Aléa Torik: Das Geräusch des Werdens. Leseeindrücke der Kapitel 16 und 17.
Im sechzehnten Kapitel gibt es einen weiteren neuen Ich-Erzähler. Als er über seine Mutter zu sprechen beginnt, weiß man, dass es nur Nicolae, der verlassene Sohn der hellsichtigen Lydija sein kann. Ein wirklich vielstimmiges Konzert, das die Autorin souverän dirigiert. Aber die schöne Krisztina, um die sich in diesem Kapitel drei Bären wie um einen Honigtopf streiten, bleibt immer noch geheimnisvoll im Dunkel. Ob sie auch selbst eine Stimme bekommen wird? Bisher nur von anderen erwähnt und kaum beschrieben, bleibt sie ein halb verschleiertes Gesicht, eine unbekannte Schönheit. Oder wird sie dem Schicksal ihres christlichen Namens gerecht werden: die Gekreuzigte? Alle scheinen sich “auf sie legen zu wollen”, der passende, wie das biblische Erkennen anmutende Ausdruck für den Geschlechtsakt. Der in seiner Verliebtheit und Eifersucht tief gespaltene Nicolae hat Gewaltphantasien, die sich hauptsächlich auf seinen Freund und Nebenbuhler Marijan und den selbstgefälligen, aber auch attraktiven Stadtmenschen Varian richten. Krisztina, Nicolae und Marijan, die Generation der jungen Leute, der Enkelkinder, sind eine kleine Clique im Dorf. Wie in beinahe jedem Kapitel zeichnet sich auch dieses durch ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Erzähltext und Dialogen aus. In diesem ist es vor allem der Dialog zwischen den beiden Kontrahenten Nicolae und Marijan. Nicolae ist durch den Verlust der Mutter emotional vorbelastet, vielleicht wittert er im Kampf ums Weibliche deshalb ständig Verrat. Die eigene Verletzung gebiert den Wunsch, anderen wehzutun. Am liebsten würde er sich mit Marijan prügeln, aber den besten Freund zu schlagen bringt er nicht übers Herz. Am Ende bleibt er allein zurück, Krisztina und Marijan sind beide plötzlich verschwunden. Eine letzte verstörende Begegnung mit dem jetzt erblindeten Marijan, den er nun noch weniger schlagen kann, lässt ihn traurig auf einer Bank zurück. Er träumt vom Wiederauftauchen Krisztinas, ein sehnsüchtiges Bild der Schönen, wie sie über den Hügel direkt auf ihn zuläuft.
Im siebzehnten Kapitel lernen wir erneut Leonie zur Zeit ihres Abiturs kennen. Ebenfalls in Ich-Form erzählte sie bereits von ihren ersten gescheiterten pubertären Versuchen, das Küssen zu lernen. Dieses Ziel verfolgt sie jetzt im Alter von achtzehn Jahren mit dem jungen Hannes schon zielstrebiger, aber immer noch wirkt sie wie spätpubertär zurückgeblieben. Diese tastende Unschuld hat auf der einen Seite ihren Reiz, andererseits glaubte ich sprachlich das Niveau einer 16jährigen in den Dialogen herauszulesen. Für ältere Männer ist es ja immer reizvoll, etwas aus der Perspektive der Gelüste junger Mädchen zu lesen, aber Leonies Vorstellungswelt, die geschilderten Familienverhältnisse, die Ehekonflikte der Eltern schienen mir insgesamt eine Neigung zum Kuscheligen zu haben. Die junge Frau weiß nicht, wie ihr Leben weiter gehen soll, beruflich wird sie eine Art logopädische Ausbildung machen, das passt zum späteren Zusammentreffen mit dem behinderten Marijan. Ihre ganze emotionale Unsicherheit packt die Autorin in das Bild der sich nackt im Badezimmerspiegel betrachtenden Leonie. In diesem Alter sieht man nur Unzulänglichkeiten, am eigenen Körper und an dem der anderen, denn bei ihrer neuen Erfahrung mit Hannes treffen sich zwar Lippen und Zungen, heraus kommt aber nur der als unangenehm empfundene Kontakt von Speichel. Leonie mag diesen Hannes gar nicht besonders, er bleibt ein Experimentierobjekt und sonst nichts. Geht die Mutter fremd, kriselt die Ehe ihrer Eltern, welchen Lebensweg soll ich gehen. Diese Fragen bedrücken sie und am Ende steht sie wieder weinend vor dem Spiegel und sehnt sich nach der Wärme einer großen Liebe.
