Dieter Forte: Auf d. anderen Seite der Welt IV
Leseeindrücke S. 171 – 265 der TB Ausgabe “Tetralogie der Erinnerung” Bd. 4.2010
Die Persildame vor dem Krieg in Wuppertal
Wie schon erwähnt prangert Dieter Forte mit der weißen Persildame ein Symbol der Werbung und Wirtschaft an, das dafür steht, alte Strukturen nach dem Krieg weiterzuführen und die Ikone einer reinen, im Grunde gewissenlosen Welt ohne Erinnerung zu sein. Auf S. 253 schreibt er eine wohl fiktive Rede des Bundeswirtschaftsministers Ludwig Erhard am Grab von Hugo Henkel, dem Erfinder des Waschmittels Persil, der 1952 starb.
“Wird es möglich sein, das Waschmittel der Vorkriegszeit, den berühmten Namen wieder auf den Markt zu bringen? … Wir haben es erlebt, als das bekannte und berühmte Waschmittel wieder in den Verkehr gelangte, dass im Volke das Vertrauen erwuchs, dass nun wieder Friede eingekehrt sei. Den Schild, den er aus Vaters Händen übernahm, er hat ihn blank und rein erhalten, er hat seinen Glanz vermehrt…”
Das ist natürlich Ironie, denn ob die Weste des entnazifizierten Henkel immer so “blank und rein” war, wird hier zumindest in Frage gestellt. So steht die Persildame als Symbol dafür, sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg von allen dunklen Flecken reinwaschen zu wollen oder sie am besten durch eine saubere Moral, wie künstlich auch immer, zu ersetzen.
Ich würde den Roman zum autobiographischen Schreiben zählen, der aber ähnlich wie bei Proust, die Erinnerung nicht ichbezogen funktionalisiert, sondern durch exemplarische Figuren und Charaktere ein Gesellschaftsbild entwirft. Das wird mit einer grundsätzlichen Zeitkritik verbunden, die zumindest bei mir während des Lesens auch immer eine vorausschauende Kritik unserer heutigen Gesellschaft und ihrer Ideale mit einbezog. Letztlich beklagt Forte mit der Erinnerungslosigkeit einer Gesellschaft aber auch das Vergessen des Lebens überhaupt, dem keine Idee und keine Religion standhält. Das ist der mythisch anmutende Aspekt des Romans.
Etwas seltsam ist mir im Nachhinein aufgefallen, dass Liebe und Sexualität, oft auch Hauptingredienzien von Romanen kaum eine wirkliche Rolle spielen. Im Sanatorium nur als heimliches Triebbedürfnis, wo die Geschlechter wie noch in den zwei Jahrzehnten nach dem Krieg selbstverständlich in Institutionen streng getrennt wurden. Das korrespondierte großartig mit den sauberen Moralvorstellungen.
Im Rückblick auf den gesamten Roman löst sich die anfängliche Sanatoriumsgeschichte mit den Lebensbeschreibungen der Mitpatienten immer mehr in disparate Erinnerungsstücke auf, die am Ende beinahe zu biblischen Gleichnissen werden. Der Erzähler beleuchtet exemplarisch wie ein schwankender Scheinwerferkegel Personen der Zeitgeschichte und persönlich erlebte Situationen. Auch sprachlich imitiert der Roman am Schluss durch kurze Absätze das langsame Versiegen jeder Erinnerung wie eine auslaufende Wasserwelle. Mit der verrinnenden Erinnerung löst sich Mensch und Buch auf. Ein letzter Absatz führt auf die Insel zurück, der junge Mann packt die Koffer. Ein angedeutetes Leben als Schriftsteller, dem die Welt immer ein wenig fremd bleiben wird, liegt vor ihm. Bis auch er Teil des schwarzen Steines weit hinter dem Horizont des Meeres werden wird. Bis auch sein letzter Atemzug wie der des alten Bettnachbarn nur noch Erinnerung anderer sein wird.
Er nahm den festen grauschwarzen Karton, in dem die Fieberkurve steckte, richtete sich auf, schrieb auf der Rückseite der Fieberkurve seine Worte, schrieb seine Worte durch die Nacht bis in den neuen Tag.
Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schweren ruhigen Atem, in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene, abbrechende Todesatmen eines Menschen den Tag erwartete, das Licht weit hinter dem Meer, das wie ein jahrtausendealter schwarzer Stein unter den Sternen schlief.
