“Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht”

Mehrdad_Zaeri
                                               aus: Carlo und Cleopatra. Erste Begegnung. Text: Victoria mit  Zeichnungen v. Mehrdad Zaeri.

“In der Wohnung unterm Dach nippte das zarte Mädchen an einer Tasse Tee. Sie hatte ein Handtuch um ihr feuchtes Haar geschlagen und gefiel Carlo heute besonders gut.”


Den Himmel dominierte eine dichte graue Bewölkung, unter der die Temperatur mit um die 15° mehr als mäßig für diese Jahreszeit war. Diese Kühle korrespondierte mit einem lang anhaltenden starken Regen. Die relative Luftfeuchtigkeit lag dementsprechend mit 67 Prozent ziemlich hoch. Ein feuchtes, nebliges Wetter, das besser zu London als zu Berlin gepasst hätte. Mit anderen Worten: Es war ein untypischer Sommertag Ende Juli des Jahres 2011.

Wie ein schwarzer Vogel stand Ulrich unter dem Fenster in der Kopenhagener Straße. Im noch nächtlichen frühen Morgen in Berlin stehen und darauf warten, dass eine Blumenvase nicht vom Himmel fällt, eine lächerliche Vorstellung. Das Fallen, “La chute”, war ein Bild des Scheiterns, der Niederlage, ein Taumeln vor dem Ende. Hatte der Meister nicht auch von einem schwarzen Vogel erzählt? Unsinn, ich bin keine Amsel und kann auch nicht fliegen, scheitern sollen andere, dachte Ulrich. Blind muss man sein um wirklich sehen zu können, wie der blinde Bibliothekar in Buenos Aires. “Take these sunken eyes and learn to see, you were only waiting for this moment to be free.”

Die schwarze Nacht hatte seinen Schatten bis in die Morgenstunden unter einem Laternenpfahl begraben. Sollte er jetzt da es dämmerte hinaufgehen, wozu? Ein Gespräch über “Film Noir” oder “Blackbird” wäre doch ein Anfang. Er wusste nicht genau, was ihn an der jungen Frau oben faszinierte. Sein Frauenbild entsprach mehr dem Aristokratischen. Wohnte dort oben überhaupt die  Studentin oder Doktorandin, die er aus der Bibliothek und dem Zugabteil kannte? Das Verbindende war doch nur, dass sie schreiben konnte, beinahe so einfallsreich schreiben wie sein eigener Schöpfer. Er würde am frühen Morgen hinaufgehen, nein, sich hinaufversetzen und sie bitten, mit ihm in ein Café frühstücken zu gehen. Zu aufdringlich, dachte er, vielleicht würde sie ihm mit noch nassen Haaren und einem zum Turban gebundenen Handtuch öffnen, das wäre ein wenig peinlich. Vielleicht ein Anruf, der seinen Besuch avisieren würde, damit sie sich nicht so überrumpelt vorkommen musste, aber ihre Telefonnummer kannte er nicht.

