am Dienstag den 15.12.2020 können Sie noch wie gewohnt bei uns im Laden bestellen und abholen.
Ab Mittwoch gibt es die Möglichkeit die Bücher vor dem Laden abzuholen. Bitte haben Sie Verständnis, dass wir in diesem Rahmen nicht wie gewohnt beraten können.
Sie können dann Ihre Weihnachts-Bestellungen vor dem Laden aufgeben, lieber aber per Telefon und per Mail.
Bei Büchern, die wir bestellen müssen, kann es einen oder zwei Tage länger dauern als gewohnt. Wir werden aber nach wie vor von den Verlagen beliefert und sind im Laden gut ausgestattet.
Vielen Dank für Ihr Vertrauen in 2020 und bleiben Sie gesund.
Da ist ein Baum, ist immer grün, wächst nicht in der Savanne. Wächst da, wo Deutschlands Blumen blühn, und winters auf ihm Kerzen glühn – wie heißt der Baum? „Marianne?“
Liebe Freundinnen und Freunde des unabhängigen Buchhandels, werte Kundschaft,
mit diesen Zeilen Robert Gernhardts auf die schöne, schöne Tanne* möchten auch wir darauf hinweisen, dass dieses Jahr Weihnachten früher anfängt und länger dauert und wir uns den Humor nicht nehmen lassen wollen! In welcher Stimmung auch immer Sie gerade sind: Sie sind herzlich willkommen, wir schenken Ihnen all unsere Buchempfehlungen und Erweiterte Ladenöffnungszeiten ab Montag, den 23. November Mo–Fr von 9 bis 20 Uhr an den Adventssamstagen von 9 bis 18 Uhr
Lieferdienst All jenen, die unsere schöne Buchhandlung nicht besuchen können, und auch jenen, die vor Ort bestellen und bezahlen und sich die Abholung sparen möchten, liefern wir die Bücher mit dem Fahrrad (Unkostenpauschale € 1,50).
Geschenkservice Wir verpacken gerne Ihre Bücher, bitte geben Sie uns schon bei der Bestellung Bescheid.
Buchempfehlungen hier und unter www.kommbuch.com finden Sie jeden Monat neu unsere persönlichen Empfehlungen: Buchtipps gibt es auch auf unseren Social-Media-Kanälen Facebook und Instagram
Weihnachtsempfehlungen Gibt es in Kürze hier und per Mail.
Wir freuen uns auf Sie! Herzlichst Ihre AutorenbuchhändlerInnen
Als ihr
Portemonnaie inklusive der Fahrkarte zurück nach Wien geklaut wird,
verschwendet Judith keinen Gedanken daran die Polizei zu verständigen
oder die Diebin zu stellen. Stattdessen beobachtet sie, wie diese statt
ihrer die Fähre besteigt. Judith nimmt aus der Distanz fast zärtlich
Abschied von ihr. Das Boot wird jedoch nie in Wien ankommen und gilt
schon bald als verschollen. Wie vom Erdboden verschluckt, bleibt das
Verschwinden vollkommen unerklärlich. Schon bald werden Suchtrupps
aktiv. In dem Moment, da Judith realisiert, dass sie – als angeblich
Passagierin – ebenfalls als verschollen gelten muss, trifft sie eine
Entscheidung. Ohne einen Blick zurück schlägt sie sich in eine
unerwartete Wildnis.
Jana Volkmanns kurzer Roman kreist um die Themen der
Entfernung, Betrachtung und Einsamkeit. Anders als man aber bei dieser
Beschreibung denken könnte, ist es eine ungebrochene Leichtigkeit, die
diesen Text auszeichnet. Die gerade beschriebene gegenwärtige Handlung,
wechselt sich mit Erinnerungen Judiths an ihr zurück gelassenes Leben
ab, in welchen wir die gleiche Beobachtungsweise der Protagonistin
erkennen können: Halb staunend, halb ironisch betrachtet Judith Menschen
wie Gebäude und Ereignisse gleichermaßen distanziert aber nicht ohne
Interesse. Der Text ist weit davon entfernt psychologische oder
soziologische Erklärungsansätze dafür zu finden. Judith erscheint
weniger als tragischer Einzelgänger, denn als schräge Kultfigur. Über
die Entscheidung ihrem Leben den Rücken zu kehren, erfahren wir nichts
als die Erleichterung, die dieser Schritt bei Judith auslöst.
