Teestunde am Prenzlauer Berg
Alexander Alexandrowitsch Deineka: Junge Frau mit Buch 1934 St. Petersburg
Aléa hatte den merkwürdigen “Mann ohne Eigenschaften”, den sie in der Bibliothek und dem Zugabteil getroffen hatte, längst vergessen. Von einem gemeinsamen Besuch in Paris musste sie nur geträumt haben. Doch las sie nicht gerade von ihm in dem zum Fenster hin aufgeschlagenem Buch, während der Tee vor ihr schon fast ausgetrunken war. Der Silberlöffel glänzte einsam in der mit blauen Beeren verzierten Tasse und das sanfte Licht des Fensters fiel hell auf ihre rechte Gesichtshälfte und auf das ausgeliehene Buch, das sie dem Licht entgegenhielt. Sie las konzentriert und mit einem ernsten Blick, wie immer. Literatur war Nahrung für das eigene Schreiben, kein Spaß. Ihre glatten, langen, dunkelbraunroten Haare trug sie in der Mitte gescheitelt streng nach hinten gebunden, wo einige Haarsträhnen aufbegehrten, ihre Freiheit behaupteten und sich gegen diese Strenge nicht bändigen lassen wollten. Das Buch hielt sie behutsam mit den langen Fingern einer Klavierspielerin. Olga, das russische Model mit dem sie zusammen wohnte, war unterwegs, um sich mal wieder von einem ihrer Verehrer erobern zu lassen oder war auch sie nur eine Fiktion um der Leere der eigenen Wohnung zu entfliehen?
Sie blickte ein wenig niedergeschlagen und traurig in ihre Lektüre. Olga hatte Blumen mitgebracht, rote Nelken, die sich auf dem Fensterbord nach vorne neigten, als gäbe es unten auf der Kopenhagener Straße irgendetwas Interessantes zu sehen, ein Verkehrsunfall vielleicht. Die bauchige Vase stand selbst wie an einem Abgrund auf dem äußersten Rand des Fenstersims. Schon vor hundert Jahren hatte es auf einer Straße ein Verkehrsunglück gegeben. Mit diesem Ereignis fing das Buch an, in dem sie blätterte, in einer anderen Stadt, in Wien. Aber
“… auf den Namen der Stadt soll kein besonderer Wert gelegt werden. Wie alle großen Städte bestand sie aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander, und glich im ganzen einer kochenden Blase, die in einem Gefäß ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht.” *
Sie war nun schon fast in der Mitte des weißen Bandes angekommen und hatte schon von Clarisse, Agathe, General Stumm von Bordwehr, Diotima, Moosbrugger, Walter und diesem Ulrich gelesen. Dieser schien wie ein Geist aus der Flasche eine ungreifbare, undurchsichtige Projektion des Autors selbst zu sein, sie war sich nicht sicher. Hatte sie da nicht eben ein Geräusch hinter sich gehört. Ach, Geräusche. Das erinnerte sie an etwas. Manche Dinge machten gar keine Geräusche. Wenn man zum Beispiel Schriftstellerin wurde, war das zu hören oder passierte das lautlos? Zu welchem Zeitpunkt wurde man überhaupt Schriftstellerin oder war man es irgendwann ganz einfach. Wer bestimmte das, man selbst oder andere? Kam man schon als Schriftstellerin auf die Welt?
Der gravierendste Unterschied zu der Romanwelt Ulrichs war wohl, dass die Welt sich beschleunigt hatte, Flugzeuge, immer schnellere Automobile, selbst Radfahrer konnten nicht schnell genug sein und Raketen waren immer noch zu langsam. Noch schneller war die Welt der Kommunikation geworden, Informationen rasten wie die Geldströme in Nanosekunden um den Erdball. Doch immer noch waren Gedanken das Schnellste und Flüchtigste von allem. Die Flut aller Informationen korrespondierte mit der Geschwindigkeit ihres Vergessens. Die Gedanken waren eigentlich schon wieder weg, bevor man sie dachte, man konnte gar nicht so schnell denken, wie sie plötzlich auftauchten. Deshalb versuchte sie vor allem eins zu sein: Gedankenfesthalterin. Aber konnte man zum Beispiel die Tränen eines Blinden sammeln, auffangen in gedruckter Schrift auf Papier? Würde das Papier nicht aufweichen und zu einer Farce der Unaufrichtigkeit werden? Eine peinliche Inszenierung? Im Grunde spielte das keine wirkliche Rolle, denn “in der feinen Unterwäsche ihres Bewußtseins wußte sie”,* dass es eine Kraft in ihr gab, die sich nicht ablenken ließ, die sie schon aus dem Dorf eines anderen Landes, in dem sie geboren war, mitgebracht hatte. Ein Selbstbewusstsein, dass unumstößlich war, sich nicht ablenken ließ von dem Wunsch, selbst Figuren in einem eigenen Buch zu erfinden. Dagegen rührte sich nur manchmal ganz einfach die Sehnsucht, noch einmal so verstanden zu werden, wie sie es schon einmal erfahren hatte. Mochte Olga so verführerische rote Dessous wie die Wand hinter ihr tragen, sie suchte anderes.
