Auf der langen Suche nach Marcel Proust
Paul Helleu: Marcel Proust auf dem Totenbett 1922
Heute, vor genau 88 Jahren, am 18. November 1922, starb in seiner kleinen Pariser Wohnung in der Rue Hamelin der Autor eines Buches, das ich schon sehr früh in meinem Leben lesen durfte. Etwas nostalgisch und pathetisch könnte ich heute sagen, im Alter von 15 Jahren im Krankenhaus habe ich mich durch die sieben Bibliotheksbände der Kreisbücherei Northeim gelesen. “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” erscheint mir rückblickend wie die Geburtsstunde meines eigenen Lesens. Vermutlich ist das falsch. Vorher gab es wohl schon den damals sehr in Mode gekommenen Hermann Hesse und eine Buchreihe, die “Modernes Theater” bekannt machen wollte, war damals auch einer meiner Leseschwerpunkte. “Theatrum Mundi” hieß sie und dort gab es Theaterstücke von zum Beispiel Eugene O´Neill, Edward Albee oder W. B. Yeats zu lesen. Viele Bücher sind den sieben Bänden, die mir mein Großvater ans Krankenbett mitbrachte, gefolgt. Viele haben mich beeindruckt, keines von ihnen mehr als die “Recherche”.
Dann liest man Biographien, man wühlt sich durch die eine oder andere Sekundärliteratur, man sieht Verfilmungen wie “Eine Liebe von Swann” oder “Die wiedergefundene Zeit von Raúl Ruiz. Ich erinnere mich sogar an Percy Adlons poetischen Film “Céleste” mit Eva Matthes in der Rolle der Haushälterin, Vertrauten, letzten Sekretärin Prousts, die ihn bis zu seinem Tod pflegte, Céleste Albaret. Sie beschrieb ihre Erinnerungen fünfzig Jahre später in einem kleinen Buch. Nichts aber sind diese gesamten Adaptionen gegen das Werk selbst. Wir werden einen Schriftsteller nie besser wiederfinden, als in seinen Büchern. Das gilt für alle Schriftsteller, auch zum Beispiel für Iris Murdoch, über die es auch den Film “Iris” gibt. Ein Film kann die Literatur, die Lektüre, nicht ersetzen. In der Dokumentation auf arte, die noch einmal am 5. Dezember gesendet wird und die ich empfehlen kann, kommt auch sie über Proust zu Wort:
”Proust writes like an angel. His is a marvelous eloquence. And he´s very funny. You´re delighted, that such a thing as Remembrance can exist and that it has got the kind of internal coherence that it has and that it can deal with all these matters and relate them to each other in a comprehensible, intelligible way, which causes the most intense pleasure which one does take in great art.”
Viele Freunde und Bekannte habe ich getroffen, denen ich dieses Monumentalwerk nicht schmackhaft machen konnte, die sich schon am Anfang in den langen Sätzen verfingen oder die mit dem Vorwurf des Snobismus eines Möchtegern-Adeligen kamen. Man kann eigentlich niemanden von einem Buch überzeugen, was durchaus im Widerspruch zu dem steht, was ich hier selbst mache. Aber der Kirchturm von Combray, die Madeleine, der Tee, die Weißdornhecke, die Herzogin von Guermantes, Gilberte Swann und Albertine, Baron Charlus, Charles Swann und Odette de Crécy, Robert de Saint-Loup, Madame Verdurin, Tante Leonie, die Großmutter und die Mutter mit ihrem Gute-Nacht-Kuss, die Künstler Elstir, Vinteuil und Bergotte, sie alle haben damals Gestalt angenommen in meiner Phantasie. Das Wichtigste aber, damals identifizierte ich mich bedingungslos mit den Leiden des Erzählers. Ob es um den vermissten Kuss oder den Tod der Mutter ging, da berührte mich etwas in meinem innersten Kern. Ich habe manchmal das Gefühl, als begleite mich dieser Kern das ganze Leben lang.
Emmanuelle Béart und Marcelo Mazzarella
So kann ich nur lapidar sagen, lesen Sie Proust, entweder wieder oder machen Sie seine Bekanntschaft, es kann nur ein Bund fürs Leben werden. Auf einige Bücher über Proust und eine kommende Fernsehsendung möchte ich an dieser Stelle noch verweisen:
Das Marcel Proust Lexikon. Suhrkamp Taschenbuch 1999.
Das Proust-Album. Suhrkamp Verlag 1975
Céleste Albaret: Monsieur Proust. dtv 1978
Marcel Proust. Ein Schriftstellerleben. 1992. Film auf arte. Letzter Sendetermin 5. Dezember 2010 5 – 6 Uhr
Eric Karpeles: Marcel Proust und die Gemälde aus der Verlorenen Zeit. DuMont 2010 siehe auch Beitrag von Thorsten Wiesmann
Sie befinden sich in bester Gesellschaft mit Morel, der, glaube ich, im gleichen Alter wie Sie anfing, Proust zu lesen und seither nicht wieder damit aufgehört hat. Als ich ihn kennenlernte, 7 Jahre später (ungefähr), war er jedenfalls davon schon gefangen. Madeleines und ein Paris – das wir s o nie fanden, aber anders…
Guten Morgen, verehrte Melusine Barby,
grüßen sie mir unbekannterweise Morel. Bei diesem Namen steigt in meiner Erinnerung eine etwas zwielichtige Gestalt aus der „Recherche“ vor mir auf, die den gleichen Namen trägt. Ganz dunkel meine ich mich zu erinnern, eine der Affären des homosexuellen Baron Charlus sei das gewesen, der später sogar von diesem verraten wird, eine Art Judas. Als Heterosexueller habe ich immer dazu geneigt, mich mehr auf die Melancholie der Gefühlsverwicklungen des Erzählers mit den „jungen Mädchenblüten“ zu konzentrieren. Ich stelle mir gerade vor, dass Proust heute diese Transposition zwischen Hetero- und Homosexualität nicht mehr nötig hätte. Das ist aber auch eines der Dinge, die man mit Proust lernen kann, dass nämlich die menschlichen Gefühle, ob von weiblicher oder männlicher Hetero- oder Homosexualität geprägt, immer die gleichen sind.
Ich rätsele ein bißchen, ob Ihr Morel seinen Namen nicht dieser Figur bei Proust verdankt. Das würde weiteren Spekulationen das Tor öffnen, warum gerade dieser Charakter, aber das führt zu weit.
Einen herzlichen Gruß an Sie und Morel
Der Buecherblogger