Mittlerweile war es 9:30 Uhr geworden und da es ein wenig zu nieseln begonnen hatte, beschloss er die Kopenhagener Straße in Richtung des S- und U-Bahnhofs Schönhauser Allee zurückzugehen. Die Straße gliederte sich in einen langen Bereich mit Wohnblocks, einige restauriert, zum Beispiel mit im Jugendstil verschnörkelten Hauseingängen und modernen Balkonen an den mit Kletterpflanzen  und Efeu bewachsenen Hauswänden, andere zeugten von dem eher heruntergekommenen Charme eines Studentenmilieus mit den üblichen Hieroglyphen aus Spraydosen. Im vorderen Teil, den er nun langsam erreichte, häuften sich kleine Läden und Geschäfte, ein Blumenladen und sogar ein kleines Studio, das Yogaübungen und Massage anbot. Nichts deutete von dieser Seite auf den großen Abgrund hin, der sich hinter der Häuserzeile verbarg, wo in einem breiten Schlund oder Graben Bahngleise aus der Stadt hinausführten. Auf der linken Straßenseite entdeckte er an einer großen Glastür ein halbmondförmiges Gebilde mit dem seltsamen Schriftzug “Djabana” darüber, was sich als der Eingang zu einem kleinen Café herausstellte. Später schlug er nach, dass dieses Wort im Sudan schlicht Kaffee bedeutete und dachte kurz an die aktuelle Hungersnot in Ostafrika, von der er gelesen hatte. “Coffee and more”, wer wusste besser, was sich hinter dem letzten Wort verbergen konnte. Möglichkeiten, was sonst. Er ging etwas zögernd hinein und bestellte einen Latte Macchiato bei dem jungen, hochgewachsenen Sudanesen hinter dem Tresen. Eine Wiener Mélange konnte er in einem sudanesischen Café in Berlin nun wirklich nicht erwarten, sie würde auch nie so schmecken wie in Wien. Vielleicht ist alles nur eine Frage des Ortes, genius loci oder so ähnlich, dachte er.

Er fühlte sich wie ein Fossil oder wie ein kleiner flaumiger Vogel, der aus dem Nest in eine fremde Welt gefallen war. Selbst die Bedienung des neu erworbenen Handys war schwierig gewesen, noch schwieriger die Vorstellung, dass man beinahe jeden Menschen auf der Welt von jedem Standort aus sprachlich erreichen konnte, sofern man seine Handynummer besaß. Zu seiner Zeit waren Telefonapparate eher eine von den Damen zur Befriedigung ihrer Kommunikationsgelüste benutzte Apparatur gewesen. Wichtiges erledigte man schriftlich. Wen suchte er hier eigentlich, Agathe oder Aléa? Beide Namen fingen schließlich mit “A” an, der Laut des Anfangs.

Während er sich den Kaffee mit einem Schokoladenkuchen versüßte und durch die großen Scheiben blickte, in denen sich die Bäume und die Fahrzeuge am Straßenrand spiegelten, träumte er von einem Gespräch. Wenn es regnete säßen sie beide in zwei breiten Sesseln im Café und falls die Straße im Licht der Sonne lag an einem der kleinen blauen Tische unter dem beigen Segeltuch eines Sonnenschirms. Aber das roch nach Idylle wie dem “Café de Paris” aus einer Novelle von Alfred de Musset. Richtig gemütlich war die Atmosphäre nicht, dafür aber ruhig und lud zu einem Gespräch ein.

“Sie sind ein Stalker, Sie verfolgen mich. Ich werde den Roman, aus dem Sie entsprungen sind, zurückbringen und ihn in der Bibliothek absichtlich verstellen. Man wird Sie bis ins Jahr 2111 nicht wiederfinden,” würde Aléa vorwurfsvoll sagen.
”Was bedeutet denn “Stalker” nun schon wieder, der Begriff ist mir gar nicht geläufig,” verteidigte sich Ulrich.
”Ein Psychopath,  der sein ganzes Denken auf eine Person richtet und ihr manisch folgt,” klärte Aléa ihn auf.
”Ich verfolge Sie nicht, Sie ziehen mich magisch an, beschuldigen Sie den Magnetismus,” erwiderte Ulrich.

Auf der Straße lief ein buntes Getümmel von Menschen unterschiedlichster Hautfarbe, Physiognomie und Körperbau vorbei. Ihre Individualität löste in Ulrich ein seltsames Gefühl aus. Anteilnahme empfand er für jedes Gesicht, für dicke und dünnste Körper, die ihm doch fremd waren und sich auf dem Bürgersteig vorbeischoben. Die Vielfältigkeit war unbegreiflich, wie ein Mysterienbild des Lebens, das sich auf den Scheiben des Café Djabana ohne Hinzutun abbildete. Auf einer der Wände dagegen schlängelten sich die unterschiedlichsten Blumen in einem violetten Gewirr. Man sah eine Orchidee, eine rosa-weiß geränderte Nelke, eine Mohnpflanze und ihr gegenüber blaue und dunkelviolette Blüten einer Distelart die sich alle zusammen wie psychedelische Schlingpflanzen benahmen. Dennoch ein Blickfang, der mit den Brauntönen des Interieurs harmonierte.

