Dieter Forte: Auf d. anderen Seite der Welt III
Leseeindrücke S. 116 – 170 der TB Ausgabe “Tetralogie der Erinnerung” Bd. 4.2010
Da blättert man nun in diesem Buch und Walter Benjamins Paul-Klee-Engel blickt immer nur zurück. Dass Erinnerung Motor des Schreibens ist scheint mir mehr als wohlbekannt. Bei Dieter Forte wird die persönliche Erinnerung zu der einer ganzen Generation. Wenn ich dagegen an ein Krankenhaus denke, an meine Zeit 1975 in Kassel, sehe ich das Bild eines damaligen Bettnachbarn, der Gitarre spielend unter einer Krankenhaustreppe im Morgenmantel hockt, mit langen Haaren und Bart, ein Bild der Siebziger: “Across the Black Sea, bringing mysteries for you and me”. Auch diese Zeit ist vorbei, der Bettnachbar von damals müsste eigentlich tot sein, so wie ich. Wir spielten beide Gitarre, Leberkranke einer anderen Generation, einer Generation der Träumer, die eine Welt aus Trümmern nicht mehr kannte, wohl aber die, die sich an nichts mehr erinnern wollte.
Wie Filmszenen aus restaurierten Erinnerungsbildern tauchen in diesem ca. fünfzig Seiten langem Kapitel die einzelnen Absätze zu jeweils einer Person oder einem Thema auf. Der Müll-Künstler Mischa, der am Ende von der Gesellschaft als Psychopath eingestuft, Selbstmord begeht. Die alte wissende Frau, die sich aus den fast hundert Jahren gesellschaftlicher Lüge nichts mehr macht, der sie selbstbehauptend die übertrieben geschminkte Maske ihres Gesichts entgegenhält. Rückblicke in die Düsseldorfer Jazz- und Bluesmusikszene, die ein wenig verklärt geschildert wird. Der Autor huldigt mehr den eigenen authentischen Jugenderinnerungen und strapaziert den Leser bisweilen etwas mit persönlichen Wertungen. Das sonstige Bemühen um den verallgemeinernden Charakter der Erinnerung auch anderer wird durch zu offensichtliche Schlussfolgerungen zum Teil klischeehaft ins Private nivelliert. Für mich verliert der Roman etwas bei den Hotelboy-Erinnerungen und den Beuyschen Butterbergen und Honigmaschinen. Die verklärten, lügenhaften Filmschnulzen, weiß man alles schon, möchte man sagen oder im Sanatorium der Nordseeinsel, im Mythos, gefiel es mir besser.
Aber alle sollen ihr Fett abbekommen, eben auch die verlogenen Heimatfilme der Fünfziger, der Papa-Heuss-Empfang anlässlich des Firmenjubiläums eines Waschmittelherstellers. Diese Inszenierungen entsetzen, weil sie mit denen des Reichspropagandaministers wenige Jahre früher vergleichbar sind.
Weil das Damals der Diktatur des Faschismus nur verdrängt wird und in Amtspersonen, in den Strukturen des öffentlichen Lebens und in der heilen Welt einer Bilderbuchfamilie genauso verlogen bleibt wie das Frauenbild des Nationalsozialismus. Die neue Welt trägt zu viel vom Ballast der alten mit sich und ihr Blick zurück ist auf beiden Augen blind. Deshalb ist es die Aufgabe des Schriftstellers, das Nachkriegsjahrzehnt mit anderen Augen, mit den Augen von einer anderen Seite aus neu zu erzählen.
Während das Figurenkabinett des Sanatoriums selbst in langen Monologen erzählt, distanziert sich der ältere, zurückblickende Erzähler durch ein namenloses “Er” von seinem jüngeren Alter Ego. So wird auch “Er” Bestandteil der Kulisse. Der Leser wird jedoch in Versuchung geführt, den Autor selbst darin zu vermuten. Je dichter sich die immanenten Bewertungsfolien übereinander schieben, je mehr die Wertung des Autors selbst durchscheint, kommt mir die Er-Erzählposition nur wie eine graduelle Verschiebung des schriftstellerischen Blickes auf das eigene Ich vor. Eine künstlich geschaffene Authentizität, denn die Erzählweise und die mitgelieferte Bewertung des Erzählinhalts könnten ständig auch als subjektiv entlarvt werden. Nicht mehr als Meinung der Romanfigur, sondern als die des Autors selbst. In meiner eigenen Schreibweise ist mir schon öfter der pathetisch-pädagogische Zeigefinger aufgefallen, ohne ihn beabsichtigt zu haben. Schwer vermeidbar, eine Herausforderung. Die eigene Person mit einem “Er” anzusprechen, auch von Max Frisch noch als Stilmittel im Hinterkopf, bleibt eine artifiziell hergestellte. Das merkt man ihr beim Lesen an.
Doch dann sitzt der junge, lungenkranke Erzähler wieder im Café auf der Insel, diesem als Zwischenstadium empfundenen Platz. Auf der einen Seite die lärmende Welt draußen, auf der anderen der schwarze Stein hinter dem Horizont des Meeres, der jetzt schon lange tote Alte. Das Geplauder der Gäste vermischt sich mit der Stimme des Alten und alles im Bewusstsein des sich erinnernden Ichs.
“Das Wortdickicht, zornig geschrien, empört herausgestoßen, murmelnd vor sich hingesprochen, leise erzählt, verzweifelt wiederholt, immer wieder von vorne beginnend, entsprach in seinen unentwirrbaren Sätzen dem Dickicht des Parks, dessen vertrocknete Blätter im ewigen Wind wie Papier raschelte, als seien da emsige Schreiber am Werk, die all diese Sätze gewissenhaft notierten und mit dem verwehenden Laub dem Wind übergaben, zwischen den schwachen Bäumchen, deren Äste sich schon tief am Stamm in den Ästen anderer Bäume verfingen, in denen der Wind hell jubilierte und in tiefen Tönen jammerte. so verwuchsen die Worte mit dem Ort zu einem Käfig, überfielen den einsamen, klammerten sich an ihn, wurden zur Last der Erinnerung.”
Was für genaue Metaphern des schreibenden Bewusstseins, in das dem Erzähler immer wieder die unterschiedlichsten Erinnerungsbilder schießen. An eine gemeinsame Schulzeit mit einem Axel, der jetzt, nach dem Krieg straffällig geworden ist, den Sprung in das Wirtschaftswunder mit anderen Mitteln versuchte. Auch einer der Verlierer, der Ausgestoßenen. Wie ein Kaleidoskop sieht der junge Mann die Welt sich in der verschiebenden Scheibe eines Fensterrahmens spiegeln. Dann wieder Dialoge zwischen und mit Verstorbenen über das Leben, den Zustand der Welt.
“Überall nur Lug und Trug. – Und endet alles im Tod.”
Die erinnerte Welt wird zu einer Film- oder Theateraufführung mit falschen Tönen, wie z. B. auch die Schilderung einer verlogenen Séance bei einem Wunderheiler, ein Mittel des Großvaters, die Lungenerkrankung zu besiegen. Das ganze Leben erscheint nur aus dem “unerträglichen Nichts” zu bestehen, das auf das große Nichts, den Tod, hinausläuft. Bei Dieter Forte wird dieses Nichts eigentümlich gewendet, es findet in der Erinnerung einen Ort, wo man ihm positiv trotzig entgegen treten kann.
>>>> siehe auch Leseeindrücke I und Leseeindrücke II