Vom Stehenbleiben der Zeit
“Die Fotografien eines Blinden: Das war gegen die Natur und die Natur würde es zu verhindern wissen. Er hatte in den letzten Wochen gespürt, wie die Zeit sich dagegen sperrte. Die Bewegungen der Zeiger seiner Armbanduhr verlangsamten sich von Tag zu Tag. Am Tag der Ausstellung gäben sie sicher jede Bewegung auf. Zuerst ginge der Stundenzeiger langsamer, dann der Minutenzeiger und schließlich blieben mit dem Sekundenzeiger auch die beiden anderen stehen.”
aus: Aléa Torik “Berlin am Meer”, Manuskript
Auch in dem kleinen Märchen “Sie haben eine halbe Stunde”, ebenfalls von Aléa Torik, bleibt die Zeit für den erschrockenen Asiaten Wu einfach stehen und er wird tausend Jahre alt. Hier noch ein Blick auf den Ort des unheimlichen Geschehens im Märchen. Bei so viel menschenleerer, labyrinthischer Geometrie muss die Zeit einfach stehen bleiben.
Von Huuboa – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15841354
Innenansicht der Bibliothek des Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrums der Humboldt-Universität zu Berlin
Lieber Bücherblogger,
vielen Dank für die freundliche Erwähnung. Jetzt sieht‘s natürlich so aus, als hätte ich nur ein Thema. Das ist aber nicht so, glaube ich jedenfalls. Allerdings ist „Zeit“ für mich durchaus interessant, weil sie in Deutschland anders vergeht als in dem Dorf aus dem ich komme. Nicht schneller oder langsamer, das wäre eine zu unbedeutende Veränderung, sondern strukturell anders. Da könnte man natürlich fragen: Wie anders? Wenn ich eine Antwort in einem Satz geben könne, würde ich das tun. Und für immer verstummen. Ich will deswegen Schriftstellerin werden, weil ich keine Antworten in Kürze geben kann. Sondern nur in der Länge. Und ich kann‘s auch nur versuchen. Auch in meinem neuen Versuch habe ich eine Stelle entdeckt, die mit der Zeit und dem Zeiterleben zu tun hat.
Herzlich
Aléa Torik
Liebe Aléa Torik,
seit tausenden von Jahren läuft die physikalische Zeit mathematisch genau und gleichförmig wie die Ausdehnung des Raumes, die subjektive Zeit dagegen ist immer nur ein wahrgenommener Augenblick. Das unterschiedliche Vergehen der Zeit ist wohl auch eine Frage der Soziologie einer Gesellschaft und ihres technischen Fortschritts. Deshalb verspüren Menschen in der Stadt auch oft den Wunsch nach Entschleunigung und Verlangsamung. Industrialisierung und damit verbunden schnellere Produktion und Kommunikation lassen uns das Landleben als idyllisch langsamer erscheinen, wobei diese Wahrnehmungen alle zusammen nur Trugbilder sein können. Anders und kürzer ausgedrückt:
Der Banker lebt schneller als der Bauer.
Auch mit dem Alter kommt das bekannte Klagen über das schnellere Vergehen der Zeit. Die dalihaften Beine der Vergangenheit werden eben immer länger und dünner oder wieder anders ausgedrückt:
Das Wasser aus einem nicht mehr so vollen Glas fließt scheinbar schneller.
Proust konnte das am besten ausdrücken:
„… als ob die Menschen alle auf lebendigen, unaufhörlich wachsenden, manchmal mehr als kirchturmhohen Stelzen hockten, die schließlich das Gehen für sie beschwerlich und gefahrvoll machten, bis sie plötzlich von ihnen herunterfielen.“
vgl. die letzte Seite aus „Die wiedergefundene Zeit“.
Schreiben ist Aufheben der Zeit, geronnene Erinnerung.
Auf die erwähnte Stelle im zweiten Versuch/Roman von Ihnen bin ich sehr gespannt.
