Aléa Torik: Das Geräusch des Werdens. Leseeindrücke von Kapitel 6.
Das sechste Kapitel trägt den fast barocken Titel “Mach was Einfaches, mach Kopfstand oder Ballett, aber hör bloß auf zu Liegen”. Beim letzten Wort “Liegen” erinnerte ich mich an einen Dialog von S. 43 aus dem dritten Kapitel. Dort sprachen Valentin und sein Freund Ioan über den Friedhof am Hang, wo alle hinkämen und doch eine schöne Aussicht hätten:
“Die Aussicht ist mir egal. Ich will da nicht liegen.”
Wo willst du dann hin?”
”Irgendwohin, wo ich nicht liegen muss.”
”Warum denn das?”, fragte Ioan.
”Das Letzte , was ich will, ist liegen. Ich kann das nicht ausstehen.”
”Dir wird, wenn du tot bist, nicht viel anderes übrig bleiben”, sagte Ioan.
”Liegen ist langweilig. Ich habe nichts gegen das Totsein im Allgemeinen, das ist vielleicht kein schlechter Zustand. Aber ich denke nicht daran, da ewig herumzuliegen. Wenn man sich wenigstens bisweilen umdrehen könnte. Ich halte das keine Woche aus, dann hau ich ab.”
Einmal ist es ein schönes Zitat für den dialogischen Wortwitz in diesem Roman. Zum anderen beweist es, dass ein Zustand nun in diesem Kapitel wieder in einem ganz anderen Zusammenhang neu verknüpft werden kann, und dass die Erzählfäden sorgfältig vernäht wurden. Vielleicht ist die Assoziation mit der dem Weiblichen zugeordneten Fähigkeit des Handarbeitens bei einer Autorin auch ungünstig, soll nur heißen, den Faden verliert sie nie.
Wir begegnen der Leonie aus dem ersten Kapitel wieder, allerdings erzählt sie jetzt selbst und ist erst dreizehn Jahre alt, also ungefähr halb so alt wie am Anfang. Nebenbei gesagt ist natürlich auffällig, das viele Figuren Mitte zwanzig sind, was mit dem Alter korrespondiert, in dem auch die Autorin war, als sie diesen Roman schrieb. Jetzt aber spricht die pubertierende Leonie und wir wollen sie ja nicht mit den Erfahrungen der Autorin selbst in dieser Zeit verwechseln, wo kämen wir denn da auch hin. Das Liegen wie gesagt hat jetzt einen ganz anderen Bedeutungshorizont, denn Leonie erkundet auf dem Rücken liegend, was man in der Pubertät so alles am eigenen Körper entdecken könnte. Die Sexualität ist wahrscheinlich genauso eine ernste Sache wie der Tod, was Leonie und ihre Freundin Tilli jedoch suchen, ist erst einmal der kleine, den ersten Orgasmus nämlich. Und wie das so ist bei den ersten Erfahrungen auf diesem Gebiet, nichts gelingt wirklich. Der Text versucht auch dem Scheitern und den ernsten Dingen eine witzige Note zu geben. Sehr glaubhaft beginnen die ersten sexuellen Schritte zusammen mit der Freundin (ich erinnere dunkel, dass das bei Jungen ähnlich ist), am Ende wird man nackt auf dem Bett liegend vom Vater “erwischt”, der aber viel Verständnis zeigt. Bei der gemeinsamen Entdeckung des eigenen Körpers treten die beiden Mädchen auch gleich, was Schönheit und Größe der Brüste betrifft, in Konkurrenz zueinander. Bei Leonie will da noch nicht so viel wachsen und so hat auch Tilli zuerst einen Freund und sie weiß auch, dass man sich von den Jungs anglotzen lassen muss. Sie soll ihrem Freund sogar schon “einen runtergeholt” haben, da kann Leonie noch nicht folgen. Es dreht sich nun einmal alles um das Erwachen der Sexualität und die Verunsicherung ist so groß, dass der Mutter, die Zahnärztin in Berlin ist, Betrug, Liebhaber oder Prostitution unterstellt wird. Das Leben ist eine zähe, langweilige Masse und doch liegt auch eine noch unschuldige Leichtigkeit im Verhältnis der Geschlechter zueinander. Am Ende scheitert auch der erste Versuch, einen Jungen zu küssen, kläglich.
Ich fand das ganze Kapitel amüsant, humorvoll und nachvollziehbar authentisch erzählt. Der Autorin hat mit Sicherheit das eigene Einfühlungsvermögen geholfen, auch wenn sie es bestreiten sollte. Ein sehr gelungenes Kapitel. Jetzt muss ich aber aufhören zu schreiben, denn nicht nur bei diesem Buch ist das Weiterlesen wichtiger.