Das fotografierte Buch 2
Was die Philosophie betrifft, habe ich mich nie systematisch mit ihr befasst, ich bin ein belletristischer Kleingeist geblieben. Große Systemtheorien schrecken mich ohnehin von vornherein ab, wie Gedankenkathedralen alter Männer kommen sie mir vor, was sicher ungerecht ist. Aber das Bedenken bleibt: als ließe sich die Welt in ein abgeschlossenes Gebäude sperren. Außerdem weht in der Philosophie der bisweilen ziemlich kalte, analytische Wind des Intellekts, andererseits kann eine Wissenschaft zu recht kein Gefühl gebrauchen. Da sich aber Gedanken per se wie die ganze Welt eben nicht einsperren lassen, hatte mich als Zwanzigjähriger auch vom Zeitgeist umweht ein Titel, ich glaube sogar das erste Werk Rudolf Steiners angesprochen “Die Philosophie der Freiheit”. Wollte hier jemand die Philosophie selbst aus ihrer Unfreiheit befreien? Die Anthroposophie blieb für mich dennoch immer auch etwas Okkultes, mit dem ich nichts anfangen konnte. Mit vielen Anmerkungen erinnere mich den Band damals systematisch durchgearbeitet zu haben. Ich vermute, trotz keiner weiteren großen Vertiefung mit einigem Gewinn für mein eigenes, analytisches Denken. Schmunzeln musste ich, als ich in dem Buch zwecks der Fotoaufnahme blätterte und ausgerechnet eine Stelle über die Liebe fand, wo ich mit jugendlichem Leichtsinn versucht hatte mich auf die Seite des Gefühls gegen die philosophische Analyse zu schlagen und trotzig mit Farbstift einige dicke Sätze an den Rand schrieb. Der Romantiker von damals meinte sich gegen irgendetwas wehren zu müssen. Deshalb zunächst ein Zitat aus “Die Philosophie der Freiheit” und anschließend meine kleine unverfrorene Bemerkung:
Der Weg zum Herzen geht durch den Kopf. Davon macht auch die Liebe keine Ausnahme. Wenn sie nicht die bloße Äußerung des Geschlechtstriebes ist, dann beruht sie auf den Vorstellungen, die wir uns von dem geliebten Wesen machen. Und je idealistischer diese Vorstellungen sind, desto beseligender ist die Liebe. Auch hier ist der Gedanke der Vater des Gefühles. Man sagt: die Liebe mache blind für die Schwächen des geliebten Wesens. Die Sache kann auch umgekehrt angefaßt werden und behauptet: die Liebe öffne gerade für dessen Vorzüge das Auge. Viele gehen ahnungslos an diesen Vorzügen vorbei, ohne sie zu bemerken. Der eine sieht sie, und eben deswegen erwacht die Liebe in seiner Seele. Was hat er anderes getan: als von dem sich eine Vorstellung gemacht, wovon hundert andere keine haben. Sie haben die Liebe nicht, weil ihnen die Vorstellung mangelt.
Meine Randnotiz von damals, so herrlich jugendlich unbedarft und gleichzeitig unnötig:
“Vielleicht lieben die Philosophen mit dem Kopf, ich möchte es mit mehr als dem “Begriffskasten”!
Die totale Erkenntnis wäre doch der Tod der Liebe. Es lebe das Gefühl!”