London, 15. Sep 2005_
Zwei Monate nach den Bombenattentaten -- wie ist die Stimmung in
London? Die schrecklichen Ereignisse dominierten noch einige Zeit die
Headlines der großen Tageszeitungen. Die Tabloids wollten den
Extremisten zeigen, was eine Harke ist, schüttelten drohend die Faust,
sprachen von Ausweisung und appellierten an den
'Blitz-Spirit'. Im Hinblick auf die
Internationalität Londons und die besondere Rolle des
Multikulturalismus in diesem Konflikt war so ein Appell natürlich
fragwürdig, denn er unterminierte den 'melting
pot' London. Was war zum Beispiel mit den Immigranten in
erster oder zweiter Generation -- ob die mit dem Blitz-Spirit
etwas anfangen konnten? Was genau wollten die Tabloids mit dieser
Phrasendrescherei sagen? Handelte es sich vielleicht um eine Form des
perfidem Rassismus? Wer außerdem mit der britischen Geschichte
vertraut ist, weiß, daß der Blitz-Spirit erst nach dem
Zweiten Weltkrieg erfunden wurde. Während der Bombardierung durch die
Deutschen hatten die Londoner keine Zeit für derartige
Reflexionen. Was sollte also der Aufruf an dieses sehr britische
Gespenst, der zudem alle Ausländer und Immigranten ausschloß (die aber
sehr wohl von den Attentaten betroffen waren), bewirken?
In anderen Tageszeitungen wurde vor erneuten Anschlägen gewarnt:
"Attack on City 'a matter of time'"
hieß es in der Financial Timesund im Guardian.
"Faith hate crimes up 600% after bombings" in
der Gratis-Zeitung Metro. Die Stimmung in der Bevölkerung
schien das jedoch nicht zu trüben. In Bussen und Bahnen herrschte zur
Rushhour wieder dichtes Gedränge. Auch Headlines wie "Free
to preach hatred" im Daily Express heizten die
Stimmung nicht wieder an. Natürlich erklärten sich solche Headlines
auch aus dem Selbstverständnis der englischen Tageszeitungen, nicht
nur als Spiegel der Gesellschaft zu wirken, sondern konkret ins
politische und Alltagsgeschehen einzugreifen.
Auch die Erschießung des Brasilianers Jean Charles de Menezes, der von der
englischen Polizei fälschlicherweise für einen Selbstmordattentäter gehalten
wurde, beherrschen einige Tage die Titelseiten der nationalen Presse.
Besonders schockierend war, wie die Öffentlichkeit von den Behörden an der
Nase herumgeführt wurde. Ich selbst hatte am Tag der Tragödie (22. Juli)
einen Augenzeugenbericht auf dem Radiosender BBC 4 gehört. Dort berichtete
ein Londoner (und das wurde mehrfach in den Nachrichten gesendet), wie er
Männer mit vorgehaltener Pistole auf den Bahnsteig der Tubestation Stockwell
rennen sah. Die Polizisten in zivil stürmten das Zugabteil in dem de Menezes
saß, warfen den völlig verschreckten Brasilianer zu Boden und feuerten elf
Schüße auf ihn ab. Das Opfer hatte weder Gelegenheit sich zu ergeben, noch
Widerstand zu leisten. Später hieß es dann, de Menezes habe versucht zu
fliehen, deswegen hätte die Polizei schnell und ohne Warnung handeln müssen.
Außerdem erklärte ein Sprecher der Metropolitan Police, der 27jährige
Elektriker habe eine dicke Jacke getragen, obwohl es an bewußtem Tag sehr
warm war. Die Polizisten hatten aus diesem Grund angenommen, daß de Menezes
unter seiner Kleidung Bomben trug. Einige Tage später sickerte dann an die
Medien durch, daß die Polizei gelogen hatte. De Menezes hatte weder
Widerstand geleistet, noch eine dicke Jacke getragen. Im Rahmen einer
Untersuchung der Independent Police Complaints Commission kam außerdem
heraus, daß die Polizisten nicht genau wußten, ob sie es mit einem
Terroristen zu tun hatten. Der diensthabende Beamte, der de Menezes
Wohngegend überwachte, war auf Toilette gewesen als der Brasilianer seine
Wohnung verließ. Forderungen nach dem Rücktritt von Londons Chef der
Metropolitan Police, Ian Blair, wurden schnell laut, aber dieser leistete
den Aufrufen bislang keine Folge.