Jana Volkmanns Stil ist dabei im aller besten Sinne
unterhaltsam. Die Flucht der Protagonistin trägt teils absurd
apokalyptische Züge, die Figuren, die ihr begegnen sind schräg und
erinnern fast an die Geschichten des Simplicissimus. Diese
Szenen wechseln sich mit langen, unaufgeregt und von Pathos freien
Naturbetrachtungen ab. Obwohl das Thema der Distanz sich wie ein roter
Faden durch den Text zieht, erscheint ebenso, wie als Negativ-Abzug,
immer wieder die Möglichkeit oder die Hoffnung auf Zärtlichkeit auf; mit
der bittersüßen Erkenntnis, dass die LeserIn Judith nach nur knapp 200
Seiten wieder ziehen lassen muss.
Straumēni ist ein altes Gehöft in Zemgalen, einem
Landstrich im südlichen Lettland. Mitte des 19. Jahrhunderts ist das
bäuerliche Leben dort noch weitgehend so, wie es seit Generationen war.
Es folgt dem Jahresrhythmus, der die Arbeiten auf dem Land vorgibt. In
diesem Gefüge haben die Menschen ihre vorgegebenen Tätigkeiten und
Rollen, und jenseits des zugewiesenen Platzes gibt es wenig Spielraum
für den Einzelnen. So sind es weniger die Menschen, die den Mittelpunkt
des Buches bilden, sondern vielmehr ihre Funktionen und Arbeiten, die
wiederum den Anforderungen der Natur und der Landwirtschaft folgen. Im
Zentrum steht das Gehöft – Straumēni.
Die Handlung – falls man davon überhaupt reden kann –
spielt in der Zeit kurz vor Beginn der Mechanisierung der
Landwirtschaft. Sie beginnt mit dem Winterende, als das Eis schmilzt und
der kleine Fluss Lilupe sich in einen reißenden Strom verwandelt, der
mitten durch das Gehöft braust. Beschrieben werden die vielfältigen
Tätigkeiten der Männer und Frauen im Haus, in den Ställen und auf den
Feldern, die mit dem Frühjahr beginnen. Der kurze, heiße Sommer gipfelt
in der Heu- und Getreideernte. Der Herbst ist die Zeit der
Kartoffelernte und des Haltbarmachens der Vorräte für die Winterzeit, in
der sich eine harte kalte Decke aus Eis und Schnee über das Land legt
und das Leben draußen fast zum Stillstand bringt. Das ist die Zeit, in
der im Innern des Hauses der Flachs gesponnen wird und die Werkzeuge für
das kommende Jahr repariert werden. Dieser Kreislauf wird durch die
unterschiedlichsten Feste unterbrochen, die die harte Arbeit kurz
vergessen lassen und bei denen geschmaust, getrunken und getanzt wird –
und das nicht zu knapp!
Dass der Text, der keinerlei Identifikation mit einzelnen
Personen bietet, dennoch nie langweilig wird, liegt an Edvarts Virzas
wunderbar genauen und sinnlichen Sprache. Man fühlt beim Lesen die
sorgsam glatt geschliffenen Holzstiele der Arbeitsgeräte, hört das
trockene Stroh unter den Füßen der Schnitter knacken und riecht das
frisch gebackene Brot. Man sieht die weiten Himmel und Wolken, die
Zugvögel, den ersten Schnee, und man blickt in eine vom schweren Essen
und den vielen Körpern aufgeheizte Schänke, in der nach dem
Jahrmarktbesuch die obligatorische Schlägerei zwischen den Land- und
Stadtbewohnern ausbricht.
Wenn man dem Buch etwas vorwerfen könnte, ist es die
Idealisierung einer untergegangenen bäuerlichen Welt. Vielleicht sollte
das Nachwort vor der Lektüre des Haupttextes gelesen werden,
denn es erklärt vieles, an dem der heutigen Leser sich stören könnte –
als erstes die unhinterfragten Rollenbilder von Herren, Knechten und
Mägden oder das Frauenbild. Soziale Konflikte spart der Autor völlig aus
– aber seine Absicht ist auch eine andere. Edvarts Virza wurde 1883 in
einer Zeit geboren, in der das überwiegend bäuerliche lettische Volk
auf unterschiedliche russische Gouvernements verteilt lebte, während die
Oberschicht deutschstämmig war. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde
Lettland erstmals unabhängig. Dennoch war es nach Jahrhunderten einer
als Unterdrückung empfundenen Geschichte nicht einfach, eine eigene
nationale Identität zu finden. Straumēni ist als ein Beitrag
dazu zu verstehen, und es ist die hohe stilistische Qualität des Textes,
die die Lektüre zu einem literarischen Genuss macht. Sie bescherte dem
1933 erstmals erschienenen Buch einen großen Erfolg, der – unterbrochen
durch die Jahre der sowjetischen Okkupation – in Lettland bis heute
anhält. Es lohnt sich, Straumēni jetzt auch auf Deutsch zu entdecken!
