Die aktuelle “Bin Laden”-Geschichte ist eine schwarze Sternstunde des Journalismus. Sie bestätigt: Distanz gegen absolute Nähe einzutauschen, ist ein schier unaufhaltbarer Trend. Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki zeigt am aktuellen Fall die Entwicklung auf. Seine Glosse macht darüber hinaus deutlich: Es geht auch ganz anders.
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Ich habe von der Bin Laden-Tötung nicht aus den Medien erfahren, sondern von einem Kollegen. Wir hatten Montag den 2. Mai um 9 Uhr mit der Berliner Gazette eine Redaktionssitzung. Er hatte, wie er sagte, die Meldung im Halbschlaf mitbekommen. Wir haben an unserem Konferenztisch kurz darüber gesprochen und sind dann schnell zu den eigentlichen Tagesordnungspunkten übergegangen.
Jeder von uns hatte sich in den vergangenen zehn Jahren auf die eine oder andere Weise mit Bin Laden und dem War On Terror beschäftigt (ich selbst vor allem im Rahmen des Projekts 911.jpg). Doch diese Meldung schien uns nicht wirklich wichtig zu sein. Zu absehbar waren die unmittelbaren Folgen in Medien und Gesellschaft. Warum sollte man da mitmachen?
Diese Art von Distanz ist nicht selbstverständlich. Im Gegenteil. Wie Richard Gutjahr nachgezeichnet hat, war die Nachricht noch über Nacht in Hochgeschwindigkeit durch alle Medienkanäle gebraust. Wer meldet es früher? Wer hat als erster neue Informationen? Wer ist näher dran? Wer erzählt die Geschichte mitreißender? Wie der Freitag konstatierte, ließ sich “mit drehbuchhafter Genauigkeit (…) die spektakuläre Tötung Osama bin Ladens rekonstruieren.”
Dagegen ist nichts einzuwenden. Selten zuvor gab es so viele Detaildaten in Echtzeit. Doch kann man der Schlussfolgerung des Meinungsmagazins einfach so zustimmen? “An diesem Film muss der “Freitag” natürlich auch mitschreiben.” Muss der Freitag das wirklich? Hier besagtes Drehbuch.
Lust auf unmittelbares Dabeisein
Die Print-Ausgabe des Spiegel war für das Live-Protokoll etwas zu spät. Anders als bei der Enthüllung der US-Depeschen war der Zeitpunkt dieser Aktion offenbar nicht exklusiv mit dem Wochenmagazin abgesprochen worden. Statt Bin-Laden-Tod gabs Mordswut. Nun ist man eine Woche später, aber immerhin einen Tag früher als sonst am Kiosk. Titelgeschichte: Codename Geronimo. Auch hier ist die Berichterstattung der Distanzlosigkeit des Actionfilms verpflichtet. Jeder Satz soll uns tiefer in das “unglaublich spannende” Katz-und-Maus-Spiel hineinziehen. Hier wird nichts anderes als Augenzeugenschaft simuliert. Es ist als wäre man live dabei.
Die Lust der Leserinnen und Leser auf dieses unmittelbare Dabeisein scheint größer zu sein als die Angst davor von Nachrichtenströmen manipuliert zu werden. Gleichzeitig zeichnet sich an diesem Fall einmal mehr sehr deutlich ab: Der Journalismus (ich spreche von einer Mehrheit in diesem Feld) kann und will nicht darauf verzichten, die Lust auf das unmittelbare Dabeisein zu schüren und die selbstgeschaffene Nachfrage zu bedienen. Es gehört offenbar zu seinem Geschäft, dass dem herkömmlichen Selbstverständnis nach niemals ein Geschäft, niemals ein kommerzielles Gewerbe sein sollte, aber heute nun mal eben das und vor allem das ist. Wer unmittelbares Dabeisein verkaufen kann, ist auch im Markt ganz vorne dabei.
