Michael Wüstefeld
Das AnAlphabeth
Eine Schatztruhe voller Schaumkraut
Der Dresdner Dichter Michael Wüstefeld fischt kunstvoll nach Wörtern
Die berühmte dänische Lyrikerin Inger Christensen schrieb vor Jahren ein Langgedicht „Alphabet“, das mit dem Doppelvers beginnt: „Die Aprikosenbäume gibt es. Die Aprikosenbäume gibt es.“ Vom Buchstaben A führte sie, jeweils Wörter mit dem folgenden Anfangsbuchstaben häufend, den Text bis zum N und brach nach 321 N-Versen ab: Sie war einer vom Mathematiker Leonardo Fibonacci erfundenen, exponentiell wachsenden Zahlenfolge verfallen; der Buchstabe Z hätte 196418 Verse gefordert!
Im Kopf des Dresdner Dichters Michael Wüstefeld aber setzte sich die Aprikosenbaum- Zeile fest. Er buchstabiert sich rückwärts durchs Alphabet, vom Z bis zum N, jedoch ohne Zahlenmystik. Sein Langgedicht liegt nun als gegenläufiger Text zu Christensens Versuch vor – ein tolles, wenn nicht verrücktes, in der derzeitigen deutschen Literaturlandschaft jedenfalls einzigartiges Werk. Es reicht vom Z-Einzelvers – „überall Ziegenmelker, Ziegenmelker und Zigarettenkippen überall“ bis zu 295 N-Zeilen: „über Notanker nicht größer als ein Nonnenziegel/ vom Nordwind verwehte Nomaden/ eine Nachtigall trägt ihnen Nesseln nach“ – damit endet das Gedicht.
Hauptstilmittel ist die Aufzählung von Substantiven mit gleichem Anfangsbuchstaben, die meisten in Satzfragmenten, ein Teil in Haupt- und Nebensätzen. In jedem Buchstaben-Kapitel baut der Dichter Themengruppen auf – unter O etwa Offenbarung, Ozeane, Orkane, Organe oder Orte auf Offen- und Ober-. Die Gruppeninhalte reichen von Politik bis Technik, am häufigsten gibt es Tiere und Pflanzen, zum Beispiel so: „Schatztruhen mit Silberfischchen, Sonnentau und Schaumkraut/ überall Schaumkraut hellila bis rosa, zwischen hochschießendem Sauerampfer/ und buttergelben Sumpfdotterblumen, gelegentlich Stockschwämmchen/ oder Schwefelporling, zu schweigen vom Steinpilz hinter der Schattenblume/ auch Schöllkraut überall, und Storchschnabel, friedliebender Stechapfel/ raschelnde Strohblumen, und Gesichter schneidende Stiefmütterchen/ überall die Farben der Stiefmütterchen sonst Strandhafer, Sojabohne/ und über Stoppelfeldern am Himmel Siebenstern ...“
Aus den tiefsten Brunnen unserer Sprache holt der Dichter prallvolle Netze hoch, kombiniert Heterogenes, gibt Wortspiele, Wortwitze, Wortschöpfungen, Uraltes und Jargon-Neues, absurde Zuspitzungen: „Spargel stechendes Schnabeltier“ oder „Sex-Appeal von Sülze“.
Das „AnAlphabet“ ist ein herrlich-wilder Sprach-Strom, der schäumende Metaphern, rauschende Wort-Musik und vollvokalisch tönende Stromschnellen mit sich führt. Stellenweise ist der Strom so reißend, dass einem der Atem stockt; das den ganzen Text durchziehende Adverb „überall“ hält den Leser aber sicher fest.
Was für ein großer Wurf – und was für eine grandiose Huldigung an die viel gescholtene, unerschöpfliche deutsche Sprache!
Zuerst erschienen in der Sächsischen Zeitung
Michael Wüstefeld im Poetenladen

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Wolfgang Hädecke
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