Landschaftsbilder stehen neben einer scheinbar der Zeit
enthobenen Märchensprache, die dann aber wieder abgelöst wird von ins
historische Geschehen eingebetteten Diskussionen über Religion,
Konfession und Macht. Polyphon ist dieser wunderschöne Roman, aber alles
fügt sich zusammen zu einem Bild der Gegenreformation als einer Zeit
allgemeiner Verunsicherung. Mojca Kumerdej erhielt für ihren Roman Chronos erntet
den slowenischen Prešeren Fund Award, und im Frühjahr dieses Jahres
wurde Erwin Köstler für seine Übersetzung mit dem Fabjan-Hafner-Preis
ausgezeichnet.
In den innerösterreichischen Erblanden des Habsburger
Reiches im späten 16. Jahrhundert machen Krankheit und Unwetter,
Schädlinge, Konfessionsstreitigkeiten und absolutistische Machthaber den
Leuten das Leben schwer. Letztlich jedoch, so heißt es in Chronos erntet,
ist die Zeit der schlimmste Feind des Menschen. Was Chronos
hervorbringt, das zerstört er auch wieder. Alles Gute, Hoffnungsfrohe im
Menschen sei nur Teil seines Plans, die Menschheit gedeihen zu lassen,
bevor er sie ernten kann. Den Menschen geht es derweil darum, die beste
Geschichte zu haben – um den Katholizismus zu verteidigen oder den
Protestantismus zu befördern, um den Vater zu überzeugen, die
Schwangerschaft rühre aus einer Begegnung mit dem Teufel, um einen
Bauern zu ächten oder seine Tochter zu foltern. Adelige, Schreiber,
Jesuiten, Säufer, Mägde, Bauern, Zauberer, Hexen und Dämonen, sie alle
kommen in parallelen Erzählsträngen zu Wort, die wichtigste Stimme hat
jedoch „das Volk“, entscheidet es doch unbarmherzig nach
Unterhaltungswert und Plausibilität der Geschichten und geht dabei nicht
selten rabiat vor.
Misstrauisch beäugt wird der Bauer Kostanšek, dessen Hof
eigentlich auf dem besten Weg war, den Bach hinunter zu gehen. Nach dem
Besuch eines jüdischen Medikus wird nicht nur seine Tochter nach langer
Krankheit auf wunderliche Weise gesund, sondern es erscheinen auch
sieben stumme Riesen, die durch ihre stoische, übermenschliche Arbeit
dem Hof zu Prosperität verhelfen. Neugierige Nachbarn meinen gesehen zu
haben, wie der Bauer sie des Morgens zum Leben erweckt, indem er ihnen
Plättchen in den Mund legt. Golems seien das, die deshalb nicht
sprächen, weil sie keine Menschen, sondern künstliche Kreaturen wären.
Als der Graf die Tochter des Bauern schließlich als Hexe verbrennen
lassen will, erzählt man sich, haben diese sieben Golems zusammen mit
Kostanšek und einer wütenden Riesin die Tochter befreit, nachdem die
Riesin mit ihrem Busen den Kirchturm zum Einstürzen gebracht hat. Wenige
Jahre später ist man sich aber nicht mehr sicher, ob es nicht
vielleicht doch ein Sturm war, der den Schaden an der Kirche verursacht
hat. So schließt sich hier gut die parallele Erzählung des
Gerichtsschreibers an, der es nicht mehr erträgt, die grausamen
Hexenprozesse zu protokollieren. Stattdessen beginnt er, seine
philosophischen Gedanken und existenziellen Zweifel, „Über die
Trüglichkeit der Sinne und Wahrnehmungen“, aufzuschreiben, die ihn
selbst so verunsichern, dass er dem Wahnsinn verfällt.
Neben dem Chronos-Motiv durchzieht die Figur der Synkope
den Roman, eine Figur, die Spannung erzeugt, das Leichte schwer und das
Schwere leicht werden lässt und in ihrer Umkehrungswirkung
karnevalistische Funktionen erfüllt. Chronos’ regelmäßiges Fortschreiten
kann zwar nicht aufgehalten werden, aber durch die Geschichten und das
Nachdenken der Menschen wird der Rhythmus variiert. Ist Mojca Kumerdejs
Roman ein historischer Roman? Ja, aber genauso ein philosophischer und
fantastischer.
Nervös ist die Gesellschaft Ende des 16. Jahrhundert, in
einer Zeit von „moralisch-meteorologisch-medizinischen Katastrophen“.
