Roberto Bolaños “Amuleto”. Der Wind, die Stille und fehlende Zähne (Capítulo 3)
Was passiert: Auxilio sitzt mit angezogenen Beinen auf der Toilette und ein Soldat betritt den Raum. Ein Augenblick der angespannten Stille, vielleicht der Entscheidung zwischen Leben und Tod. Bolaño schafft es, diese existentielle Bedrohung zu beschreiben, indem er die Stellung, in der Auxilio verharrt, mit der Position einer Gebärenden vergleicht. Nach diesem Augenblick ist man entweder tot oder eine andere. Die Gefahr löst sich auf, der Soldat geht. Auf S. 32 oben gefällt mir übrigens die Übersetzung nicht. Vielleicht handelt es sich aber auch nur um die Unterlassungssünden des Korrekturlesens:
„, unser beider Gestalten, eingefangen im einem schwarzen Parallelogramm, versunken im Spiegel eines Sees.“
Im Original heißt es:
„nuestras dos figuras | empotrados en un rombo | o sumergidas en un lago.“
Grammatikalisch müsste es „in einem“ heißen und der Satzfluss wird im Deutschen durch zwei Kommata unterbrochen. Mich stört es. Im Spanischen Poesie, im Deutschen Prosa.
Das Wort Spiegel (espejo) wird schon vorher erwähnt, der See kommt auf Spanisch ohne Spiegel aus, Kommata gibt es nicht und eigentlich ist ein Rhombus mathematisch kein Parallelogramm. Also besser:
[, unser beider Gestalten gefangen in einem Rhombus oder versunken in einem See,].
Zurück zum Text:
„Ich sah wie der Wind um die Universität fächelte, als genieße er das letzte Tageslicht.“
Der Wind ist eine häufig gebrauchte Metapher Bolaños, die für das Ungreifbare einer Situation oder eines Augenblicks steht. Diese poetischen Sätze geben seinen Geschichten das Schwebende und die Schönheit, wie die fliegende Plastiktüte in „American Beauty“ (Std. 1:00 ff):
„Wenn man so was sieht, dann ist es, als ob Gott dich direkt ansieht. Nur für ´ne Sekunde und wenn man aufpasst, kann man den Blick erwidern.“
„Und was sieht man dann?“
„Schönheit!“ (American Beauty, Min. 57:20)
Diesmal werden griechische Dichter genannt. Sappho und der Nobelpreisträger Giorgios Seferis. Bolaño ist sich der Herkunft seiner poetischen Metaphern (Wind und Mond) bewusst.
Im Gegensatz zur Zeit, die in dem Augenblick, wo der Soldat den Toilettenraum betritt „in Stücke zerbrach“ (S. 31) ist der Gedanke eines Dichters wie ein langgezogenes Band aus Zeit, das sich zur sprachlichen Idee eines Augenblicks wieder zusammenzieht und damit die Geschichte (auch die politische) zu neuem Sinn zusammenfügt , „die Zeit faltete und entfaltete sich wie im Traum“ (S. 33).
„Ich begann sozusagen über meine Vergangenheit nachzudenken, als dächte ich nach über meine Gegenwart, meine Zukunft und meine Vergangenheit, alles eingehüllt und eingelullt in ein lauwarmes Ei, in dem was weiß ich für ein gigantischer Vogel, vielleicht ein Arch[a]eopteryx[1], in einem Nest aus rauchenden Trümmern nistete.“ (S. 34)
Dichter sind gleichzeitig hilflose und mächtige Vögel, die ihre Werke wie Eier legen. Der „Altar, auf dem Menschen geopfert wurden“ ist der Platz von Tlatelolco, wo ca. 250 Studenten durch das Militär den Tod fanden. Die fehlenden Zähne dagegen sind ein individueller Verlust, aber wie die Studenten unwiederbringlich verloren. Allerdings stellte ich mir beim Lesen die ganze Zeit die Frage, ob Bolaño hier nicht von der eigenen, autobiographischen Erfahrung spricht.
[1] Im spanischen Original (¿un arqueopterix?). Wohl ein Übersetzungsrechtschreibfehler?