Jede Katastrophe zieht auch in den Medien
'Kriegsgewinnler' an. Menschen, die eigentlich nichts
Positives zur Angelegenheit beizutragen haben, aber den Rummel nutzen,
um sich selbst ins Rampenlicht zu drängen. In Großbritannien wird so
etwas gerne mit Hilfe der Nazis gemacht. So wie jeder noch so
unbedeutende (politische) Skandal gleich zu einem
'Watergate' hochfrisiert wird, so wird auch der
Vergleich mit den Nazis bis zur völligen geistigen Abstumpfung
praktiziert. Denn: Alles was mit Hitler und Auschwitz zu tun hat,
sorgt auf der Insel für Aufsehen. Wer also in die Schlagzeilen will,
der stellt so einen hanebüchenen Vergleich an, wie der Shadow
Education Secretary, David Cameron, (der damit auch prompt für
Schlagzeilen sorgte): In einer Rede hatte der Konservative davor
gewarnt, daß sich bei Islamisten eine Denkrichtung entwickelte, die
genau wie bei den Nazis und den Kommunisten Erlösung durch Gewalt
("redemption through violence") verspreche. Man
sollte dieses Argument in Rethorikbücher als klassisches Beispiel für
den hinkenden Vergleich aufnehmen. Denn zum einen ließen sich in die
Kategorie der Extremisten, deren Gewalttaten ein Erlösungsversprechen
als Motiv zugrunde lag, auch die (englischen) Kreuzritter
einreihen. Zum anderen darf man sich getrost fragen, inwieweit die
Nazis und Kommunisten religiös motiviert waren. Wie auch: Karl Marx,
der Begründer des Kommunismus, sah in Religion nichts anderes als
"Opium für das Volk". Schwer vorzustellen, daß er seinen
Genossen einen Platz im Himmel als Endziel versprochen hatte. Und auch
Adolf Hitler hatte seinen braunen Schergen sicher statt Erlösung, Geld
und Macht in Aussicht gestellt. Daß dieser Vergleich keinen Sinn
macht, ist aber nicht weiter schlimm. Denn es ging dem Tory-Politiker
ja gar nicht darum, neue Erkenntnisse zu präsentieren, sondern
lediglich, die Worte 'Nazi' und
'Islamist' in einem Satz unterzubringen.
Die Anschläge an sich sind inzwischen weitgehend aus den
Schlagzeilen verschwunden. Großbritannien hat sich wieder dem
'business as usual' zugewandt. Zwar ist die
erhöhte Polizeipräsenz auf Bahnhöfen und anderen öffentlichen Plätzen
noch zu spüren, aber es scheint, als habe die Normalität wieder Einzug
gehalten. Warum die Londoner so schnell zum Tagesgeschäft
zurückgekehrt sind bleibt ein Rätsel: Ist es Gleichgültigkeit? Ist es
die Hektik der Großstadt, die aus dem Gestern immer schon ein
Vorgestern macht? Oder sind es Ereignisse von größerer Tragweite, wie
die Umweltkatastrophe an der US-amerikanischen Golfküste, die die
Menschen auf der Insel jetzt in ihren Bann geschlagen haben? Auch wenn
7/7 derzeit aus dem Bewußtsein der Öffentlichkeit verschwunden ist:
Meiner Meinung nach ist das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch
nicht gesprochen, denn die Wurzel des Übels (mangelnde Integration,
Duldung von religiösem Fanatismus, aggressive britische Außenpolitik)
wurde bislang noch nicht herausgerissen. Man darf gespannt sein, ob
die von Tony Blair für den Herbst angekündigte neue
Anti-Terror-Gesetzgebung hier für Fortschritte sorgen wird.
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