Auf dem Spielbrett des alltäglichen Bösen I
Äußerlich ist dem Hanser Verlag wieder ein solides Exemplar der Buchgestaltung gelungen. Weiße und lindgrüne Farbtöne dominieren die Buchdeckel, aufgelockert durch ein wenig Orangerot, mit dem der Verlagsnamen auf dem Buchrücken und das Wort “Roman” aufwarten. Sogar ein orangener Lesefaden wurde dem dreihundertfünfzehn Seiten Text spendiert, der bei dieser Buchdicke nützlich ist und mich an das orangerote Cover von “2666” erinnert. Ein Band also, den man gern in die Hand nimmt und darüber hinwegstreicht.
Mit “Das Dritte Reich” ist nun der 1989 abgeschlossene Romanerstling Bolaños auf Deutsch erschienen, auf einer Zeitleiste das Gegenstück zu “2666”, beide erst posthum aus dem Nachlass. Dass “2666” veröffentlicht werden sollte, ist unbestritten bis auf die Erscheinungsweise. Bei diesem Frühwerk aber gab es für Bolaño wohl Gründe, es zu Lebzeiten in der Schublade zu belassen. Auffällig ist der Schauplatz eines spanischen Urlaubsortes in der Nähe von Barcelona, der mit dem tatsächlichen Wohnort Blanes von Bolaño ziemliche Ähnlichkeit haben dürfte. Das Jahr der drei Spätsommermonate August, September und Oktober, die in dem Tagebuch des deutschen Urlaubers Udo Berger festgehalten werden, ließe sich genau bestimmen, wenn Bolaño nicht auch reale Ereignisse wie ein Fußballländerspiel zwischen der DDR und Spanien Ende August im Datum und im Ergebnis ungenau verfremden würde. Tatsächlich gab es 1980 zwei Länderspiele, aber nicht mit einem 2:0-Sieg für Spanien. Die Männer frönen wie selbstverständlich dem als maskulin betrachteten Fußballspiel. Überhaupt wird man den Eindruck nicht los, es bei den männlichen Protagonisten mit ziemlichen Machos zu tun zu haben, während die jungen Frauen sich kaum gegen diese männliche Repression zu wehren wissen. Sie bleiben eher blass, lesen Kriminalromane oder werden Opfer mutmaßlicher Vergewaltigungen.
Es sind acht Hauptpersonen, die in Beziehung zueinander treten: die beiden deutschen Paare Udo und Ingeborg, die sich mit Charly und Hanna anfreunden, alle Mitte Zwanzig, die Spanier El Lobo (der Wolf) und El Cordero (das Lamm), der “Verbrannte” (El Quemado) und die Hotelbesitzerin Frau Else. Der Umgang des Übersetzers mit den drei einheimischen Namen, die mit “El” beginnen halte ich für problematisch und ist uneinheitlich. Entweder ich hätte alle drei eingedeutscht oder alle drei als so Genannte belassen. Der übersetzte “Verbrannte” wird sprachlich von den beiden anderen Figuren separiert, was im spanischen Original so nicht angelegt ist. Der Erzähler in Tagebuchform ist Udo Berger, der schon in seiner Jugend als Kind mit seinen Eltern Urlaube in dem Familienhotel verbrachte und jetzt ein leidenschaftlicher Kriegsspiel-Fan geworden ist. Der Büroangestellte schreibt sogar mehr oder weniger beachtete umfangreiche Artikel über neue Spielvarianten und Strategien. In das bezogene Zimmer im “Hotel del Mar” lässt er einen größeren Tisch bringen, damit er auch im Urlaub seine Obsession, das Brett- und Würfelspiel “Aufstieg und Fall des Dritten Reiches”, ständig ausleben kann. Darin kämpfen zwei Spieler in den Rollen der Achsenmächte und der