Aléa Torik: Das Geräusch des Werdens. Leseeindrücke der Kapitel 4 und 5.
Bei jedem Kapitel sitze ich zunächst wie ein Blinder in der Ecke und frage mich, wessen Stimme ich denn jetzt höre. Fünfundzwanzig von achtundzwanzig Kapiteln liegen noch vor mir, eins mehr als das Alphabet Buchstaben hat, Absicht? Fragen stellen kann man an ein Buch nie genug. Die Überschriften sind jeweils einer folgenden Textstelle entnommen und spielerisch humorvoll, wobei fünf den gleichen Titel wie das ganze Buch tragen, ich vermute immer die Monologe des blinden Marijan. Der auf den ersten Blick etwas sperrig wirkende Titel “Das Geräusch des Werdens” mit dem Genitiv beschreibt unterschwellig auch das Konstruktionsprinzip des Romans. Alle unterschiedlichen Stimmen der einzelnen Kapitel erzeugen wie ein Kaleidoskop oder ein aus Sätzen gewebter Klangteppich zusammengenommen auch ein Geräusch. Nämlich das eines übergeordneten Erzählers oder der Autorin selbst, mit der Aufforderung, im Kopf des einzelnen Lesers zu einem immer wieder neu geformten Gesamtbild zu werden. So wie der Blinde seine Welt aus unterschiedlichen Geräuschen zusammensetzen muss, so verfolgt auch der Roman dies Ziel bei seinen Lesern mit seinen verschiedenen Erzählstimmen.
Im vierten Kapitel wird die Geschichte einer Flucht aus den engen Dorfverhältnissen des jungen Rumänen Valentin wieder weitestgehend personal aus seiner Sicht erzählt. Er sieht als Mitte Zwanzigjähriger sein zukünftiges Leben nur noch als eine vorgezeichnete und damit sinnlose Bahn bis in den Tod. Auf die Idee, in die tausende Kilometer weit entfernte Weltstadt Paris zu fahren, bringt ihn eine Äußerung der älteren Dorfschullehrerin, die ihn unangenehmerweise auf einem Schulfest vor Jahren sexuell bedrängt und mit entblößten Brüsten Avancen gemacht hatte. Beim Lesen wurde mir erst jetzt bei den doch zahlreicheren Dorfbewohnern klar, dass die ältere Lehrerin doch nicht namenlos bleibt, sondern Silvana heißt. Diese Silvana nun überträgt auf ihn die Sehnsucht nach Paris, einer Stadt, in der man nie älter werden würde, bzw. das Leben selbst immer jung bliebe. Die jüngere Generation flieht zumindest in Rumänien in die Städte, vermutlich nicht nur die einzige Chance jung zu bleiben, sondern auch eine berufliche Existenz aufzubauen. Aus dieser Tatsache generiert sich auch der Titel des Kapitels “Je größer die Stadt, desto jünger die Leute”. Tatsächlich bricht Valentin mit allen Traditionen und macht sich auf die mühsame Reise mit dem Zug über Bukarest nach Paris. Dann steht er mit großem Staunen und seiner dörflichen Naivität unter dem großen Bahnhofsdach in Bukarest. Die städtische Umwelt ist ihm in ihrer Fremdheit und Größe unbegreiflich, aber er trägt den Wunsch, sein Paradies Paris zu erreichen, in Form seiner einzigen Tasche fest an sich gedrückt mit sich herum. In einer kurzen Traumsequenz erscheinen ihm die Mitreisenden und eine ältere Frau wie fratzenhafte Fremde, die seine Pläne bedrohen könnten. Er steigt am Ende viel zu früh in Berlin aus, wo er das Glück hat, auf ein hilfsbereites Mädchen zu treffen, dass ihn trotz sprachlicher und sonstiger Verwirrung an die Hand nimmt.
Die wiederkehrenden sexuellen Implikationen als mitauslösenden Faktor für die Flucht wirken etwas weit hergeholt. Das Sexuelle als immer mitschwingende Ebene erinnert an das erste Kapitel und um es vorweg zu nehmen auch an das sechste, in dem es um das sexuelle Erwachen zweier Freundinnen geht. Beim ersten Lesen fielen mir manche Dialoge als doch sehr einfach auf und die Reihung von kurzen Sätzen überzeugte mich auch hier wiederum nicht. Das Stakkato von kurzen Sätzen kann in ihrer Gleichförmigkeit auch ermüdend wirken, ich gebe ein Beispiel von Seite 49, Valentin sitzt im Zug:
“Er bekam einen Platz am Gang. … Valentin sah aus dem Fenster. Es wurde langsam hell. Der Mann schlug die Zeitung auf. Sie sprachen nicht miteinander. Valentin versuchte in der Zeitung seines Gegenübers zu lesen. Das war eine andere Sprache. Vielleicht fuhr der Mann ebenfalls nach Paris. Aber er sah nicht so aus. Viel zu wenig Gepäck, dachte Valentin. Obwohl er selbst noch weniger hatte. Ihm wurde langweilig. Er wusste nicht, was er tun sollte.”
