Lose Gedanken 5

 
WA(H)RE SCHÖNHEIT

Ich wusste gar nicht wie schön auch ich also sein könnte, wenn ich diesem Video glauben darf. Gestern bekam ich seinen kurzen Brief. Ich finde er übertreibt. Soll ich mich etwa überhaupt nicht mehr schminken? Findet er doch auch wieder nicht gut. Er liebt meine inneren Werte oder so ähnlich. Was ist, wenn ich wirklich hässlich wäre oder blind oder mir ein Bein fehlen würde. Er klingt wie ein verzweifelt verliebter Junge, der sich über das beklagt, was ihn selbst anzieht. Wenn ich mich schminke, bin ich doch nicht gleich ein Abziehbild der Werbung, oder? Na gut, hier ist, was er mir geschrieben hat:

“Klar ist am Morgen der See, ein Spiegel meiner Gedanken. Tote Worte, tote Liebe, wer bin ich, mich in Sätze zu pressen, die alles bezweifeln, wo deine Blumen auf dem Tisch nicht einmal verwelkt sind. Die ewig schwarze Tintenspur der gleichen Fragen: Leben, Liebe, Schönheit, Tod. Wozu? Wie schön, in deinen Augen noch die Unbekümmertheit zu finden, die ich verloren habe. Auch meine Angst, sie dir zu nehmen. Schau nicht zu oft in meine Augen, hinter den Träumen steckt der schleichende Virus des Zweifels. Gestern war der Tag unserer Schönheitsdiskussion, und es ist wahr, auf die Dauer werde ich nicht schön genug für dich sein. Zum Teufel mit der Welt und ihrem Schönheitsmarkt. Sollen sie an ihren Makeup-Fassaden ersticken, soll ihre Eitelkeit ein Spiegel ihrer Dummheit sein. Wir Spielbälle der Zeit, des Konsums, der Lüge. Selbst auf dem Friedhof werden wir sie nicht los, die Schleifen und Kränze, unsere kostbaren Schönheitsutensilien, wir eitlen, schwarzen Heuchler. Ich baue dir ein Zimmer mit Boden, Decke und Wänden nur aus Spiegeln, und eine unendliche Straße nur aus Schaufensterglas. Auf dass du im ewigen Anblick deiner selbst versinkst und deiner Schönheit hoffentlich letztlich überdrüssig, dir deiner ganzen Nichtigkeit bewusst wirst. Denn wir sind überflüssig und hinterlassen keine Leere, der Zug fährt ohne uns weiter. Sinn und Ziel der Reise sind uns unbekannt, aber es scheint mir, als ob man beides am besten verfehlt, wenn man als aufgeplusterter Pfau vor der letzten Station unbedingt den Lidschatten erneuern muss. Ich liebe die Schönheit der Alten, ihre Runzeln und Falten, denn ihre Gesichter erzählen Geschichten und ihre Augen leuchten voll gebrochener Schönheit. Die Welt ist ein Markt voll prostituierter Haut und die Schönheit die ich meine, ist weder jung noch käuflich. Ich bin der Schönheit überdrüssig, es sind verschwendete Wörter. Du bist schön, aber ich liebe nicht nur deine Schönheit! Zu früh habe ich am eigenen Körper ihre Unwichtigkeit erkannt. Eigentlich ist es kein Neid, der aus mir spricht, obwohl ich zu einem bestimmten Teil auch aus Hässlichkeit, Krankheit, Tod und Zweifel bestehe. Aber gerade dieser Teil hilft mir dabei, meine Gedanken auf das Wesentliche zu richten und mehr zu erkennen als die Oberfläche.”