Aléa Torik: Das Geräusch des Werdens. Leseeindrücke der Kapitel 12 und 13.
Im zwölften Kapitel erfahren wir, warum Lydija, die Frau des Schumachers Ioan, ihren Mann ohne Erklärung verließ, als ihr gemeinsamer Sohn Nicolae erst ein Jahr alt war. Lydija ist eine Getriebene, weil sie den siebten Sinn hat. Sie sieht das eigene Schicksal und das der anderen voraus, sie kennt ihre Vergangenheit und ihre Zukunft. Das Kapitel passt sich im Satzbau sprachlich dieser Rastlosigkeit an, indem es genauso atemlos erzählt ist. Ein pochender Rhythmus aus Wiederholungen und hastigen Alliterationen. Hier passt die Kurzatmigkeit, die ich im ersten Kapitel noch bemängelte, ausgezeichnet. Sie ist geradezu notwendig. Das Kapitel nimmt Fahrt auf, um am Schluss endlich zum ersehnten Stillstand zu finden. Lydija verliert in einem einzigen Augenblick ihre Gabe oder ihren Fluch, und sie wird dankbar dafür sein. Aber der Reihe nach. Lydija hat Friseuse gelernt, obwohl ihre mathematischen Fähigkeiten einzigartig sind. Das korreliert irgendwie mit ihrer schon seit der Jugend vorhandenen Hellseherei. Diese Fähigkeit ist eine unerträgliche Last, denn das vorhersehende Wissen ändert nichts am Determinismus ihres eigenen Schicksals. Im Bild des zersplitterten Flakons im Friseurladen wird deutlich, dass ihr Leben zerrissen ist. Sie kennt jedes Detail bereits, selbst die einzelne Scherbe, die unter einen Schrank gerutscht ist. Ein zerbrochener Spiegel, ein fallengelassenes Gefäß steht stellvertretend für das Scheitern eines ganzen Lebens, für das Zerspringen der Welt, letztlich für den Tod. Die von anderer Seite geäußerte Lebensbejahung dieses Romans erkennt man zum Beispiel daran, dass fast jedes Kapitel doch mit einem Bild der Hoffnung schließen möchte. Das heißt auf der anderen Seite aber nicht, das Affirmative wäre naiv, und würde die Schattenseiten leugnen, vielmehr ist es eine Art Verständnis, das Menschsein so zu akzeptieren, wie es nun mal ist. Ganz tief im Roman steckt der Glaube an den poetischen Augenblick als Aufbruch aus welcher misslichen Lage auch immer und an die Liebe, an was sonst. Aber nicht nur an die romantische, die immer nur zwei verbindet, sondern an die, die in jedem steckt und alle verbindet.
Die Verwendung des immer gleichen Refrains am Ende jedes Absatzes dieses Kapitels ist ein gut gewähltes Stilmittel, um die innere Spannung Lydijas zu zeigen und die des Lesers zu erzeugen:
“Sie wälzt sich im Bett herum, aber das hilft nicht. Sie will das alles nicht sehen, sie ist doch erst sechzehn. Aber sie sieht es.”
Lydija weiß, dass sie ein unstetes Leben führen wird. Sie wird Ioan kennenlernen und ein Kind bekommen, beide verlassen und von einem Ort zum anderen ziehen. Sie wird fremde Sprachen sprechen, aber das alles wird nur auf einen einzigen Augenblick hinauslaufen, in dem sie ihrem Sohn Nicolae in Marginime ein Flugticket nach New York in die Jackentasche steckt. Ob der Sohn sie als Mutter erkennt bleibt unklar. Sie aber weiß, dass sie ihren Stab, den sie zu tragen hatte, weitergegeben hat. Auf ihren Sohn wartet kein einsames Leben, auf ihn wartet Scarlett. Das ist das letzte, was sie sieht, “wie ein Albtraum liegt die Hellseherei hinter ihr”. Das erinnert natürlich an das Kapitel “Wie ein Mensch”, wo der alte, weise Schuhmacher, der weiß, wie man im Leben gehen muss, unvermittelt stirbt, als ihm Ioan seinen Enkel Nicolae vorstellt. Jedes Leben scheint einen geheimnisvollen Schlüssel in sich zu tragen, den man selbst nicht kennt.
Im dreizehnten Kapitel sitzen Sie als Leser zunächst in einem Zahnarztstuhl oder weniger angsteinflößend im Hörsaal für Zahnmedizin. Mediziner brauchen ja das große Latinum, um sich unverständlich auszudrücken. Die Autorin scheint ihren Bildungsstand durch lateinische Sprachkunstwerke auch nicht verleugnen zu wollen. Selbst das so bekannte Mittel, den Abstand zu den Ungebildeten durch nachträgliche Übersetzung ein für alle mal zu verdeutlichen, lässt sie als Scherz nicht aus:
“Die lactale Dentition, das Durchbrechen der Milchzähne, findet in der Regel zwischen dem sechsten und dreizehnten Lebensmonat statt.”
Das alles muss man wissen, um Maddox, den ersten Freund Leonies, in seiner Pubertät später auch richtig würdigen zu können. Dieser Maddox ist nämlich ein hypersensibler Zahnhypochonder, der in der Behandlung von Leonies Mutter Liv ist. Das ganze Kapitel ist eine Humoreske, wie schon sein Titel, der diesem schönen Satz über den perfekten Biss entnommen ist:
“Er habe eine ideale Okklusion, was immer dann der Fall ist, wenn die mesio-bukkale des vorderen Höckers des ersten oberen Molars in die mittlere Vertiefung seines Antagonisten trifft.”
Ich hatte allerdings Schwierigkeiten mit der Schreibung dieses Titels, weil ich mir mesio-bukkal nur adjektivisch vorstellen konnte und “die mesio-bukkale” dann eigentlich groß geschrieben werden müsste. Aber das hat sicher etwas mit meinen minimalen Lateinkenntnissen zu tun oder ist Teil des ironischen Konzepts. In erster Linie geht es also um die Mundgeographie von Maddox und um Anatomie im allgemeinen, denn Leonie trifft Maddox und zeigt ihm das schon bekannte Skelett Carlos, mit dem ihr Vater Valentin nach Paris flüchten wollte. Es ist einfach ein witziges Kapitel, in dem die Sprache sich selbst auf den Arm nimmt. Maddox lässt am Ende zwei Gipsgebisse in jeder Hand für sich sprechen, als Leonie ihn ihrem Vater vorstellt. Doch auch der Witz hat nicht nur den Grund, über ihn zu lachen, er lässt mich weiter denken und mit der Frage zurück: Ist Sprache also immer Imitation? Glauben wir etwas zu sagen zu haben und werden doch nur gesprochen?