Noch einmal viel Ruhe und Erholung auf dem Stuhl im Land am Meer
Dietmar
Lieber Bücherblogger,
können Sie zaubern? Und für mich den Uhrzeiger festhalten? Ein klein wenig. Seit mich die [Post]Moderne in ihrem Griff hat… äh… in ihren Bann gezogen hat, verfliegen die Stunden. Die Zeit zerrinnt mir zwischen den Fingern, während diese die Seiten der Studienbände des Funkkollegs Literarische Moderne umblättern. Da haben Sie was „angerichtet“ ;-), lieber Bücherblogger! Daher schaue ich kurz zu Ihnen herein… und sehe, dass Sie abermals Interessantes „hergerichtet“ haben… in Ihrem Blog: Die Blume des Bösen… ahhhh. Es gäbe so viel zu sagen… zu schreiben… gerade! Ich werde darauf zurückkommen! Auch über Ihren neuerlichen Eintrag bei mir habe ich mich sehr gefreut! Eigentlich ist er, aus der heutigen, jetzigen Zeit-Perspektive, in der ich dies hierher schreibe, ja nicht mehr „neu“, weil Ihr Eintrag bei mir nun schon einige Tage zurückliegt. Für mich bleibt er, bis ich darauf vollständig geantwortet habe, jedoch neuartig.
Sehr gefreut habe ich mich, dass Sie mein literarisches Weblog in Ihre Blogroll aufgenommen haben, damit hatte ich gar nicht gerechnet. Ich werde das Ihre auch noch bei mir „einbauen“. Ihre Leseempfehlungen ergänzen in so wunderbarer Weise meine „geistigen“ Auseinandersetzungen mit der [Post]moderne…… Und ja, für mich ist es ein „Einbauen“, wenn ich mich jenseits des Hineinschreibens von Beiträgen in diese CMS-Technologie begebe. Ich hoffe immer, dass dann „technisch“ alles klappt.
So ist es mir ein Rätsel, warum zwischendurch in Kommentarmodulen – wie diese – urplötzlich der Text abstürzt. Das ist mir eben vor einigen Minuten hier passiert und nun bekomme ich die wunderbaren Gedanken, die ich Ihnen ursprünglich hier herein formulierte, nicht mehr ganz zusammen.
Die Wiederholung von Worten, auch wenn es erst wenige Minuten her ist, ist eben nicht so, wie wenn die Worte unmittelbar aus dem Geist durchs Gehirn in den Arm in die Finger in die Tastatur und damit in dieses Kästchen hier fließen. In solchen Momenten, wenn einem diese moderne Technik Streiche spielt, möchte ich nicht nur die Zeit anhalten, sondern sie gar zurückdrehen können, auf jene Zeit von vor zehn Minuten, als ich hier noch einen ganz anderen Text formuliert hatte.
Leider bleibt die Zeit nicht stehen… sie eilt unbarmherzig voran… ich wollte Ihnen zwischendurch ein Lebenszeichen geben… bevor mich gleich die amerikanischen Beat-Poeten, die im Amerika Ende der 1950iger Jahre und vor allem in den 1960iger Jahren auch die literarische Postmoderne einläuteten, in ihre Worte-Rebellion zurückholen.
Einen interessanten Lese-Nachmittag wünscht Ihnen und allen Ihren Bloglesern
herzlich
Teresa
Liebe TeresaHzW,
über die technische Unvollkommenheit dürfen Sie sich nicht ärgern, mir ging es schon ganz genauso. Da sitzt man vor diesem eckigen Kasten, vertraut ihm die eigenen Gedanken an und wie geht dies Ding damit um, kümmert sich gar nicht darum, frißt alles in sich hinein wie die Zeit, aus der wir alle auch selbst irgendwann einmal einfach verschwinden. Man kann diesen „Zeitgeist“ nur mit den eigenen Waffen schlagen. Schreiben, aber nach spätestens zehn Zeilen alles markieren, Strg + C drücken und es erst mal in eine Textdatei kopieren. Dann kann man das geistige Eigentum später mit Strg + V versuchen an der Stelle wieder einzufügen oder es einfach noch einmal abschreiben.