Aber vielleicht ist der Erzählstil auch der Weltfremdheit des Protagonisten geschuldet. Das birgt aber dann immer die Gefahr, den Leser sprachlich zu unterfordern. Natürlich empfinde ich es als poetisch, wenn der junge Mann am Ende in der Fremde auf ein nettes Mädchen trifft und sein großes Glück trotz aller Widrigkeiten auch auf einem riesigen, fremden Bahnhof finden kann, aber andererseits ist das auch ein ziemlich märchenhaft wirkender Ausgang. Zu den stärksten Kapiteln des Buches würde ich dieses, zumal sprachlich, nicht zählen.
Das fünfte Kapitel “Wie ein Mensch” hat mich dagegen sehr viel mehr angesprochen. Von dem zuweilen unterfordernden Sprachstil einmal abgesehen, sind die Erzählfäden insgesamt umso feiner gesponnen. Die ältere Frau, die Valentin im vorausgegangenen Kapitel im Zug auf der Fahrt nach Bukarest trifft, könnte zum Beispiel die Mutter des Protagonisten dieses Kapitels sein. Der Sohn des Schuhmachers Ioan, gleichzeitig auch widerwillig von Silvana zum Bürgermeister des Dorfes erkoren, erzählt in Ich-Form von seinem Großvater. Dessen Lebensphilosophie über das richtige Gehen, geht beim Lesen unter die Haut und sehr anrührend wird das Ende des Kapitels, wo er sein lang gehütetes Geheimnis preisgibt, wie man im Leben richtig geht. “Wie ein Mensch” muss man gehen, als Ganzes mit Haltung und nicht gebeugt als Halbes. Perfekt eingerahmt in diese Erinnerungen an den Großvater erzählt Ioan von seiner unglücklichen Liebe zu Lydija, mit der er in Bukarest ein Kind hat, wo er als Bürgermeister den Planwirtschaftsforderungen der Regierung ausgesetzt ist. Von der Existenz Lydijas, also von der städtischen Hälfte seines Lebens wissen seine Eltern und das Dorf nichts. Lydija trennt sich von ihm, verschwindet und ihr gemeinsames Kind Nicolae wird ihm von der Nachbarin in die Hand gedrückt. Er nimmt seinen Sohn mit nach Marginime, in der Stadt kann er ohne Lydija nicht weiterleben. Diese traurige Geschichte ist großartig erzählt, wie eine Parabel, dass man sein Schicksal annehmen muss und dass man das auch schafft, wenn man als Ganzes aufrecht zu gehen lernt.
Lieber Dietmar,
ich freue mich natürlich, wenn das jemand liest. Wenn das überhaupt jemanden interessiert, was einem in jahrelanger Anstrengung durch den Kopf und alle anderen Organ gegangen ist. Nicht dass es der latent immer verletzten Künstlerseele nicht gut täte, eine Besprechung zu bekommen, aber es ist mir beinahe schon peinlich, dass Sie sich so ausführlich damit beschäftigen.
Ich würde auch gerne etwas zu Ihrer Kritik sagen. Das mache ich allerdings erst am Ende, wenn Ihr letztes Wort gesprochen ist.
In einem Fall aber liegen Sie falsch: Die Stadt ist nicht Bukarest, das wären 300 Kilometer in die falsche Richtung. Es ist einfach irgendeine Stadt.
Herzlich
Aléa Torik
Liebe Aléa,
meine geographischen Kenntnisse Rumäniens sind einfach katastrophal, aber mit Ihrem Hinweis der dreihundert Kilometer könnte es selbstverständlich nur Sibiu sein. Merkwürdigerweise kommt mir gerade eine Überschrift bei Proust in den Sinn: „Ortsnamen überhaupt“ oder so ähnlich. Die Fahrt nach Paris war schuld, denn ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass man ohne über Bukarest zu müssen nach Paris kommt, aber wahrscheinlich geht das auch von Hermannstadt aus. Überhaupt „irgendeine Stadt“, da haben sie vollkommen recht. Warum ich so viel schreibe, weiß ich selbst nicht. Zuerst hatte ich mir vorgenommen, eine sachliche Rezension nach der Lektüre zu schreiben, aber dann gehen jetzt wohl doch irgendwelche Pferde mit mir durch. Solange es Ihnen nicht ganz peinlich ist, was ich schreibe, lassen Sie mich mal ruhig vor mich hin wursteln (kein schönes Wort, aber ein vegetarisches Synonym fällt mir nicht ein). Vielleicht mache ich ja auch zwischendurch schlapp, aber dass „ein Mensch als Ganzes geht“ wird mir dagegen helfen.
