Das Geschenk, Kapitel 1, Das Wesen der Wörter, S. 1 und 2
Am Anfang war nicht das Wort, am Anfang war ein Ton, ein Klingeln oder ein Knall. Es gab eine ungeheure Energie und Kraft, unvorstellbar, die den Impuls hatte, sich zu veräußern, geistig und materiell geboren zu werden. Die Lebewesen eines Milliarden Jahre später entstehenden blauen Planeten nannten diese geheimnisvolle Form auch Gott oder Universum. Aber diesen Knall gab es nicht wirklich, man nannte ihn nur so, mit einem „Ur“ davor. Gehört hatte ihn ja niemand. Soweit ich weiß, glaubte Ulrich weder wirklich an Gott, noch an eine bestimmte Religion. Er war sich nur sicher, wieder Teil jener unbekannten Quelle zu werden, aus der er hervorgegangen war. Während seines Lebens war er nie etwas anderes als dieses ionenhafte, nichtstoffliche Zeichen gewesen, und würde auch nie etwas anderes sein. Ein dahinfließender Schatten, ein Tropfen Tau an einer Grashalmspitze oder ein Stein unter einem Strauch, von dem der Regen seinen Namen waschen würde.
Jedes Wort eines Menschen ist wie ein Sandkorn am Strand. Wie könnte es die ganze Geschichte des Meeres erzählen? Was weiß ein Sandkorn vom Rauschen der Wellen oder dem Wind in den Segeln der Schiffe? In diesem Sinne bleiben alle Wörter stumm wie Fische. Aber mit jedem Satz, mit jeder Welle, die über es hinweg rollt, verwandelt das Wasser jenes Sandkorn wieder zu einem Tropfen des Meeres, zu einem Teil der Geschichte.
Ulrich wurde in der Mitte der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts geboren; wir waren seit unserer Jugend Freunde. Manchmal blättere ich in dem Fotoalbum, das er mir schenkte, heute ist es eine nostalgische Erinnerung, die sogar die fünfziger Jahre wieder auferstehen lässt. Diese alten Fotografien geben seiner Kindheit und der damaligen Zeit eine gewisse Lebendigkeit. Er starb im Alter von 55 Jahren. Ich will Ihnen sporadisch aus seinem Leben erzählen, das Buch kann man aber auch schnell durchblättern. Ich erinnere mich an meine Praxis bei YouTube-Filmen. Wenn es mir zu uninteressant wurde, habe ich einfach die Computermaus genommen und auf dem Abspielband einen anderen Punkt gewählt, weiter zum Ende hin oder ich habe meinen PC ganz abgeschaltet. Wenn man die letzte Seite eines Buches erreicht hat, schlägt man es endgültig zu und es findet sein Grab im Regal. Aber zugeschlagen werden wir alle, kein Grund zum Lamentieren. Wenn ich jetzt über ihn schreibe kommt es mir so vor, als nähme ich ein Buch wieder aus dem Regal und wenn ich es aufschlage, ist er wieder lebendig. Ich erstatte Ihnen nur Bericht, an sein Leben erinnere ich mich mehr oder weniger gut aus seinen eigenen Erzählungen, Briefen, Fotoalben. Wenn ich mir manchmal die zusammenhanglosen Fotografien auf der Festplatte meines Rechners per Diashow anzeigen lasse, kommt es mir so vor als betrachtete ich das Leben von Mikroben oder Ameisen, Chimären in wechselnder Gestalt, die das, was wir Leben nennen, weggewischt hat, wie die Zukunft alle Gegenwart zu Vergangenheit werden lässt. Es ist als ob die Dinge keine Heimat hätten, als ob nur ein Flimmern bliebe, ein Rauschen ohne Sinn.
Vor allem von seiner schweren Krankheit will ich erzählen. Sie hat sein ganzes Leben bestimmt, scheint es mir. Mit dem 6. Januar 2009 will ich anfangen, denn da ging es ihm schon sehr schlecht und die bleierne Müdigkeit, mit der er dalag, hatte ihren Grund: kryptogene Zirrhose der Leber und primär sklerosierende Cholangitis. Drei Monate später sollte er tot sein.
Am Nachmittag dieses Wintertages, klingelte das Telefon wie in der Eingangssequenz von Sergio Leones Film „Es war einmal in Amerika“. Erschöpft, müde und kraftlos lag er auf dem gelben Sofa im oberen Stockwerk. Das Klingeln war wie ein Knall. Es sollte immer in seinen Ohren bleiben, wie in diesem die Zeiten verschmelzenden Film über mehrere Szenen hinweg, nachdem dort eine Frau brutal ermordet und die Kamera über verbrannte Leichen hinweg geschwenkt hatte. Keine Angst, dies wird eine eher langweilige Geschichte.