Alliierten gegeneinander, auch mit der Möglichkeit eines Endsieges des Faschismus im Zweiten Weltkrieg. Das die Achse Rom-Berlin-Tokio dabei den Vornamen Bolaños enthält, ist sicher ein makabrer Zufall, aber auch der Protagonist beginnt später ein Spiel gegen den “Verbrannten” in dieser Rolle. Von Anfang an lastet über der Urlaubsatmosphäre etwas Bedrohliches, das mit dem Blues-Gefühl des Tagebuchschreibers korrespondiert. Die beiden Paare sind locker liiert, Frauen wie Männer wirken auf Gefühlsebene nicht sonderlich tief verbunden, man vergnügt sich miteinander und solange das, auch im Bett klappt, stellt man keine unpassenden Fragen. Etwas Bedrohliches schleicht sich durch die Bekanntschaft mit den zwei zwielichtigen Spaniern ein, vermutlich Touristennepper oder Schmarotzer und als Udo sich immer mehr mit einem durch Verbrennungen entstellten Tretbootverleiher anfreundet. Ganz aus dem Ruder läuft der Urlaub, als Charly im Streit Hanna schlägt. Etwas später dann verschwindet Charly spurlos bei einem einsamen Surfausflug. Unfall, Selbstmord, die Spekulationen sprießen vor sich hin und Hanna macht nun auch Andeutungen, vergewaltigt worden zu sein. Der Einbruch der Gewalt in seiner Alltäglichkeit, als wäre sie unabdingbares Bestandteil jeglicher menschlichen Beziehung, Machtverhältnis im Privaten, wie auch in der großen politischen Geschichte des Kriegsbrettspiels, erinnert mich an die Szene mit dem Taxifahrer im ersten Teil von “2666”, der von den Kritikern verprügelt wird und auf die spätere Gewalt der Morde in Ciudad Juarez vorausweist. Beide Frauen reisen nach diesen Vorkommnissen nach Deutschland zurück und lassen Udo Berger allein zurück, der später Charlys Leiche identifizieren muss. Immer mehr zählt für Berger nur noch das “Kriegsspiel” im doppelten Sinne, das er mit dem Verbrannten beginnt. Er befindet sich in einer Art freien Fall, ein Niedergang (Rise and Decline) wie im Spiel.
Ende 1977 zog Bolaño von Mexiko nach Spanien und hielt sich dort zunächst mit kleineren Jobs wie z.B. Campingplatzwächter finanziell über Wasser. Die feinen Beobachtungen deutscher Urlauber und seine damalige, eigene Leidenschaft für Kriegsspiele dürften also ziemlich in den Roman eingeflossen sein und so auch die bei ihm selbst vorhandene Sport- bzw. Fußballfaszination. Die Deckungsgleichheit des Gemütszustandes der Hauptfigur Udo Berger, von der Nationalität einmal abgesehen, mit der des Autors selbst zur damaligen Zeit darf man vermuten. Die Deutschland- und Weltkriegsaffinität findet sich ebenfalls in anderen Werken Bolaños wieder, so im fünften Schlußkapitel von “2666”, das die Identität des späteren Schriftstellers Benno von Archimboldi mit dem deutschen Soldaten Hans Reiter erklärt. Aber auch der Erlebnisbericht von Mary Watson im achten Kapitel von “Die wilden Detektive” hat sehr starke Ähnlichkeit. Mai 1978, latente Gewalt unter Spanienurlaubern südlich von Barcelona und einen Deutschen mit Namen Hans. Die Figur des Nachtwächters auf S. 306 – 324 in diesem späteren Roman weist in seiner Bedrohlichkeit auf den namenlosen “Verbrannten” in diesem Frühwerk hin. Der spätere Roman endet auch mit Tagebucheinträgen.
