Gipfeltreffen in Berlin

Das Morgenlicht schien beinahe grell in den Lesesaal der Jacob-und-Wilhelm-Grimm Bibliothek. An einem Fensterplatz saß eine junge Studentin, rotbraune Haare, ziemlich groß und selbstbewusst. Sie hatte gerade ein Buch aus dem Regal genommen, da setzte sich ein eleganter, schlanker, etwas altmodisch gekleideter Mann, so um die 30 an den Nachbartisch. Er weckte zwar ihr Interesse, aber Männer anzusprechen hatte sie nicht nötig, und wenn jene das taten konnten sie auch lästig werden. Plötzlich gab es ein dem Ereignis unangemessen lautes Geräusch, es hallte schrecklich in diesen heiligen Hallen. Einer ihrer Bleistifte war von der Tischkante gerollt. Madame Chauchat dachte sie unwillkürlich lächelnd und wollte ihn aufheben. Der Mann vom Nachbartisch war schneller und reichte ihn ihr mit den Worten:

”Ich sehe sie öfter hier, schreiben Sie an etwas Bestimmten?”

“Ich schreibe über Identität und Illusion,” antwortete sie knapp.

“Das ist interessant,” erwiderte er, “darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Ulrich, ich kenne jemand, der beschäftigt sich auf seine Art auch damit. Innen und außen, ich und du, die Welt, wo wir uns nun eigentlich befinden. Er heißt Robert, vielleicht haben sie schon von ihm gehört?”

Der heißt doch wohl nicht in Wahrheit Roberto und hatte ein etwas merkwürdiges Verhältnis zu Frauen?”

Nein, der den ich meine, stammt aus Klagenfurt, davon dürften sie doch schon von Ingeborg gehört haben?”

Ingeborg? Ich kenne Teresa, Melusine und Syra, da Sie mir auch Ihren Namen gesagt haben, ich heiße Aléa. Einen Uwe und Alban kenne ich auch. Teresa mag österreichische Autoren und vor allem die Habsburger.”

“Der Robert, den ich meine, der schreibt zwar auch über Österreich, aber zu einer Zeit, da hieß das noch K.u.K. Monarchie und der Himmel über ihr war noch blau.”

“Was die Farben und ihre Mischung angeht, da müssen sie Syra fragen, da kenne ich mich nicht aus.”

“Na gut, aber um auf Ihre Illusion zurückzukommen, sehen sie einmal aus dem Fenster. Könnten Sie sich vorstellen, dass dort draußen jetzt 1913 wäre, eine Straßenkreuzung und ein Unfall, ich selbst komme gerade zu der Menge am Straßenrand, die sich gebildet hat?”

“Vielleicht, aber was hat das mit Identität und Illusion zu tun?”

“Sehen sie, ich verrate ihnen etwas, ich träume mit meiner Schwester Agathe oft von einem Paradies, wo es zwischen uns gar keine Grenzen mehr gibt. Letztlich ist alles Glück Illusion, weil Menschen Augenblicke nicht festhalten können. Wenn sie ihr Buch zurück in das Regal stellen, werde ich verschwunden sein. Man schlägt diese sperrigen Dinger auf und dann werden sie lebendig. Schlägt man sie wieder zu, sind sie wie tot. Aber das scheint nur so, im Regal leben sie weiter. Nur Wasser und Feuer mögen sie nicht. Noch ein Geheimnis, das Gesetz über das Verbot von Bücherverbrennungen, egal ob sie Bibel oder Koran heißen, wird erst im Jahre 2666 erlassen. Ich hoffe wir sehen uns mal wieder, Agathe wartet schon auf mich, war nett mit Ihnen zu plaudern und streicheln Sie “Kleiner Onkel “ von mir.

Die junge Studentin stand auf und stellte ihr Buch zurück ins Regal. Man konnte auf dem Buchrücken von weitem nur noch zwei große Buchstaben erkennen, M und E. Da war aber auch so eine kleine, paradiesische Sehnsucht in ihr zurückgeblieben.

MoE

(Literarische Begegnungen der dritten Art. 2)