Wer heute die Gunst auf seiner Seite hat, kann sie morgen durch
Klimaumschwünge, Krankheiten oder die Launen von Adel und Klerus schon
verloren haben. Aus dieser Nervosität entstehen Gewalt, Mythen und
Gedanken über den Handlungsspielraum des Menschen als mögliche Wege, den
Rhythmus der Zeit zumindest zu variieren, wenn er schon nicht
aufgehalten werden kann. Es lohnt sich gerade heute, in unserer nervösen
Zeit, Kumerdejs Roman zu lesen.
Wie feiert man eine Messe, wenn Sie gar nicht stattfindet? Wie feiert man Verlage, wenn sie gar nicht da sind und Autoren, die nicht kommen?
Am besten, indem man ein Buch in die Hand nimmt und liest, ein Buch, das nicht virtuell, sondern physisch mit all seinen Ecken und Kanten in der Hand liegt, mit einem Schnitt so scharf und Charakteren so spannend, dass wir den Sicherheitsabstand vergessen und den Heldinnen ganz nahe rücken.
Am morgigen langen Messesamstag der Buchhandlungen in Frankfurt und Offenbach können Sie bis 18 Uhr bei uns stöbern und lesen und reden und so feiern, wie das gerade eben möglich ist.
Der Vertreter der Verlage Hanser und Beck Jochen Thomas-Schumann wollte uns im Laden einen kleinen Messestand aufbauen und mit den Autoren Kurt Drawert und Thilo Krause den Tag noch versüßen – leider müssen wir diesen Teil des Aktionstages krankheitsbedingt absagen.
Wir freuen uns auf Sie morgen zwischen 9 und 18 Uhr, dem 1. Aktionstag der Buchhandlungen initiiert von Open Books, dem Lesefest, auf dem Sie Autoren auch 2020 noch leibhaftig begegnen können – und uns bei dem ein oder anderen Buchtisch.
Die 1923 in der Bretagne geborene Annette Beaumanoir stammt aus einfachen Verhältnissen. Sie wächst in einem liebevollen Elternhaus auf. “Glück ist der Grundton ihres Alltags” heißt es, und diesem Glück verdankt Annette ihren Gerechtigkeitssinn, den Glauben an Freiheit und Gleichheit und ein unerschrockenes Herz.
Mit neunzehn Jahren – sie ist gerade zum Medizinstudium nach Paris gegangen – tritt sie der kommunistischen Résistance bei. Als sie zwei jüdischen Jugendlichen das Leben rettet und damit gegen die Regeln der “clandestines” verstößt, geht sie nach Lyon, wo sie im Widerstand der Gaullisten Kurierdienste leistet. Abgeschnitten von allen persönlicheren Kontakten, von ihrer Familie und dem Mitstreiter Roland, den sie liebt, erlebt sie das Kriegsende in Marseille. Dass Roland von ein paar Bauern erschlagen worden ist, erfährt sie erst später.
Nun ist Frieden. Annette heiratet den Arzt und
Kommunisten Jo. Sie schließt das Medizinstudium ab, bekommt Kinder. Aber
der Frieden hält für sie nicht: In den fünfziger Jahren beginnt der
Algerienkrieg, und selbstverständlich ist Annette auf Seiten der
algerischen Unabhängigkeitskämpfer. Sie engagiert sich beim FLN,
wird verraten und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Sie kann nach
Tunesien fliehen, allerdings um den Preis, ihre Familie zurück zu
lassen. Dort arbeitet sie als Ärztin. Nachdem Algerien die
Unabhängigkeit erlangt hat, geht sie dort hin, um für die neue Regierung
im Gesundheitsministerium zu arbeiten. Aber das, was sie bereits nach
dem Ende des Weltkriegs erlebt hat, erlebt sie auch hier: Den
rivalisierenden Widerstandsgruppen geht es mehr um die Erlangung der
Macht als um das Wohl der Menschen. Sie muss erneut fliehen – diesmal
vor dem putschenden Militär. Da es in Frankreich immer noch keine
Amnestie für “Terroristen” gibt, landet sie schließlich in der Schweiz.
So viel zur Handlung, die hier nur absolut verkürzt wiedergegeben wird.
Anne Weber hat die über neunzigjährige Annette Beaumanoir
2018 kennengelernt und ihre Geschichte – gestützt auf Gespräche mit ihr
und ihren in Deutschland unter dem Titel Wir wollten das Leben ändern
erschienen Erinnerungen – aufgeschrieben. Man meint, beim Lesen
Annettes Stimme zu hören, aber auch die der Autorin, die das Erzählte,
oft ironisch, kommentiert: Wie verhält es sich mit dem Idealismus, den
Prinzipien und dem Streben nach einer besseren Gesellschaft? Wie viel
Menschlichkeit opfert man den Ideen, über wie viel ist man bereit
hinwegzusehen um des hehren Ziels willen? Was bleibt für diesen Kampf
auf der Strecke?