Dass Ihnen das, was ich „herrichte“ oder bei Ihnen mit der „Literarischen Moderne“ „angerichtet“ habe, doch irgendwie gefällt und ein Echo findet, freut mich auch sehr. 1994 saß ich noch im Großen Lesesaal einer wissenschaftlichen Bibliothek und mit einer dort Aufsicht führenden französischen Kollegin habe ich die 10 Studienbriefe absolviert. Ich muss gestehen, dass ich noch heute stolz darauf bin, alle Hausarbeiten und auch die Abschlußprüfung damals mit „Sehr gut“ bestanden zu haben. Zumindest die Studieneinheit 2 über Baudelaire werde ich noch einmal lesen. Im Moment interessiere ich mich für die Verbindung Prousts zu Baudelaire. Er hat ja 1921, also ein Jahr vor seinem Tod, einen Essay „À propos de Baudelaire“ geschrieben, der in „Tage des Lesens“ enthalten ist. Diesen Band muss ich mir allerdings erst besorgen. In diesem Essay zitiert Proust auch die erste Zeile mit dem „Licht der grünen Mandelaugen“, die mir so gut gefällt. Die Übersetzung ist nicht schlecht, weil mir in den Mandelaugen schon die Bitterkeit der nächsten Zeile steckt und auch die Assoziation mit dem „giftigen“ Grün.
[Moment! Erst mal kopieren/sichern]
Ich glaube, die Nachmittage werden für meine Lektüre nicht ausreichen, heute sind schon wieder zwei Neulinge bei mir eingetroffen, „Lumpenroman“ und „Rayuela“, mindestens zehn weitere warten noch darauf, gelesen zu werden. Aber leben und schreiben muss man ja auch noch.
Ihren Beitrag über den Vinyl-Flohmarkt fand ich köstlich, vor allem die Ironie über die detailversessenen Verkäufer. Sammlerwahnsinn gibt es ja nicht nur bei Plattenjunkies, sondern auch bei Bibliomanen. Geschlechtsspezifisch scheint mir das aber nicht zu sein, die Sammelleidenschaft der Frauen steht der der Männer in nichts nach. Schwächen sind eben doch nur menschlich. Die Dialoge waren jedenfalls witzig und sie müssen die „Sixties“ gut kennen. Ich steuere auch schnell einen musikalischen Dialog bei:
She: „Careful with that axe, Eugene!“
He: „Wait, when that fat old sun in the sky is falling.“
Seien sie ganz lieb von mir gegrüßt, ich werde mich jetzt auf mein Fahrrad schwingen und 10km radeln, das ist gut für die alten Knochen.
Dietmar
Lieber Bücherblogger,
Sie scheinen doch, das Talent zum Anhalten der ZEIT zu haben… Wie sonst (??) ist es schaffbar, wie Sie, in so kurzer Zeit sooo viele Bücher zu lesen!?
ODER ist Ihr Lese-Vorgang eher als „Scannen mit den Augen“ zu bezeichnen? Am Ende zählen Sie zu den Schnelllesern? Es gibt ja Menschen, die im Laufe der Zeit, besondere Fertigkeiten im Lesen von Texten entwickeln. Dazu werden sogar Seminare angeboten (a la „in 30 Minuten ein Buch lesen“ – was für mich allerdings eher in die Kategorie Buch-Marketing gehört, als seriös als Schnell-Lese-Methode zu dienen, denn wie soll das gehen… mit den 30 Minuten… da läßt sich maximal das Inhaltsverzeichnis und das Vorwort erfassen).