Das sprachlich präzise Modellieren der Erinnerung und damit autobiographisch Erlebtes auf einer anderen Ebene darstellen zu können, hat mich am meisten fasziniert. Im hohen Sprachniveau empfand ich letztlich doch mehr Sensibilität als Pathos, obwohl sich die Klage über die Vergänglichkeit der Welt und des Lebens bei manchem Leser auch abnutzen wird. Als Assoziation tauchte bei mir einmal Hermann Brochs “Tod des Vergil” auf, vermutlich wegen der dort auch gehobenen poetischen Kunstsprache. Ich bin etwas steinschwer gesättigt, sodass ich jetzt einen jugendlichen Stoff ganz anderer Art des jüngeren Schriftstellers Wolfgang Herrndorf kontrastiv folgen lassen werde.
Lieber Dietmar,
es hat ein wenig gedauert mit meinem Kommentar.
Einig sind wir uns wohl in jedem Fall, dass der Autor ein erhebliches Sprachgefühl hat, und ein sehr guter Stilist ist. Wir loben seinen hohen Stil. Andere Leser hingegen, die, die Murakami lesen, empfinden das als gekünstelt, als artifiziell oder einfach als schwer lesbar.
Ich hatte in meiner Auseinandersetzung mit dem Text gesagt, dass ich vieles, was hier angesprochen wird, nicht kenne und viele Namen, Zusammenhänge und Anspielungen nicht verstehe. Ich wusste nicht, dass eine reale Insel gemeint ist, ich kannte das Wort „Föhr“ nicht. Bei Ihnen sehe ich ein Bild davon. In meiner Phantasie, jenseits des sofort bewussten Teils, sah das Gebäude ganz anders aus. Es hatte eher ein rumänisches als dieses deutsche Dach. Es stand auch nicht so nah am Wasser und ich habe es auch nicht vom Wasser aus gesehen.
Ich empfinde den Roman nicht als fatalistisch. Obwohl, was man aus ihm lernen kann, in diese Richtung gehen könnte: man kann im Leben scheitern! Vielleicht muss man es sogar, wenn man das, was man möchte als Maßstab anlegt: man muss scheitern. Aber vielleicht ist das Scheitern, und deswegen empfinde ich diesen Roman auch nicht als fatal, als dem Fatum zugeneigt; vielleicht ist die Anerkennung dieses Scheiterns keine schlechte Lebenserfahrung. Vielleicht ist das Scheitern gut. Eine Demutserfahrung ist es ganz sicher. Eine Übung. Eine Aufgabe.
Ich empfinde das als ausgesprochen gekonnt, wie der Autor den eigentlichen Erzähler, den Ich-Erzähler, aus der Erzählung heraushält und ihn frei von, sagen wir: Ich-Erzähler typischer Unzuverlässigkeit, agieren und erinnern lässt.
Das Gefühl des Ausgeschlossen-Seins, auf das Sie hinweisen: das ist bei Forte gut dargestellt. Diese Einsamkeit vor den anderen. Das kennt man im Kleinen, wenn man alleine an seinem Tisch sitzt, in der Mensa beispielsweise, und am Nebentisch sitzt eine große Gruppe, die sich angeregt unterhält und lacht. Plötzlich ist man, weil man nicht lacht und alleine ist, ernst und einsam.
„Wir spielten beide Gitarre, Leberkranke einer anderen Generation, einer Generation der Träumer, die eine Welt aus Trümmern nicht mehr kannte, wohl aber die, die sich an nichts mehr erinnern wollte“: das ist ein sehr schöner poetischer Satz!
Sie sagen, dass Ihnen die Hotelboy-Geschichte nicht gefällt. Mir gefiel sie auch nicht. Ich nahm an, dass es deswegen so war, weil ich mit Hotels keine Erfahrung habe, weil ich die Zeit nicht kenne, das Land zu dieser Zeit: weil das auf Erfahrungen zugrückgreift, die bei mir keinen Klang erzeugen. Ich habe gerade ein Problem, das mich genau daran erinnert. Mein Lektor möchte, dass ich einige Kapitel aus dem Roman herausnehme. Ich möchte das nicht. Er argumentiert, dass sie nicht hineinpassen. Ich argumentiere, dass sie geschrieben sind, damit sie nicht passen. Das Unpassende, sage ich, ist das, was besser passt. Er findet es zu viel. Ich fände es ohne zu wenig. Wir sind anderer Meinung. Was sagen später die Leser? Was sagen die Kritiker? Was sagt ein Literaturwissenschaftler? Aus welchen Grund wird der Verriss stattfinden: weil wir es drin behalten oder weil wir es herausnehmen? Weil zu viel oder zu wenig drin ist? Da kann man nicht entscheiden. Und doch muss es entschieden werden. Ich fühle mich nicht gut dabei, weder bei der einen noch bei der anderen Variante. Ganz sicher kennt jeder Autor und jede Autorin ähnliche Erfahrungen; und auch Dieter Forte wird sich bei dieser oder bei anderen Episoden mehrfach überlegt haben, was in diesen Text hinein und was nicht hineingehört. Und ganz sicher hat auch sein Lektor überlegt.