Ein bitterer Nebengeschmack stellt sich vor allem aus zwei Gründen ein. Erstens: Jene Medien, die von der Spektakularisierung solcher Fälle profitieren, äußern nicht selten moralische Empörung besonders laut. Ein Beispiel wäre der Freitag. Der Titel seiner aktuellen Ausgabe lautet: “Auge um Auge. Der Preis für Osama bin Ladens Tod ist hoch: Der Westen begeht Verrat an den eigenen Werten.” Schwach und unglaubwürdig ist eine solche Kritik. Denn sie verschafft sich Gehör, nachdem der Fall im selben Medium ausgiebig spektakularisiert worden ist – besagter Verrat an den eigenen Werten im Bereich der Politik wird im Bereich des Journalismus reproduziert.
Die offenkundige Doppelmoral scheint aber niemanden zu stören. Warum auch? Erst wird die Schaulust befriedigt, dann wird die Lust auf moralische Überlegenheit bedient. Erst erregen, dann aufregen. Nächstes Thema.
Es geht auch anders!
Zweitens: Insbesondere die Journalisten wissen, dass es auch anders geht. Sie müssen gar nicht so tun, als wären sie überall ganz nah dabei oder Geschichten schreiben, die dieses Gefühl evozieren. Denn: Alle Journalisten haben Quellen. Heutzutage sind es im zunehmenden Maße Online-Quellen. Informationen aus zweiter und dritter Hand. Statt also Unmittelbarkeit zum Prädikat ihrer Beiträge zu machen, müssten Journalisten eigentlich genau das Gegenteil tun: Sie müssten ständig darauf hinweisen wie die eine oder andere Informationen vermittelt worden ist und wie Quelle, Perspektive und Kanal den Blick auf den Sachverhalt filtern (bzw. manipulieren).
Dass eine derart distanzierte und ja: transparente Berichterstattung nicht nur den ethischen Standards des Journalismus genüge tut, sondern auch spannend sein kann, zeigt ProPublica. Im Blog des mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneten Mediums hat Marian Wang zwei sehr lesenswerte Berichte veröffentlicht, zum einen Bin Laden Reading Guide: How to Cut Through the Coverage, zum anderen Revisiting the Very First, Very Wrong Reports on Bin Laden’s Death.
29 Kommentare zu
"Die New York Times hat den Kampf um die digitale Zukunft aufgenommen. Der Dokumentarfilm “Page One: A Year Inside The New York Times” zeigt außergewöhnliche Einblicke in den neuen Redaktionsalltag der vielleicht besten Zeitung der Welt."
http://gutjahr.biz/blog/2011/05/page-one-a-year-inside-the-new-york-times/
Bei 9/11 und Osama Bin Laden werden wir von Anfang an stärksten Misstrauensoptionen ausgesetzt. So schrieb und veröffentlichte ich schon gleich nach 2001 den Text "Das amorphe Phantom". Ich konnte die Arbeit ohne Skrupel in diesen Tagen "twittern", denn sie trifft immer noch.
Jakob Augstein im Freitag scheint völlig vergessen zu haben, dass Osama bin Laden ein Kind der CIA-USA ist. Als solcher hatte er ausgedient und musste sterben. Jedoch nicht in diesen Tagen, sondern ...
Wer fragt schon noch nach der Wahrheit? Ein unbekannter Künstler vielleicht? Ein Querdenker, der nur über Social-Media Gehör findet? Solange man ihn lässt!
http://www.freitag.de/politik/0202-realitaetsexzess
danke für die Hinweise. Sie schreiben: "Wer fragt schon noch nach der Wahrheit? Ein unbekannter Künstler vielleicht? Ein Querdenker, der nur über Social-Media Gehör findet? Solange man ihn lässt!" --- die Frage ist nun, woher ein Künstler seine Informationen bezieht, woher er die Wahrheit kennt, wenn nicht auch medial vermittelt über die Massenmedien.