Heute ist der 13. September 2011 und ich habe mich im Roman also jetzt sozusagen auf die gleiche Zeithöhe gelesen, denn auch dort ist es nun nach etwa 220 Seiten des Buches Mitte September 1980, vermutlich also vor 31 Jahren. Das Buch beginnt mit dem 20. August, ich bekam es etwas später und las die ersten Seiten mit ziemlicher Enttäuschung. Das Niveau seiner beiden großen Romane oder der späteren Erzählungen hat Bolaño eben verständlicherweise noch nicht erreicht. Mein Lesegenuss aber wurde doch merklich gesteigert, wenn ich die zu hohen Erwartungen etwas dämpfte. Auch hier findet man das schlicht geniale Aufblitzen des Bolaño-Sounds schon an vielen Stellen. Es ist faszinierend, wie alles “in nuce” bereits angedeutet wird. Selbst das “Namedropping” von tatsächlichen exakten deutschen Buchtiteln “vaterländischer Dichtung” der zwanziger Jahre von Karl Bröger, Heinrich Lersch, Gerrit Engelke und sogar Ernst Jünger taucht auf, um den Dunstkreis der Fans dieser “Wargames” zu kennzeichnen. Darüberhinaus will der Protagonist Udo natürlich Schriftsteller werden. Gelegentliche dunkle Naturmetaphern fehlen sprachlich auch nicht, wie gesagt, alles scheint “en miniature” bereits vorhanden. Der Grund, warum Bolaño das Werk möglicherweise nicht veröffentlichte scheint mir eine zu große autobiographische Deckungsgleichheit mit seiner eigenen Biographie zu sein und ein nicht erreichtes Sprachniveau, Unebenheiten wie zu lange Dialoge, eine Verflachung ins Kriminalistische. Es wird ihm nicht genügt haben, aber als Nachlektüre, um zu begreifen, aus welchem Stadium er sich zu späteren Meisterwerken erhob, ist auch dieser Roman aufschlussreich und spannend. Außerdem verortet Bolaño das Böse schon in diesem Frühwerk im Alltäglichen, in die unscheinbare Idylle eines Spanienurlaubs von Deutschen, so wie es schon Hannah Arendt mit dem Begriff der Banalität des Bösen in Bezug auf den Holocaust im Dritten Reich getan hat.
Die Touristen und die gesamte Urlaubsatmosphäre wird von Udo als leer und hohl, als oberflächliche banale Masse wahrgenommen:
“Gesichter, die sich gegenseitig mochten oder so taten, als würden sie sich mögen, vertieft in hohle und gespannte Zwiegespräche, Pärchen, die sich Händchen haltend sonnten, einzelne, allein arbeitende Männer, alle glücklich oder zumindest im Einklang mit sich selbst. Unzufrieden! Aber sich im Mittelpunkt des Universums wähnend. Was zählte es schon, ob Charly lebte oder nicht, ob ich lebte oder nicht. Alles würde der abschüssigen Bahn folgen, in den je eigenen Tod. Alle im Mittelpunkt des Universums! Der Mob der Idioten! Nichts entging ihrer Herrschaft! Sogar schlafend kontrollierten sie alles. Mit ihrer Gleichgültigkeit!”
Das klingt zornig. Das Böse ist kein religiös Absolutes, auch kein lauerndes Monster hinter einer Straßenecke oder ein psychopathischer Schwerverbrecher. Das Böse wohnt in der Verflachung, in der Ignoranz, der Kleinlichkeit, der Wut über die eigene Nichtigkeit und den Antitugenden wie Neid und Gier. Das Böse ist eine menschliche Eigenschaft, die in jedem steckt und ständig sublimiert werden muss. Die letzten 150 Seiten warten noch auf mich. Zu ihnen und zum Bolaño-Septemberheft der Zeitschrift “Du” werde ich noch Stellung nehmen.
Der Strand von Blanes
Rezensionen:
Piero Salabè: Langsam vergessen wir es
Andreas Breitenstein: Die Stunde der frühen Geburt, NZZ
Frühwerk von Bolaño – das Böse als Brettspiel