“Dir fehlt Zärtlichkeit, die Zärtlichkeit, mit der Worte streicheln können,” hörte sie eine innere Stimme sagen.
“Firlefanz, ich brauche Erfolg, ernsthaften Erfolg,” wollte sie erwidern.
Im Umfeld der Kultur schaffenden literarischen Avantgarde des Prenzlauer Berges konnte doch nur Erfolg zählen, sonst nichts. “Ich werde es euch schon zeigen”, bäumte sie sich gegen die aufkommende depressive Stimmung auf und wollte gerade in die Küche gehen, um sich ein kleines Abendbrot zuzubereiten.
Draußen wurde es schon langsam gespenstisch dunkel. Ulrich stand unter ihrem Fenster und kam sich wie in einer Balkonszene vor. Seit er zu einer Romanfigur geworden war, bereitete ihm die Überwindung von Zeit und Raum keinerlei Schwierigkeit mehr. Er reiste als Teil des Buches, in dem er nun einmal vorkam, immer mit, war sozusagen gleichzeitig omnipräsent. Trotz Eigenschaftslosigkeit hatte er die Fähigkeit, sich in einzelne Buchstaben auflösen zu können, um sich an anderer Stelle ganz einfach wieder neu zusammenzusetzen. An den Rändern der Kopenhagener Straße parkten Kopf an Kopf unendliche Schlangen von Autos. Im Schatten der Straßenlaterne wartete er wie ein amerikanischer Detektiv, falls Aléa nach einem Nervenzusammenbruch aus dem Fenster springen sollte. Er lief mitten auf der Straße, bereit um sie aufzufangen. Lieber wäre es ihm gewesen, wenn er am Ende doch nur eine heruntergefallene Blumenvase in der Hand gehalten hätte.
Edward Hopper: Night Shadows 1921
* aus: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hrsg. von Adolf Frisé. Rowohlt 1978 Bd. 1, S. 2
( Literarische Begegnungen der dritten Art.8 )
Lieber Dietmar,
gut, jetzt haben Sie vorgelegt, was den Dieter Forte betrifft und ich gerate ins Hintertreffen. Das wird sich mit meinem Beitrag auch noch ein paar Tage hinziehen, ich mache vorher noch etwas anderes. Das muss recht schnell passieren. Ich wollte auch etwas zu Ihrer Frisch Lektüre sagen, habe es aber nicht geschafft. So ist das im Semester.
Dann sage ich also zu diesem Text etwas. Das machen Sie gut, diese Verwirrungen und Verirrungen des Bewusstseins und der Phantasie. Wenn Sie mit Aléa mich meinen sollten und mit Olga Olga, dann allerdings irren Sie in dem einen Punkt, der „feinen Unterwäsche des Bewusstseins“, die ist so fein nicht. Aber ansonsten: mein Kompliment, das ist sehr gekonnt, diese Partikel von verschiedenen Ecken zu nehmen und sie dann ineinander zu flechten.
Aléa
Liebe Aléa,
mein Erfinder meint, ich solle seine Textstelle noch einmal vollständiger zitieren:
„Sie gehörten ersichtlich einer bevorzugten Gesellschaftsschicht an, waren vornehm in Kleidung, Haltung und in der Art, wie sie miteinander sprachen, trugen die Anfangsbuchstaben ihrer Namen bedeutsam auf ihre Wäsche gestickt, und ebenso, das heißt nicht nach außen gekehrt, wohl aber in der feinen Unterwäsche ihres Bewußtseins, wußten sie, wer sie seien und daß sie sich in einer Haupt- und Residenzstadt auf ihrem Platze befanden.“
Er meinte noch, was die Feinheit Ihres Bewußtseins anginge, würden Sie sich unterschätzen. Er würde jetzt schon eine ganze Weile Ihren Gedanken folgen und ein feiner gesponnenes Netz müsste man in demselben lange suchen. Mich hat er gerügt, weil ich aus seinen harmlosen Sätzen eine Melange mit erotischem Unterton zubereitet hätte, dabei wäre es ihm doch nur um die verbindende Metapher gegangen, dass sowohl die Bekleidung als auch der Geist aus sehr feinen unterschiedlichen Schichten bestehe. Ich hätte mich mal wieder, wie es für einen eigenschaftslosen Mann typisch sei, der selbstgefällig um Aufmerksamkeit ringt, anzüglich geäußert. Unter uns gesagt, ich ernte öfter das Mißfallen meines Schöpfers. Sie sehen ja, was ich davon habe, ich stehe jetzt mit den Bildern grober Damenwäsche im Kopf weiter unter Ihrem Fenster. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Blumen, was meinen Text angeht, und dass sie nicht in Form einer Blumenvase auf meinem Kopf gelandet sind. Wer wo Texte zuerst „vorlegt“ ist unwichtig, auf ihre würde ich mit Engelsgeduld sehr lange warten, denn ich bewundere sie schon im voraus. Oder glauben Sie im Ernst, ich würde sonst so lange unter Ihrem Fenster stehen?
Ulrich