Ich denke in diese Richtung geht auch die Kritik, die Krystian Woznicki hier anschlägt: Muss es nicht Aufgabe der Medien sein, ihre eigene Realitätskonstruktion ständig zu hinterfragen?
Wer hat den Medien denn den Auftrag gegeben, moralische Urteile (siehe der Freitag) zu fällen?
Navigating News Online
May 9, 2011
Where people Go, How They Get There and What Lures Them Away
( http://www.journalism.org/analysis_report/navigating_news_online )
How the Media Have Covered bin Laden’s Death
Special Report
May 5, 2011
( http://www.journalism.org/commentary_backgrounder/how_media_have_covered_bin_laden%E2%80%99s_death )
"In unraveling exactly how the United States found and killed Osama bin Laden, the mainstream press found themselves reporting not only on an event of major consequence, but on an operation so viscerally daring and compelling it almost seemed more like the product of a Hollywood scriptwriter than the White House Situation Room."
( http://www.journalism.org/commentary_backgrounder/how_media_have_covered_bin_laden%E2%80%99s_death )
Jedoch: die Nähe zum Hollywood-Film wird nicht durch die Medien etabliert, sondern liegt dem Fall, der Operation als solche schon zu Grunde.
Diese Einschätzung scheint die Medien von ihrer Verantwortung freizusprechen.
Einem Journalismus, der sich in "Massenmedien" manifestiert findet, vertraue ich nicht mehr. Ebenso einer Politik, der Kriege mit Lügen inszeniert. Damit wird die Grundlage der Diskussion hier für mich mehr als fragwürdig.
Es gibt immer noch mutige Journalisten, die recherchieren, die sich nicht zensieren lassen und Wege finden, ihre Berichte an den Chefredaktionen vorbei zu veröffentlichen. Oft unter großen materiellen und auch existenziellen Opfern. Man findet sie, wenn man sucht. Bequemer ist es halt, am Montag auf die "Spiegel" zu warten und um 19 Uhr "heute" zu sehen.
The unimportance of bin Laden
Muslim majority countries will soon no longer be defined by their relationships with the West
"It may well be that the Arab "spring" is, in reality, the autumn of the Arab world's relations with the West, and a new path to another, broader spring, bounded this time by East and Orient. Against this emerging geo-economic landscape, the announcement of bin Laden's death has all the force of a fading wind, of a random event."
Hier finde ich die Kontextualisierung des Ereignisses aufschlussreich, obwohl mir ein wenig die Problematisierung des Libyen-Kriegs fehlt - und die Bedeutung der Bin Laden-Tötung für eben diesen Krieg, der ja auch eine wichtige Funktion hat im besagten "Arab Spring"
Dann schließlich noch folgenden Punkt:
"We are dealing, above all, with a primarily American, and more broadly European event."
Diese Aussage ist wichtig, weil hier eben auch die koloniale Perspektive angesprochen wird, die ich in meinen Ausführungen hier ( https://berlinergazette.de/pakistan-daniel-pearl-osama-bin-laden-live-internet/ ) heraus arbeite und die eben auch in den so genannten Facebook-Revolutionen in Nord-Afrika zum Tragen kommt, geschrieben habe ich darüber hier ( https://berlinergazette.de/facebook-vs-wikileaks-eine-revolution-die-uns-im-internet-jetzt-bevorsteht/ )
Es geht zwar schon um Inhalte, um das, was jetzt Fakt ist, etc. aber in erster Linie geht es um das Graben, das Fragen, das Offenlegen von Prozessen der Faktfindung etc. also eher um formale Dinge.
Meine Frage zielt eher dahin: Gibt es außerhalb der Medien tatsächlich eine Realität (oder Wahrheit) die Journalisten (oder der unbekannte Künstler/Querdenker) "ausgraben" können? Ist das nicht eine sehr romantische Vorstellung. Unsere Welt ist geprägt durch die Medien und jeder Wühlmausreporter muss letztlich seine Stories auch medial vermitteln.