Annette, ein Heldinnenepos hat Anne Weber das
Buch genannt, und „Epos“ ist hier wörtlich zu nehmen – äußerlich
erkennbar an den ungewöhnlichen Zeilenumbrüchen. Spricht man den Text
laut oder intoniert ihn stumm beim Lesen, erkennt man seinen inneren
Rhythmus und die poetische Struktur. Trotz dieses Kunstgriffs liest das
Buch sich packend, lebendig und wirkt an keiner Stelle gekünstelt. Das
ist eine doppelte Freude – man liest eine temporeiche, atemberaubende
Lebensgeschichte in der Form antiker Heldenerzählungen – ein
stilistisches Wagnis, das Anne Weber wunderbar gelungen ist!
Wer oder was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Zucker
denken? Der süße Geschmack, Naschwerk, Überfluss, aber auch
Selbstzügelung und Beherrschung? Vielleicht auch seine
Produktionsbedingungen? Dorothee Elmiger führt anhand ihres sogenannten
Recherchetagebuchs suchend durch manchmal dichtverwobene, manchmal kaum
korrespondierende Anekdoten und Schilderungen. Die Gegenstände der
Aufzeichnungen reichen von Schriftstellerinnen und ihrer Hassliebe zum
Essen im Allgemeinen und Zucker im Besonderen bis hin zum Zuckerkonsum
des Ökonomietheoretikers Adam Smith und des Führers der haitianischen
Revolution Toussaint Louverture. Andere Erzählstränge des Romans sind
weniger schnell in dem Kontext Zucker und Zuckerfabrik zu verorten. So
etwa die Geschichte rund um den Schweizer Lottogewinner Werner Bruni.
Die Szene, in der es um die Versteigerung seiner Besitztümer geht,
bildet den Angelpunkt des Romans, auf den das erzählende Ich immer
wieder zurückkommt. Aber erst mit der Zeit entfalten sich die
symbolischen, allegorischen und logischen Verbindungen zwischen den
Geschichten. Es lohnt sich jedoch, der Autorin jenen Vertrauensvorschuss
zu gewähren, den es zu Beginn braucht, um sich in das Gewirr loser
Erzählungsanfänge zu begeben. Nicht zu Unrecht steht am Beginn des
Romans das Bild eines Gestrüpps.
Wir sind es gewohnt, uns als LeserInnen durch einen Text
führen zu lassen, Zeit- oder Themensprünge in Maßen und deutlich
markiert hinzunehmen. Elmiger hingegen lässt sich von der Form des
(wissenschaftlichen) Essays inspirieren, der verschiedene Themen
miteinander in Beziehung setzt. Dabei bleibt sie aber spürbar und
glücklicherweise im Bereich der Litertur. So gehören nicht von ungefähr
die Szenen der auf ihre Liebhaber wartenden Erzählerin mit zu den besten
des Buches. Im Verlauf des Lesens werden der LerserIn die verschiedenen
Figuren – fiktive wie reale – immer vertrauter, man beginnt, sich im
Gestrüpp zurechtzufinden, und kann sich so über erstaunlichen Funde und
Besonderheiten freuen, die einem sonst entgangen wären.
Dorothee Elmigers Aus der Zuckerfabrik kreist
vor allem um das Thema des Begehrens, dessen Spannbreite aber hier vom
Essen als sexueller (Ersatz-) Befriedigung bis hin zum vom Selbst
entfremdeten Begehren, welches das Ergebnis der ausbeuterischen
Produktionsverhältnisse darstelle. Freud und Marx scheinen so als
Referenzpunkte immer wieder auf, nehmen aber keinen gliedernden
Stellenwert ein, sondern erscheinen in einer Reihe mit Heinrich von
Kleist (Die Verlobung von St. Domingo) oder Deborah Levy.
Das erstaunliche bleibt dabei, dass Elmiger nach
anfänglichen Orientierungsschwierigkeiten, die zugestanden seien, der
Versuchung des Überfrachtens widersteht und den Roman lesbar und
unterhaltsam macht. Der sehr eigene Stil erlaubt es der Autorin, sich
den verschiedensten Dingen zuzuwenden, und diese Zuwendung wird von
einer je spezifischen Faszination motiviert, die sich dem Text anmerken
lässt.