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“Ich liebe meine Schwester Agathe, vielleicht ähneln Sie ihr in Ihrem inneren Wesen,” sagte Ulrich etwas schwermütig und fragte Sie dann abrupt: “Glauben sie an die Liebe, Aléa?”
”Mit der Liebe ist das so eine Sache, die Liebe ist ja keine religiöse Erfindung. Aber ich weiß, dass ich ohne sie nicht leben möchte. Ich weiß, dass ich sie will. Mit den Worten einer französischen Sängerin gesprochen, die Sie sicher nicht kennen, würde ich sagen: – Je veux l´amour, la joie, de la bonne humeur – , mehr gibt es dazu nicht zu sagen.”
Das Fremdheitsgefühl zwischen ihnen ließ sich nicht so leicht abschütteln.
”Ich scheine mich ständig in einer Art anderem Zustand zu befinden, als säße ich als
Engel über der Stadt auf der Spitze des Fernsehturmes oder einer Kirche.”
”Wie sähe dieser “andere Zustand” denn aus?” fragte Aléa.

Wir werden alle Selbstsucht von uns abtun, wir werden weder Güter, noch Erkenntnisse, noch Geliebte, noch Freunde, noch Grundsätze, noch uns selbst sammeln: demnach wird sich unser Sinn öffnen, auflösen gegen Mensch und Tier und so in einer Weise erschließen, daß wir gar nicht mehr wir bleiben können und uns nur in alle Welt verflochten aufrecht erhalten werden!

“Ich weiß, das klingt wie ein Nirwana zwischen Fiktion und Realität und scheint an keinem anderen Ort sich verwirklichen zu können als im Traum oder im Himmel. Glauben Sie an Orte? Meinen Sie man könnte Marcel Proust in Illiers wiederfinden oder James Joyce in Dublin?”
”Nun literarisieren Sie doch nicht ständig alles, das wirkt auf die Dauer einschläfernd, als würden Sie die Welt in Watte packen wollen,” entgegnete Aléa. “Man kann alles finden, wenn man danach sucht!”
”Ja, ich weiß, gerade Schriftsteller sind Grenzgänger, Spione zwischen den Welten,” sagte Ulrich.

Mehrere kleine Schmetterlinge bevölkerten die eine Ecke des kleinen Cafés, in dem nur drei farbige Sudanesen Platz genommen hatten und irgendwie gab es da eine farbliche Kongruenz zwischen den Faltern an der Wand und den drei auf ihren Stühlen. Der eine von ihnen hatte sich an ein Laptop gesetzt und surfte anscheinend im Internet, während ein anderer hinausging, um auf der Bank draußen eine Zigarette zu rauchen.

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“Es war ganz nett mit Ihnen zu plaudern, aber ich muss zur Uni, meine Dissertation schreibt sich nicht von allein und Romane auch nicht, wie Sie wissen. Ich werde mir noch ein Bagel mit Parmesan und Rucola mit auf den Weg nehmen,” platzte Aléa ziemlich plötzlich heraus und stand auf.

Die Höflichkeit veranlasste sie, sich mit einem kurzen Händedruck zu verabschieden und nur in diesem Moment hatte die Zeit beschlossen, ihre Uhren anzuhalten und Ulrich erwachte aus seinen Träumereien. Hinter dem Schleier seiner Augen verschwand Aléa wie eine Fata Morgana genauso schnell wie sie gekommen war. Ihre Silhouette verlor sich unwiderruflich wie die einer Passantin in der Menge.

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(Literarische Begegnungen der dritten Art. 9)