Gerade vor dem Hintergrund dieser Überlegungen finde ich es so spannend, sich die "Medien" genauer anzuschauen und kritisch zu analysieren, wie sie mit Themen umgehen.
Du sagst: "Mir ist dieses Denken viel zu einfach und eher was für Jerry Bruckheimers Schreibtisch, als für die Zeitung." --- da kann ich dir nur zustimmen.
Doch gerade im Onlinejournalismus setzt sich das "filmische" Schreiben (nah dran, oral, bildhaft) doch immer mehr durch, oder?
Ich bin keine Kulturpessimistin aber ich glaube, auch und gerade im Netz muss auch kritischer Journalismus nötig sein. Gerade im Netz muss Platz sein für die kritische Medienbeobachtung.
Der Schreibstil und der Inhalt sind ja zwei unterschiedliche Sachen. Mein letzter Beitrag für die Berliner Gazette ( https://berlinergazette.de/schattengewerbe-wall-street-drogengelder/ ) war ja auch eher "filmisch" geschrieben, aber ich habe nun keinen cineastischen Inhalt wiedergegeben. Ich habe mich ja auch versucht an die Fakten zu halten. Und für mich ist es halt auch ein Fakt, dass eine Eliteeinheit der USA, im Ausland operiert und einen unbewaffneten Mann erschossen hat und für diese Fakten fehlen mir die rechtlichen Grundlagen. Und genau dieser Problematik sollten sich Journalisten auseinandersetzen, wenn das dann noch leserfreundlich aufbereitet wird, wäre alles gut. :) Okay außer den Inhalt...
So beginnt ein Beitrag des Spiegel, der an anderer Stelle in der BG auch schon kritisiert worden ist, damit, wie Mark Zuckerberg gerade zum zweiten Mal Besuch bekommt vom CIA. Der Text tut so, als sei man da gerade dabei, und der Leser muss eigentlich wissen, dass der Reporter sich das alles anhand von Fakten zusammenfantasiert, dass er selbst nicht dabei war als das passiert ist und dass er sich auch nur versucht in Mark Zuckerberg hineinzuversetzen und nicht wirklich durch seine Augen hindurch sieht/sehen kann.
Aber eben all dieses Wissen um das Entstehen wird schnell vergessen, sobald man "drin" ist in der Geschichte --- und das müssen wir auf den Unterschied zwischen Journalismus und Kino verweisen.
Der Boulvard arbeitet im übrigen ganz ähnlich: "David Beckham legt gerade den Telefonhörer auf und wendet sich dann seiner Frau zu, er stutzt, wann hat er sie eigentlich zum letzten Mal geküsst?"
Wenn ich auf solcher Basis heiße Diskurse um die Form der Vermittlung führe - wie komme ich mir dann vor?
Aber wir reden wohl über verschiedene "Fakten" und damit aneinander vorbei.
Deshalb leben wir mit Lügen. Manche Menschen sagen dazu "Illusionen" oder "Simulationen" oder "virtuelle Realität".
Die Frage ist, wie man damit umgeht. Die Frage ist, ob wir einzig und allein auf die Wahrheit, die Fakten beharren sollten, oder ob wir einen kritischen Diskurs mit dieser Verschaukelungsrealität der Medien führen sollten, ob das letztlich nicht fruchtbarer ist, weil pragmatischer und unmittelbar folgenreicher.
Da finde ich geht es dann schon umso was wie Sie es nennen "Diskurse um die Form der Vermittlung".
Denn eins müssen wir uns doch eingestehen: Was da mit den Massenvernichtungswaffen im Irak als Beispiel genannt wird, ist doch ein Einzelfall, sicherlich nicht für die Lügen, so doch aber für einen Sieg der Wahrheit über diese Lügen..
Osama bin Laden's Death Dominates the News
PEJ News Coverage Index: May 2-8, 2011
http://www.journalism.org/index_report/pej_news_coverage_index_may_2_8_2011