Roberto Bolaño: Lumpenroman IV
Leseeindrücke Kapitel 3
Bolaño erzählt, als ob er malen würde. Schnell minimalistisch, wenige Striche, skizzenhaft, realistisch knapp und plötzlich mit einem Satz in einem Traum magisch surrealistisch. Als ob er seinem Hauptwerk „2666“ eine ganz kleine Milieustudie aus dem Skizzenbuch eines Straßenmalers beilegen möchte. Das was zwischen den Zeilen, den schnell hingeworfenen Strichen, in den erst durch den Leser fragend zu füllenden Leerstellen des Textes, nicht gesagt wird, z. B. die Namen der beiden neuen, fremden Untermieter, die jetzt in die Wohnung des Geschwisterpaares einziehen, erzeugt mit jedem Satz eine Art bedrückende Atmosphäre.
Auf der Protagonistin Bianca und ihrem ebenfalls namenlosen Bruder lastet von Anfang an mehr als nur der Unfalltod der Eltern. Bolaño zeichnet hier die generelle Ausweglosigkeit einer römischen Jugend, die nur noch Video- und Fernsehfilme konsumiert, die Welt also aus zweiter Hand medial vorgekaut bekommt. Deshalb hängen sie auch spätpubertären Männlichkeitsidealen nach, die auch für rechtsradikale Strömungen offen scheinen, angedeutet durch die aus einem vorbeifahrenden Auto gerufenen Parolen „Faschismus oder Barberei“ und den Titeln der eher rechten genannten Zeitungen, die sie angeblich lesen. Diese Jugend ist gefangen in einer Bildungsferne. Zwischen Gelegenheitsjobs und Mittellosigkeit sehen sie in eine perspektivlose Zukunft, die nur als eine sich ins Endlose ziehende Leere erscheint. Drogen, Diebstähle, der Traum vom schnellen Geld scheinen Auswege aus dieser Welt der Beziehungslosigkeit.
Bianca befürchtet, ihr Bruder könne in die Kriminalität abrutschen, Wie zwei Gestalten eines Renaissancegemäldes, aber bedrohlich janusköpfig mysteriös, tauchen die beiden Fremden, ein Libyer und ein Bologneser, als Blutsbrüder auf, sind aber keine wirklichen Brüder. Das Unheilvolle, das von ihnen auszugehen scheint, ist das Ungesagte, nämlich das, was sie zu Blutsbrüdern gemacht hat. Dabei sind sie beruflich auch nur Verlierer und arbeiten mit Biancas Bruder als männliche Putzfrauen in einem Fitness-Studio. Das dürfte auch nur an ihrem Selbstwertgefühl kratzen. Dieses quasi nebenbei wieder aufzubessern versuchen alle, indem sie sich im Erraten der richtigen Antworten während einer Fernseh-Quizshow messen. Der Bologneser erweist sich als besonders gebildet und verfehlt damit auch nicht, bei Bianca Eindruck zu hinterlassen. Diese imaginiert aber ihren Bruder in eine Caféhausszene, wo sie ihn von den beiden neuen Mitbewohnern zu dubiosen Geschäften verführt sieht. Ihr Bruder ist ihr einziger Halt, den darf ihr niemand wegnehmen.
Der lapidare Satz, gern beendet Bolaño ganze Erzählungen mit solch nichtssagenden, offen bleibenden Floskeln, am Schluss dieses Kapitels lautet: „So verging die Zeit.“
Auffällig ist schon nach drei Kapiteln, dass ihre Länge immer fast gleich bleibt, filmische Auf- und Abblenden in einer trostlosen, jugendlichen Welt ohne Zukunft.