Aléa
Liebe Aléa,
ich freue mich sehr über Ihren Kommentar, soll es doch „gedauert“ haben, so lange es will. Was Sie über das Krankenhausgebäude geschrieben haben, bei Ihnen hätte es ein rumänisches Dach, leuchtet mir ein, jeder Leser kann ja das Gelesene nur in seine eigene Bildsprache übersetzen. Ich würde mir nie ein rumänisches Krankenhausdach vorstellen können, weil ich schlicht noch nie eins bewusst gesehen habe, unbewusst vermutlich auch nicht, dafür andere umso mehr und davon auch nicht nur die Dächer. Mit dem alten Foto von der Insel Föhr wollte ich vermutlich nur angeben, und dass es sich um Föhr handeln soll, habe ich mir auch nur angelesen.
Sie schreiben vom Scheitern, es wird Ihnen bei Ihrer Entspannung nicht viel helfen, aber Sie werden nicht scheitern, dafür schreiben Sie zu gut. Außerdem sind ja schon zwei!! Exemplare Ihrer Romane verkauft, vor dem Erscheinen! Auch wenn ich kein Werbetexter bin, die dazu gehörige Trommel werde ich später ordentlich mit meinen bescheidenen Mitteln rühren. Nun wollen wir uns aber mal nicht gegenseitig öffentlich loben, Dass der obige Satz Ihnen gefallen hat, beweist, dass man gut schreibt, wenn man etwas von sich selbst preisgibt. Dann findet man spontan die richtigen Worte.
Ich muss immer an Ihre geplanten Entspannungsübungen denken. Ich bin heute ca. 15 Kilometer Rad gefahren und habe danach noch ruhig im üppigen Garten gesessen. Ich lese im Moment zu wenig. „Das Spinnennetz“ von Joseph Roth wollte ich anfangen, komme aber über die ersten Seiten nicht hinweg. Mit dem Thomas Pynchon haben sie sich aber wieder ein ordentliches Pfund auf den Schoß geladen, der Sommer dürfte mit den 1500 Seiten schnell vorbeigehen.
Ich habe gerade beschlossen, mich noch etwas länger mit Dieter Forte zu beschäftigen. „Das Muster“, „Tagundnachtgleiche“ und „In der Erinnerung“ stehen ja noch ungelesen im Regal. Aber da steht oder liegt auch noch so viel Anderes. Zwei Materialbände, die sich mit dem Schreiben von Forte beschäftigen, besorge ich mir noch: „Holger Hof, Vom Verdichten der Welt “ und „Jürgen Hosemann, Es ist schon ein eigenartiges Schreiben“.
Draußen dunkelt es, unsere Einkommenssteuererklärung hat Schweißtropfen auf meiner Stirn hinterlassen und ich denke an Ulrich, der immer noch unter Ihrem Balkon steht und auf die fallende Blumenvase wartet. Verleger, Lektor, die wollen doch nur ein Produkt. Sie schreiben ein Buch und egal was die Produzenten da drin haben wollen oder auch nicht, selbst ein Rest von dem was Sie schreiben wird reichen. Ich muss Sie doch nicht von Ihrer Fähigkeit zu schreiben überzeugen.
Ich wünsche Ihnen einen erholsamen Heimaturlaub und falls er noch leben sollte, streicheln Sie „kleiner Onkel“, und falls nicht, streicheln sie ihn trotzdem in Gedanken. Viel Erfolg beim Yoga!
Namasté,
Dietmar
Lieber Dietmar,
das rumänische Dach: es ist, wie das deutsche Dach auch: ziemlich weit oben an den Häusern angebracht. Es wird einen Dachstuhl haben und Dachpfannen und eine Abdeckung dazwischen oder eine Isolierung. Ich kenne mich nicht so genau aus. Noch weniger kenne ich mich den Dächern von Krankenhäusern aus, die sind in der Regel höher angebracht und wahrscheinlich flach. Ich habe auch keine ausgeprägten Dachphantasien. Ich hatte nur irgendetwas anderes vor Augen.
Der Urlaub ist ja noch ein paar Tage hin. Das Tier, das Pferd, das gar nicht mein Pferd war, sondern das von meinem Opa, das ist zum Italiener gegangen, zum Abdecker, wie man in Deutschland sagt. Aber ich streichele ihn trotzdem. Und er kommt natürlich auch in meinem nächsten Roman vor.
Ich muss verschiedene Yoga – ja was? Sorten oder was? – ausprobieren. Ich finde das aber alles andere als entspannend. Ich weiß gar nicht wie ich das finde. Anstrengend.
Aléa