Roberto Bolaños “Amuleto”. Abgründige Elegie (Capítolo 14, das letzte)

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                                      A. Paul Weber: “Deutsches Verhängnis” 1931/32

Nachdem Auxilio von den Bergen Zarathustras herabgestiegen ist, ohne verrückt zu werden, und sich nicht in das „Bettelweib von Locarno“ verwandelt hat, denkt sie wieder an Arturito Belano (die Figur des jugendlichen Bolaño selbst) und daran, dass er Ulises Lima (Mario Santiago Papasquiaro) kennenlernte. Ein junger Dichter, der auch in “Die wilden Detektive” auftaucht. Ironisch erzählt Auxilio davon, dass dieser dichtende Arturito sich für Dante, ja selbst Vergil hielt. Auffällig ist hier der Bezug zu „Die wilden Detektive“, weil sowohl seine Freundin Laura Jáuregui (2x), als auch Felipe Müller (1x) als Protagonisten der Zeugenberichte dort auftauchen. Aber Auxilio entspringt ja selbst dieser Quelle, ein Kapitel dort ist quasi eine Kurzfassung von Amuleto. Das häufige Verwenden der gleichen Figuren in den Romanen und Erzählungen Bolaños nährt einmal mehr die Vorstellung, sein Gesamtwerk wäre wie ein einziges Buch zu betrachten.  Der ironische Abstand Bolaños zu seiner eigenen Vergangenheit sticht ebenfalls hervor. Das Spiel mit der zeitlichen Ungenauigkeit des Toilettenaufenthaltes Auxilios, drei Wochen, dreizehn Tage, zehn Tage, erinnert mich an das von Bolaño zitierte Gedicht Nicanor Parras über die vier großen Dichter Chiles:

Die vier großen Dichter Chiles
Sind drei:
Alonso de Ercílla und Rubén Dario

Wie heißt die kürzeste Formel für eine Toilette, auf der Rilke und Kafka gleichzeitig sitzen? „Duineser Schloß (S. 153).“ Nur ein Einfall, das Schloß Duino gibt es ja wirklich. Auxilio sehnt sich nach einem Leben voll schöner Dinge und Liebe, das sie mit dem der Schriftstellerin Juana de Ibarbourou vergleicht. Dann aber fließen nicht nur Freudentränen, sondern auch traurige und mit Proust wird die „verlorene Zeit“ beweint. Sie ist die Erinnerung, auf Toilettenpapier geschrieben, das sie vernichtet und den Tod als Strafe dafür erwartet. Aber sie wird schließlich von einer Sekretärin entdeckt, das Militär ist abgezogen. Ihre Geschichte wird zur Legende, was bleibt ist ihre Liebe zu den jungen, dichtenden Grünschnäbeln, denn „meine Liebe gehört ihnen allen.“ Dann imaginiert sie sich wieder in diese danteske, an Nietzsche oder Juan RulfosPedro Paramo“ erinnernde Szenerie des Gebirges und des gewaltigen, letzten Tal des Todes. Ein Spatz und ein Quetzal, vielleicht Metaphern für einen unbekannt dichtenden Niemand und den farbenprächtigen Dichtergott, sitzen gemeinsam auf demselben Ast. Natürlich kann man sich auch Sinnbilder von Gut und Böse vorstellen und philosophieren, aber das überlasse ich anderen. Dann aber öffnet sich ein gähnender Abgrund á la Edgar Allan Poe, in den alle jungen Dichter Lateinamerikas fallen wie die Lemminge. Mit diesem Fallen in den Abgrund assoziiere ich die Zeichnung „Deutsches Verhängnis“ von A. Paul Weber. In einer Art janusköpfigen Spiegel sieht Auxilio sich selbst und auf der anderen Seite (Alfred Kubin: „Die andere Seite“) alle namenlosen, tapferen, jungen Dichter Lateinamerikas. Mit ihrer Lyrik singen sie gemeinsam ein Lied, diese Kinder ziehen in den Krieg. Kein politischer Krieg, ein Krieg gegen den Tod, das Vergessen und das Nichts, den sie zwangsläufig verlieren müssen. Aber „das Echo des Nichts“, dieses Lied, das auch von der Liebe singt, bleibt als Zeichen ihrer und auch Auxilios Erinnerung wie ein Amulett zurück, also das, was wir mit diesem Buch in unseren Händen halten.

In gleißendem Licht“ habe ich „Amuleto“ nun zu Ende gelesen. In der Frühlingssonne, im Krankenhauspark, in einem dort aufgestellten Strandkorb. Pathetisch solle der Schluss sein, nicht mehr so gut wie der Anfang, las ich kürzlich in einer Kritik, nur noch mäandernd. Nichts von alledem. Mir wurde wässrig zumute, weit hinter meinen Augen. Nicht weil vom Tod und vom Nichts die Rede war, nein, weil Bolaño so anrührend ergreifend von der Sinnlosigkeit erzählt, dabei aufrichtig bleibt und durch das Erzählen der Sinnlosigkeit gleichzeitig widerspricht. Klingt banal, so wie die Aussage, dass das Tal des Todes auf uns alle wartet. Auxilio mag sich zur „Mutter der mexikanischen Poesie“ berufen fühlen, Bolaño aber singt kein lateinamerikanisches Lied mehr. Er singt ein neues, ganze Kontinente umspannendes Lied, auch wenn er nur von Ereignissen und Schicksalen in Mexiko berichtet. Er selbst war längst ein Kosmopolit geworden, der das menschlich Verbindende selbst in der grausamsten Gewalt suchte.

Heute sehe ich, dass neben der noch erhältlichen Ausgabe des Kunstmann Verlages von 2002 eine neue Ausgabe des Fischer Verlages im November diesen Jahres erscheinen wird. Recht preiswert in der gleichen Ausstattung wie schon “Stern in der Ferne”.