Das Geschenk, Kapitel 1, Das Wesen der Wörter, S. 6/7

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Da gibt es auf einem  Foto den geheimnisvollen Garten deiner Großmutter, und ich sehe dich als spielendes Kind im Wald. Aus weißen Steinen legst du ein Mosaik im Schatten der Bäume. Ein Muster, das Monate später das Moos verschlingt. Das ahnungslose Spiel der Steine, das ganze Glück in einer Hand. Du bautest eine kreisförmige Mauer, in der Haus und Garten ihren Platz fanden. Diese frühe Sehnsucht nach Schutz und Geborgenheit. Wie trügerisch angesichts der Zukunft. Spielend die Welt begreifend, wird man gleichzeitig selbst ungewollter Spielball in den Strukturen der Familie. Vermeintliche Unschuld trifft auf Gesellschaft. Die Sonnenstrahlen flimmern durch die dicken Stämme der Bäume hindurch und lindern das Dunkel des Waldes. Licht verwandelt alles.

Sollte ich nicht ganz am Anfang beginnen, mit deiner Geburt oder als Fötus im Mutterleib? Aber Anfang und Ende scheinen mir nur mathematische Punkte, die Zeit ist ein unaufhaltsamer Fluss der Verwandlung. Auf einer anderen Ebene verlor dein Körper später das Geheimnis der Stoffumwandlung, der Synthese, die ihm nicht mehr richtig gelang. Schon bei der Geburt verwandelt sich ein stummer Embryo zum schreienden Kind. Niemand erinnert sich an den ersten Schrei und weder ich noch du oder unsere Mütter konnten sich an unsere ersten Worte erinnern.
Die Fotografien jener Zeit, als seine Eltern heirateten, sind schwarzweiß, die Menschen setzten sich damals in Pose. Das spontane Foto war verpönt, es kam höchstens bei Feierlichkeiten zum Einsatz. Die Hochzeitsfotos seiner Eltern, als er noch unsichtbar im Bauch seiner Mutter nistete, gaben den ersten Anlass zu gestellten Gruppenfotos von der Hochzeitsgesellschaft aus Familie und Verwandten, der Dorfgemeinschaft und des Brautpaares.

Das vorherrschende Bestreben war es, nichts falsch zu machen, beziehungsweise das zu tun, von dem man annahm, dass die Nachbarn oder Freunde es erwarteten. Eingerahmt von fünf Blumenmädchen und einem Blumenjungen, der vor seinem Vater sitzend er selbst hätte sein können, wenn er denn schon geboren gewesen wäre, saßen seine zukünftigen Eltern im schwarzen zweireihigen Anzug und ganz traditionellem weißen Hochzeitskleid mit Schleier vor der Kulisse der vielen feierlich gekleideten Hochzeitsgäste Modell für einen unbekannten Fotografen. Eine Wiese und die kahle Wand eines grauen Hauses zwischen den Ästen zweier Bäume boten einen unspektakulären Hintergrund. Die Körper wirken steif, Haltung bewahrten die Gäste, seine zukünftigen Großeltern und seine spätere Oma mütterlicherseits, und auch das Brautpaar selbst. Vor allem sein schlanker jugendlich wirkender Vater, den er ja so selbst nie kennengelernt hat, versucht einen strahlend, männlichen Eindruck zu hinterlassen. Einmal lachen sie glücklich in die Kamera, ein anderes Mal schauen sie etwas verdrießlich ernst. Sein Großvater mütterlicherseits war schon vor seiner Geburt an den gesundheitlichen Folgen aus dem Zweiten Weltkrieg gestorben, der wohl barbarischste Krieg der Menschheit. Die Deutschen waren das passende Volk für die Diktatur des Faschismus, in ihnen lag der Glaube an die führende Kraft einer militaristischen Haltung. Die restaurativen fünfziger Jahre lebten von der Verdrängung dieser Zeit, aber die Angewohnheiten einer strammen, bürgerlichen Haltung führten zu einer strengen Moral, die in Wahrheit aber nur vorgab, eine solche zu sein. Was weiter regierte war die Aufrechterhaltung des schönen Scheins.

Seine Eltern waren mit zwanzig Jahren ein junges, fast noch jugendliches Paar, das aber kurz nach dem Krieg geringe Chancen zu einer Berufskarriere hatte. Nach den strengen Schusterlehrjahren seines Vaters musste möglichst schnell eigenes Geld verdient werden. Sein Vater beschloss, als Arbeiter in einer Schuhfabrik anzufangen. Wie so viele Menschen nach dem Kriegsende blieb er damit weit hinter seinen eigentlichen beruflichen Wünschen und Möglichkeiten zurück. Frauen waren auch nicht besser dran. Seine Mutter begann als ungelernte Kraft ebenfalls in der Fabrik. Er selbst schlummerte nach der Hochzeit versteckt im Bauch seiner Mutter. Es war zu dieser Zeit ein Makel unehelich geboren zu werden und seine Mutter war psychisch vorbelastet, sie war selbst ein Adoptivkind gewesen. So wurde soziologisch gesehen wenige Monate nach der Hochzeit ein Arbeiterkind geboren. Ein weit verbreitetes und akzeptiertes Motto dieser sozialen Schicht war der auch von mir später oft gehörte Satz: „Du sollst es doch einmal besser haben als wir“. Für den so großzügig Bedachten hatte diese Maxime nur den Nachteil, dass sie von der Elterngeneration mit Gehorsam erkauft werden musste. Der korrespondierende Satz dazu lautete: „Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, machst du, was ich dir sage“. Die heilige Kraft der Worte.