Daher hoffe ich, dass Sie sehr schnell durch Ihren Bücherstapel, der letztes Mal noch hinter Ihnen auf dem Boden verstreut lag, lesender Weise durchgedrungen sind? Wenn Sie noch mittendrin sitzen, vielleicht sogar weitere Bücher hinzu gekommen sind? Vielleicht mögen Sie dann ein Buch, Sie erwähnten es oben, (für mich), quasi vorziehen: RAYUELA! Sehr gespannt bin ich auf dieses! Zählt es doch zu den „postmodernen“ Romanen, wenn ich irgendeinem Essay glauben darf, den ich in letzter Zeit las, ich weiß nur nicht mehr von wem…
Zwischenzeitlich habe ich drei Kapitel aus dem Funkkolleg der „Literarischen Moderne“ durch gearbeitet, natürlich mit dem der Postmoderne begonnen… dazu bei Gelegenheit mehr in meinem Blog ;-)
Auf Ihren Kommentar zu „Ein Moderner Roman“ (bei mir) hatte ich überlegt zu antworten; jedoch Ihr Kommentar setzt einen vorläufigen, wunderbaren Schlusspunkt unter die vielen anderen Kommentare, die dort eingegeben wurden. Und ich muss in meinem Blog im Verlauf einer Diskussion, die sich in Kommentierungen ausdrückt, nicht das letzte Wort haben ;-)
Einige Fragen aus Ihrem Kommentar bieten sich regelrecht dazu an, diese in weiteren Beiträgen zu vertiefen: Ausführungen zum Schiller-Städtchen Marbach (wo ich lebe, nicht mittendrin, aber davor) habe ich auch Aléa schon versprochen… (insofern stehe ich nun im doppelten Wort), auch zur Postmoderne wird es neue Gedanken von mir geben ebenso zu Stuttgart 21…und zur Leseerfahrung auch…uuppss… auch wenn ich gar nicht weiß, wann ich das alles, zu den laufenden Dingen schreibe…. Aber so isses wohl, mit diesen kleinen gefrässigen Blogwesen und den „Geistern“, die man damit ruft :-)
Einen sehr herzlichen Gruß hinüber in Ihre Bibliothek (so stelle ich mir das jedenfalls vor, dass Sie zuhause eine richtige Bibliothek haben, in der sie sitzen, lesend und dann rezensierend… ein wenig wie Borges?)
Teresa
Das „schnelle Lesen“, womöglich noch antrainiert, ist mir ehrlich gesagt ein Graus und für den literarischen Konsum bevorzuge ich, was ja auch für den körperlichen Genuss Gültigkeit hat, die gesündere oder geistreichere Form des langsamen Essens. Ich sehe gerade das Bild einer gefräßigen Krimileserin vor mir, aber ich möchte niemanden diskriminieren. Ich habe ein anderes Problem mit Büchern, das ich als Verzettelung bezeichnen möchte. Ich lese zuviel gleichzeitig und reise somit auch manchmal etwas willkürlich durch die literarischen Jahrhunderte. Ich gebe Ihnen ein Beispiel von heute morgen. Den „Lumpenroman“ von Bolaño habe ich zu ende gelesen, daneben liegt „Rayuela“, wovon ich erst das neue Nachwort des Bolañoübersetzers Christian Hansen, Kapitel 73 und 20 Seiten vom Anfang gelesen habe. Gleichzeitig lese ich aber in „Tage des Lesens“ von Proust den Essay
„À propos de Baudelaire“, um Verbindungen zwischen Proust und Baudelaire zu verstehen. Proust spricht von der Lyrik Alfred de Mussets und ich erinnere mich, ein kleines unscheinbares antiquarisch erworbenes Büchlein „Frédéric und Bernarette“, Hannover 1947, ungelesen im Regal stehen zu haben. Ich schlage im Harenberg Musset nach, finde viel Interessantes, das mir dies romantische Büchlein von 1838 schmackhaft macht, aber daneben steht ja auch der Lexikoneintrag „Mutmaßungen über Jakob“ und das erinnert mich an die „Jahrestage“ von Johnson, die ein NO im Blog „Aleatorik“ so wunderbar wiedergibt, kommentiert und die ich auch noch nicht gelesen habe. Von Ihren Hinweisen auf postmoderne Lektüre wie „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ oder „Manhattan Muffdiver“ einmal abgesehen, die mich auch ansprechen. Sie sehen, dieser verrückte Kerl wandert auf einem sehr krummen Weg irrend in der Ewigkeit herum. Aber nicht wie der wohl bedeutendste Autor der phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts als blinder Bibliothekar in Buenos Aires oder in einem Kloster auf der Suche nach dem Namen der Rose, nein, dieser Vergleich muss demütig abgewiesen werden. Ich stehe nur morgens am Fenster, atme die frische Luft ein, höre den Straßenverkehr mit dem Schulbus der Kinder, das Gezwitscher in der Eiche im Garten und frage mich wie alle anderen, was wir Menschen eigentlich sind?
Bolaño meint wir wären Vögel, Lars Gustafsson meint, wir wären eine Frage ohne Antwort, ich bin ein gutes Beispiel dafür.
Einen herzlichen Gruß an Sie
Dietmar
PS Auf die genannten zukünftigen Beiträge in Ihrem Blog bin ich gespannt!