigkeit ist für SchülerInnen in afrikanischen Städten
eine Selbstverständlichkeit. Nach seiner Rückkehr nach Kenia, mailt
er mir, er vermisse nun seine neuen Freunde sehr, die er in
Stuttgart, München, Brüssel, Berlin, Köln, Münster, Bielefeld
traf. Interkulturelle Begegnungen, multikulturelle Biographien
bedeuten immer auch Abschiede und Aufbrüche, und zwar eine endlose
Kette davon. Oder, wie es ein junger Student aus einer
deutsch-tunesischen Familie ausdrückt: "Für mich gibt es kein
Ausland. Ich fühle mich überall zu Hause."
Anfangs in Bielefeld fallen mir vor allem überraschende
Alltags-Parallelen auf, die mich zum Lachen bringen. Eine Meldung in
einer Lokalzeitung vom 19./20. Juli 2008 heißt: "Heepen wartet
seit 86 Jahren wieder auf eine Bahnverbindung zur Innenstadt."
Hey, da sind die 15 Jahre gar nicht übel, seit denen der Aufzug im
Gebäude der Germanistik-Abteilung an der University of Nairobi
brachliegt. Keine Verbindung für eine kleine Ewigkeit. Oder die
tönerne Blumenschale, die jemand über das unerklärliche Riesenloch im
Boden der Umkleidekabine meines Badmintonklubs in Bielefeld-Mitte
gelegt hat. Das Provisorium ist eine Universalie. Oder der Feueralarm
in der hochmodernen gläsernen Bahnhofshalle am Frankfurter Flughafen,
den zwei Bahnbeamte neben uns lässig kommentieren: "Einfach
ignorieren. Das kommt hier täglich vor." Schließlich wird der
Gleisbereich aber doch geräumt, und wir finden uns wieder in einem
schlendernden Pulk Reisender aus aller Welt, in Zeitlupe
zusammengerückt draußen vor der Halle -- mitten in einer tropfenden,
unwirtlichen Baustelle, umringt von leeren
Hochgeschwindigkeitsgleisen. Drinnen wiederholt sich die immer gleiche
Automatenstimme wie verrückt -- "This is an emergency
case. Please leave the station immediately!" --, draußen vor
der Halle halten wir uns gegenseitig warm, hockend auf eiskalten
Betonblöcken, unter bedrohlich schwankenden Baugerüsten. Wenn's
drinnen wirklich brennt, sind wir hier draußen beruhigend gut
aufgehoben. Willkommen in Deutschland -- dem Land, das alle Welt liebt,
weil es sooo sauber und perfekt organisiert ist.
Tja, nachdem sich mein Humor des Alltäglichen erschöpft hat, geht
es über in den Realitätstest, am besten mit einer Bestandsaufnahme.
Aufgewachsen mit Heines Rheinversen, befinde ich mich nun zum ersten
Mal in meinem Leben in einer Stadt ohne Fluß, ohne Schiffshupen,
ohne weite Brücken, auf denen man seinen Blick melancholisch
versenken kann. Das tat ich zuletzt in Khartoum, wo der blaue Nil aus
Äthiopien kommend, auf den weißen Nil trifft, der vom Viktoria-See
im Länderdreieck Kenia, Uganda, Tansania kommt, und beide in
Khartoum vereint weiter nach Ägypten fließen. In Nairobi, fällt
mir ein, hat sich die dynamische Filmproduktion Kenias -- nomen est
omen -- symbolbewußt im Zentrum der Hauptstadt an der River Road
niedergelassen, wie im gleichnamigen Roman von Meja Mwangi. Überhaupt
ist ja Afrika außerhalb seiner Wüstenlandschaften, faszinierend
grün und von einer reichen diversen Vegetation bevölkert, auch wenn
sich in europäischen Journalen hartnäckig Bilder von sandiger
Ödnis, gleißenden Wüsten und Trockenlandschaften halten, wenn von
Afrika die Rede ist.
