Dieter Forte: Auf der anderen Seite der Welt I
Leseeindrücke S. 9 – 39 der TB Ausgabe “Tetralogie der Erinnerung” Bd. 4.2010
Die Kapitel dieses Buches sind nicht gezählt, dafür beginnen sie alle mit diesem einen ersten Satz. Die poetische Sprache des Satzes erscheint wie ein Programm oder eine Mahnung des Autors an sich selbst, das hohe Niveau des sprachlichen Ausdrucks nie zu verlassen. Die Präzision der beschreibenden Erinnerung wird von einem enormen poetischen Sprachgefühl begleitet. Viele Sätze wirken wie gemeißelt, der erste ist es gewiss. Nicht ein Wort erscheint austauschbar, das ganze Buch schöpft sich bereits aus diesem Satz. In einer “tiefen” Nacht, sie scheint mir zurückzureichen bis vor den Anfang der Welt, liegt ein Mensch im Sterben. Es ist die Schwelle zwischen Leben und Tod, die andere Seite wartet schon. Dort schläft das Licht weit draußen auf dem Meer und noch dahinter, wo es aus seinem Gegenteil, der Schwärze, geboren wird. Metaphern für die Seele, die hinausschwimmen wird, um sich mit dem schwarzen Stein vom Anbeginn der Welt zu verbinden. Seefahrer im Meer des Lebens waren wir lange genug. Dort hinter das Meer, in dieses Licht, geht man nur einmal und dann für immer.
Die Handlung des kurzen ersten und zweiten Kapitels ist unspektakulär. Ein junger Mann sitzt in den Nachkriegsjahren in einem Zug, um in ein Sanatorium auf einer Insel zu fahren. Im Grunde werden nur seine Reiseeindrücke aus der Erinnerung beschrieben. Die Bahnhofsabfahrt aus dem Schoß der Familie bis zur Ankunft und Einweisung in ein Zimmer des Krankenhauses. Dies ist der letzte Band der “Tetralogie der Erinnerung”, deren erster bereits 1992 erschien. Es ist auch der erste Roman, den ich von Dieter Forte lese und soweit ich weiß, sein bisher letzter. In allen vier Bänden geht es um Erinnerungen an Familiengeschichte, um den Krieg, aber als entscheidend kommt mir bei diesem erinnernden Erzählen vor, dass nicht nur Ereignisse, Handlung und Eindrücke wiedergegeben werden, sondern die Stimme des Erzählenden aus einer Art Todesnähe oder einer Grenzerfahrung, als ob jemand sich aus dem Raum weit hinter dem Meer an Leben und Licht zurückerinnert, spricht. Dadurch erhält sie einen durchgehenden, eigenen Klang, der manchmal pathetisch, manchmal bodenständig plattdeutschen Dialekt zitierend, der eigenen Biographie, menschlich allgemeingültige Züge, aber durch die Sprachkraft Einzigartigkeit verleiht. Jeder hätte Erinnerungen dieser Art zu erzählen, Bahnhofsabschiede, Schiffsfahrt auf eine Insel, Ankunft in einer Klinik, lebendig wird dies aber nur durch sprachliche Kraft und die Distanz des erzählenden Blickes. Ein Beispiel von der als heikel empfundenen ersten Schiffsüberfahrt :
“Das war wohl die Insel, die, als sie näher kamen, wunderbar feststehende Häuser und Bäume vorzeigte. Er dankte Gott, so eine Meeresfahrt stärkte den Glauben auch bei Ungläubigen, dankte ihm dafür, daß er rechtzeitig daran gedacht hatte, dieser aus Wasser bestehenden Erde einige feste Teile hinzuzufügen, umgekehrt wäre es besser gewesen, aber auch die göttliche Weisheit hatte wohl ihre Grenzen, und die christliche Seefahrt war noch unbekannt, wer konnte schon ahnen, daß Menschen einmal Meere überqueren würden.”
Der Detailreichtum, mit dem die Reiseeindrücke des jungen Mannes im Zug beschrieben werden, der Blick zurück auf die verschwindende Stadt, das Bild der Turmuhr ohne Zeiger als Zeichen des ständigen Verrinnens der Zeit und des trotz aller Reisen auch immer bestehenden Stillstands, den man auf der anderen Seite im Sanatorium um so deutlicher bemerkt. Die poetische Beschreibung der Wolkengebilde aus dem Zugfenster, “nächtliche Wolken segelten schlaftrunken in Richtung der fernen Städte”, mich hat vor allem die Sprache auf diesen ersten Seiten fasziniert und ich sehe den kommenden Seiten gespannt und erwartungsvoll entgegen.
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