Ich hoffe, Sie machen die Lesung am 10. Februar in der „Galerie Schmalfuss“, wofür ich Ihnen herzlich die Daumen drücke.
Dietmar
Lieber Dietmar,
hiermit verbiete ich mir, mich in Ihre Auseinandersetzung mit dem Text weiter einzumischen. Weil Sie dann meinen, die Autor_in zu sehen, aber Sie sollen ja den Text sehen. Ich sage das Folgende, um den Blick von mir wegzulenken.
Der Roman ist, wie Sie richtig feststellen, kein – eine inzwischen inflationär gebrauchte Bezeichnung – postmoderner. Was immer das heißt, ob man das nun affirmativ oder ablehnend meint. Er erzählt in nahezu traditioneller Weise eine Geschichte, allerdings aus verschiedenen Perspektiven, was zu einem – auch akoustischen – Gesamteindruck führen soll. Allerdings bin ich keine Anhänger_in einer eher traditionellen Literaturwissenschaft, die in allen Erscheinungen im Text die Autor_in sucht. Also etwa: Autorin hat braune Haare, Protagonistin hat braune Haare: also haben wir es mit einer zumindest partiellen Identität der beiden zu tun. Mit einer partiellen Identität von Autor und Figur haben wir es immer zu tun. Ich bin eher eine Anhänger_in der gegenteiligen Auffassung, sagen wir einer projektiven Identifikation: beide Seiten, Leser_in wie Autor_in, projizieren auf den Text. Dieser mehrfach von Projektionen umflimmerte Text spiegelt einem immer nur das zurück, was man auf ihn projiziert. Das ist ein fundamentaler Punkt in meinem Textverständnis.
Ich stecke in dem Text, das ist richtig. Aber ich spaziere da nicht als Leonie verkleidet durch die Straßen Berlins. Ich spaziere gar nicht. Ich lasse spazieren. Ich erkaufe diesen Spaziergang indem ich einen Achttausender erklimme.
Der Text zeigt der Leser_in wie der Autor_in die eigene, nicht die andere Seite.
Aléa Torik
Liebe Aléa,
wir sind uns da völlig einig, kein Dissenz, denn ich habe eine Abneigung gegen eine Literaturwissenschaft, die meint, das Werk eines Autors ausschließlich oder zum größten Teil in seiner Biographie zu suchen. Ich erinnere mich wiederum an eine Biographie Prousts von George D. Painter, die auch die Tendenz hatte, die Recherche mehr oder weniger aus den biographischen Details erklären zu wollen. Im grunde will ich Sie mit meinen kleinen Andeutungen zum biographischen Background auch etwas herausfordern. Natürlich bleibt bei einem Text jedem Leser nur seine spezielle Projektion. Im Moment versuche ich mir gerade über das Drei-Generationen-Personen-Geflecht in Marginime Klarheit zu verschaffen. Natürlich ist das ein fiktives Dorf, aber doch will mir anderseits nicht einleuchten, dass Sie als Autorin ohne jeglichen biographischen Bezug in der Lage wären, die ganze Soziologie und verwandtschaftlichen Abhängigkeiten, die da geschildert werden, sich einfach auf dem Nanga Parbat einfallen zu lassen. Das heißt ja nicht, dass im Roman von Ihrer Familie die Rede ist. Ich sehe nur mein rumänisches Dorf, das durch den Text entsteht und ich lebe mit diesen fiktiven Figuren und dennoch bleibt auch richtig, dass Proust nie einen solchen Roman über Rumänien geschrieben hätte. Ich suche auch nicht ständig den Autor in einem Text, das hielte ich für langweilig und meistens weiß man auch nicht genug von ihm oder ihr. Sie müssen also nicht befürchten, dass ich Sie auch nur mit einer Ihrer Figuren verwechseln sollte. Aber ich bin mir sicher, dass Sie eine ganze Reihe Ihrer Figuren lieben und genau das steckt bestenfalls in dem Text.
Herzlich
Dietmar