Ich aber bin Bielefeld dankbar, daß es wenigstens seinen berühmten
Ostwestfalendamm hat, ein anderer Name für die Bundesstraße 61,
dessen Ursprünge auf eine preußische Fernstraße zurückgehen. Wenn
schon kein Fluß, dann wenigstens ein Damm, denke ich mir, auf dem
hochgerüstete Autos hupen und rasen, wie sonst nur im übrigen
Deutschland -- das ganze Land, eine Hochgeschwindigkeitszone. Aber,
die Geschwindigkeit auf den Straßen ist kein déjà vu für mich,
mehr ein Schock, und außerdem, für eindeutige
rechts-links-Parameter bin ich nach den Jahren im britischen
Linkssystem wohl für immer verloren. Wo ich mich befinde, vergesse
ich allerdings nicht so schnell, weil jedes zweite Auto, vor allem
zur Zeit von Fußball Welt- oder Europameisterschaften, mit einer bis
zu vier deutschen Flaggen ausgestattet ist. Ich kann mir ganz sicher
sein, dass OWL in Deutschland liegt. Das sei seit der Fußball-WM im
Sommer 2006 ganz normal und harmlos, wird mir meistens erklärt, wenn
ich meine Beobachtung mit jemandem teile.
Mit Geschwindigkeit scheint sich also auch die Zeitgeschichte zu
drehen, denke ich. Allerdings nicht die Baugeschichte, die in
Bielefeld noch ganz der Geschichte des 20. Jahrhunderts verhaftet
ist, vor allem den beiden Epochen der Frühindustrialisierung und dem
Wirtschaftsaufschwung nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Gewohnt, in
Altbauwohnungen zu leben, stosse ich in der OWL-Metropole schnell an
die Grenzen des Angebots. Altbau geht unter der Hand weg, dafür
braucht man Zeit, Kontakte und Kenntnisse in der Stadt. Wie in
anderen deutschen Städten auch, wurde in Bielefeld vieles nach dem
Krieg 1945 willentlich zerstört. Moderne Häuser im Einheitsstil der
Nachkriegsjahre überall. Und so findet man in der Stadt wenig alte
Substanz. Stadtteile, die auf mich gesichtslos und trist wirken,
stehen neben großzügigen Grünanlagen, zu jeder Tageszeit
merkwürdig leer, und einigen riesigen Villen aus der Gründerzeit.
Wenn ich dieser Tage aus dem Haus trete, fällt mein Blick auf ein
kleines unauffälliges rechteckiges Schild, das im Bürgersteig
eingelassen ist. Es erinnert
an die Ermordung eines jüdischen Bewohners, der im April 1945 im KZ
Neuengamme starb. Er hatte zuvor in dem Haus gelebt, in dem meine
jetzige Wohnung liegt. Wie in anderen Städten auch, gibt es in
Bielefeld eine aktive anti-faschistische Bewegung und Vereine, die
die Erinnerung an die Verfolgten der Nazis wachhalten. Nur wenige
Wochen nach meiner Ankunft in Bielefeld hatte ich die zufällige
Gelegenheit, die neue Synagoge an der Detmolder Straße zu
besichtigen und ihren schlichten Stil und ihre warme Farben im
Innenraum zu bewundern. Einweihung war am letzten Sonntag, dem 21.
September unter Beteiligung des Ministerpräsidenten von NRW. Nun hat
das Land 20 Synagogen, die alle unter schwerem Polizeischutz stehen.
Willkommen in der Normalität. Bielefeld, für Einheimische
einzigartig, für andere unbekannt -- für mich eine normale
Kleinstadt am Rande des Teutoburger Walds, mitten in Deutschland._//
autoreninfo

Dr. Marie Elisabeth Müller ist Literatur- und Medienwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Seit Mai 2008 tätig im Internationalen Bildungsmanagement für deutsche Hochschulen und internationale Institutionen. Von Oktober 2004 bis April 2008 als literaturwissenschaftliche DAAD-Lektorin an der University of Nairobi, Kenia. Seit 1993 Arbeit als Journalistin, Redakteurin und Autorin für Radio und Printmedien und als Regisseurin für Radiofeatures. Autorin von über 40 Features und einigen Hörspielen; unter anderem Bearbeitung von Martin Amis, Night Train für den MDR (erschien im Audio-Verlag 2002). 2005 veröffentlichte Hoffmann Und Campe ihr Buch Mietek Pemper, Der rettende Weg. Schindlers Liste, Die wahre Geschichte, das sie in enger Zusammenarbeit mit Mietek Pemper und Viktoria Hertling schrieb und das mehrfach übersetzt worden ist, u.a. 2008 in englischer Übersetzung bei The Other Press, New York. Zahlreiche Veröffentlichungen in Fachjournalen und in Internetzeitschriften. Themen: Kultur- und Bildungsmanagement -- Kulturjournalismus -- Interkulturelles Training -- Medientheorie -- Zeitgenössische Literatur.Homepage: http://memplexx.de/E-Mail: mem@gmx.com