Die Autorin entpuppt sich als Meisterin der erfundenen Lebensläufe. Andererseits fiel mir insgesamt auf, dass durch die variierenden Erzähler immer nur ein diffuses äußeres Erscheinungsbild der handelnden Personen entsteht. Wir erfahren über ihr körperliches Aussehen, Haarfarbe, Gesicht etc. ziemlich wenig, umso mehr allerdings über ihre inneren Beweggründe. Der Roman würde auch als Hörspiel funktionieren, bei dem jeder Zuhörer seine eigene Phantasie benutzt, um den Figuren eine äußere Gestalt zu geben. Um noch etwas Kritisches in einem Bild auszudrücken: Im Waschgang bei den Kapiteln über die “Jugendgeneration” war mir manchmal zu viel Weichspüler.
Lieber Bücherblogger,
mir ist auch aufgefallen, dass es über das äußere Erscheinungsbild der Personen nur sehr spärliche Informationen gibt. Gleichwohl kreiert man beim Lesen natürlich unwillkürlich „Gesichter“ im Sinne von Prototypen, Die Illustrationen, die Sie hier und da einstreuen, bringen dies zum Ausdruck. Als Leser befindet man sich also in der gleichen Situation wie der blinde Marijan, der das Gesicht seines Gegenüber ja auch nicht sehen kann – gleichwohl lächelt er es an.
Die Hinweise im Roman sind aus anderem „Stoff“: die Personen werden charakterisiert als Figuren, die sich in einem unsichtbaren Netzwerk bewegen, das sich synchron zum Fortgang der Geschichte verändert, sich weitet oder zusammenzieht…
Auf diese Weise wird der Blick stärker auf die Wirkmacht wechselseitiger Bezüge gelenkt, individuelle Merkmale (Gesichter) verlieren demgegenüber an Bedeutung.
Mit besten Grüßen, helga d.
Liebe Helga,
Ihr „unsichtbares Netzwerk“ ist eine ausgezeichnete Beschreibung der vielen Beziehungen und Abhängigkeiten der Personen untereinander. Da es doch einige sind und man schon mal den Überblick verlieren kann bei drei Generationen, müsste man vielleicht eine Art Stammbaum oder eine Besetzungsliste anlegen. Ich versuche mich mal an einer „Dramatis personae“, um noch mehr Licht in das Theater zu bekommen. Vielleicht sind die Figuren auch aus dem „Stoff, aus dem die Träume sind“, um mit Shakespeare zu sprechen. Ich lege eine Pause ein bei meiner kapitelbegleitenden Besprechung. Es kommt mir im Moment etwas monoton vor und als würde diese Art dem Roman doch nicht wirklich gerecht. Ich lese erst bis zum letzten Wort, dann geht es hier irgendwie weiter. Gerade hat sich Leonie bei mir in der Wohnung Marijans auf den Boden gelegt. Nach 330 Seiten mit einem Satz wieder an das erste Kapitel anzuschließen, ist schon toll: <<"Wenn du mich suchst, ich bin hier unten“, sagte ich.>> Ihrer kurzen Analyse kann ich nur voll zustimmen, haben Sie bereits das ganze Buch gelesen? Mir bleiben glücklicherweise noch drei spannende Kapitel. Vielen Dank für Ihren schönen Kommentar. So, jetzt mache ich noch einen in den Augen der Autorin unverzeihlichen Fauxpas, ich verwechsele eine ihrer Figuren mit ihr selbst und zwar die Dorfschullehrerin Clara. Denn diesen Satz von ihr über das fiktive Dorf Marginime, da bin ich mir doch recht sicher, könnte auch sie über ihre Heimat gesagt haben:“Es war nirgendwo so schön wie hier.“
Herzlichen Gruß
Der Buecherblogger