Aléa Torik: Das Geräusch des Werdens. Leseeindrücke des Kapitels 7.
Langsam freunde ich mich mit den Personen des fiktiven Dorfes Marginime an. Kapitel für Kapitel werden wie ein Geflecht immer neue Beziehungen deutlicher. Es entwickelt sich ein ganzer Stammbaum, der mindestens drei Generationen umfasst. Die Konzentration liegt dabei bisher auf zwei existentiell wichtigen Handwerksfamilien: dem Tischler und dem Schuhmacher. Die Kinder dieser Großväter und Großmüttergeneration gründen wiederum Familien. So wird aus einem der beiden Varians, der Söhne des Tischlers, und Elena, der Mutter des blinden Marijan ein Paar. Auch der Schuhmacher und Bürgermeister Ioan hat mit der ihn verlassenden Lydija einen Sohn Nicolae. Ioan hat wiederum Freunde im Dorf, Emil und Valentin, der das Paradies in Paris suchte und es unbeabsichtigt wohl in Berlin fand. Es scheint, als ob jeder in diesem Buch seine ganz eigene Geschichte erzählen darf. Das macht das Dorf zu einer Gemeinschaft, in guten wie in schlechten Tagen, und die Wahrheit setzt sich erst aus allen ihren Stimmen zusammen. Sie haben sie alle zusammen, keiner hat sie für sich allein. Silvana, die ältere Dorfschullehrerin und Chronistin, zählt zur Großmüttergeneration, Clara als ihre Nachfolgerin und die geheimnisvolle, schöne Krisztina noch zur Elterngeneration.
Im siebten Kapitel werden zwei Zeitpunkte aus dem Leben Elenas, der Mutter Marijans, herausgegriffen. Einmal geht es um die Körper-Seele-Problematik aus dem unwissenden Blickwinkel als sie ein Kind war und das andere Mal um das langsame Sterben ihrer Schwiegermutter, das sie als erwachsene und mit dem Tischlersohn Varian verheiratete Frau erlebt. Die Lehrerin Silvana erinnert daran, dass alle Menschen sterben müssen, ihre Seele aber bliebe in irgendeiner Form erhalten. Die kleine Elena weigert sich, dieses Diktum der Lehrerin anzuerkennen, stattdessen fragt sie täglich ihre kranke, ältere Großmutter, ob sie nicht heute sterben würde, um das Entweichen ihrer Seele nicht zu verpassen. Vom Schuhmacher erhält sie selbstverständlich die Auskunft, dass die Seele zu Fuß in den Himmel ginge. Elena möchte unbedingt sehen, wie das funktioniert und sich die Seele vom Körper trennt. Bei ihrer Großmutter gelingt ihr das nicht, denn die ist eines Tages, als sie aus der Schule kommt wirklich gestorben. Als sie sieht, wie der Arzt der Großmutter das Gebiss aus dem Mund nimmt, vermutet sie logisch, “dass die Seele mit den Zähnen zu Fuß geht”, der so unbegreifliche Titel dieses Kapitels. Noch irritierter ist sie allerdings, als sie diese Seele dann in Form der Zähne bei der Beerdigungsfeier im Mund der Tante erblicken muss. So kann man die philosophisch sehr schwere Problematik des Leib-Seele-Konflikts auch anschaulich erzählen.
Der zweite Teil dieses Kapitels bringt nun beinahe, wie schon bei der Figur Krisztina, kriminalistische Aspekte in den Roman. Zwanzig Jahre später muss Elena mehr als ein Jahrzehnt lang ihre bettlägerige Schwiegermutter pflegen. Das ist die Frau des alten Tischlers, Varians Vater, die ihm von der Dorfgemeinschaft “untergeschoben” wurde und der man nachsagte, einer ihrer beiden Söhne (die Varian(ten) I und II) wäre vom halben Dorf gezeugt worden. Elena verachtet diese Frau aber auch, weil sie von ihr permanent belästigt und über ein Jahrzehnt ausgenutzt wird. Als die alte Frau laut ärztlicher Diagnose im Sterben liegt, überlegt sie ernsthaft, ob sie diesen Prozess nicht mit einem Druck des Kopfkissens abkürzen könnte. Vielleicht erfährt sie ja dann endlich, wie die Seele den Körper verlässt.
Die erzählerischen Fähigkeiten der Autorin beeindrucken mich immer mehr, egal ob sie selbst oder ein anderer das nun hören will. Das Verschachteln der einzelnen Familienschicksale über die Kapitelgrenzen hinweg ist gekonnt strukturiert und bleibt dennoch spielerisch. Es baut sich eine feine Spannung zwischen den Charakteren auf. Der Handlungsfaden auf der Berliner Ebene tritt gegenüber der des rumänischen Dorfes zwar zurück, ein Zusammenführen wurde aber schon durch die Zugreise Valentins angedeutet und wird im nächsten Kapitel durch die Stimme Marijans, der ja auch irgendwann in Berlin gelandet sein muss, wieder aufgenommen.