Zauberei von Anfang an – Die erste Seite des Romans. Eine subjektive Sammlung VI
“This is the saddest story I have ever heard.”
Dies ist die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe. Neun Jahre hindurch hatten wir während der Kursaison in Bad Nauheim mit den Ashburnhams in der größten Vertrautheit verkehrt – oder vielmehr in einem Verhältnis zu ihnen gestanden, das so lose und unbeschwert und doch so eng war wie das eines guten Handschuhs mit Ihrer Hand. Meine Frau und ich kannten Hauptmann und Mrs. Ashburnham so gut, wie man jemanden nur kennen kann, und doch wußten wir andererseits auch wieder gar nichts von ihnen. Das ist, glaube ich, ein Zustand, wie er nur bei Engländern möglich ist, die mir bis zum heutigen Tag, da ich mich hinsetze, um herauszutüfteln, was ich von dieser traurigen Affäre weiß, völlig fremd sind. Bis vor sechs Monaten war ich nie in England gewesen, und natürlich hatte ich nie die Tiefen eines englischen Herzens ausgelotet. Ich kannte nur seine Untiefen.
Ich will nicht sagen, wir hätten nicht mit vielen Engländern Bekanntschaft gemacht. Da wir nun einmal notgedrungen in Europa lebten und notgedrungen unbeschäftigte Amerikaner, also unamerikanisch waren, wurden wir sehr viel in die Gesellschaft feinerer Engländer gezogen. Paris, wissen Sie, war unser Wohnsitz. Ein Ort irgendwo zwischen Nizza und Bordighera bot uns jährlich Winterquartier, und Nauheim sah uns immer von Juli bis September. sie werden hieraus entnehmen, daß einer von uns, wie man so sagt, es am Herzen hatte, und aus der weiteren Angabe, daß meine Frau tot ist, schließen, daß sie die Leidende war.
Hauptmann Ashburnham hatte es ebenfalls am Herzen. Aber während ihn ungefähr ein Monat in Nauheim jeden Sommer für den Rest des Jahres genau auf die richtige Tonhöhe stimmte, reichten die zwei Monate, die wir dort verbrachten, gerade nur aus, um die arme Florence von Jahr zu Jahr am Leben zu erhalten. Daß er sein Herz spürte, lag vermutlich am Polo oder an viel zu hartem Sport in seiner Jugend. An den verwüsteten Jahren der armen Florence war ein Sturm auf unserer Überfahrt nach Europa schuld, und die unmittelbaren Gründe für unsere Gefangenschaft auf diesem Kontinent waren die Anordnungen der Ärzte. sie sagten, schon die kurze Fahrt über den Kanal könnte das arme Ding das Leben kosten.
Als wir uns zum ersten mal begegneten, war Hauptmann Ashburnham, der auf Erholungsurlaub von Indien gekommen war, wohin er nie wieder zurückkehren sollte, dreiunddreißig Jahre alt; Mrs Ashburnham – Leonora – war einunddreißig. Ich war sechsunddreißig und die arme Florence dreißig. Heute wäre Florence also neununddreißig Jahre alt und Hauptmann Ashburnham zweiundvierzig; währen ich fünfundvierzig bin und Leonora vierzig. Sie sehen also, unsere Freundschaft war eine Angelegenheit des jungen mittleren Alters, denn wir waren alle von recht beschaulicher Gemütsart, die Ashburnhams insonderheit waren das, was man in England gewöhnlich >ganz ordentliche Leute< nennt.
Ford Madox Ford: “Die allertraurigste Geschichte”. Original online: “The good soldier” (The saddest story) Erstausgabe London 1915. Dt. Ausgaben 1962, 1978, 2000 usw.
Julian Barnes im Guardian, u.a. mit einer guten Analyse des Romananfangs.