Alban Nikolai Herbst: Die Fenster von Sainte Chapelle. Eine Reiseerzählung II
Und so kam es dann dass später
Als der Schneemann seine Geschichte gab
ihr Gesicht zunächst gespenstisch
weißer noch als bleicher Schatten war
Procul Harum: A whiter shade of pale. 1967
Der Ich-Erzähler hat im Folgenden eine gewisse räumliche aber auch zeitliche Omnipräsenz, es ist ihm egal, wo er sich gerade befindet, ob auf dem Pradakahn, in seiner nonchalanten Unterkunft, im Restaurant Silberturm mit “Le Duchesse”, auf einer Tecnoparty, immer hypostasiert er ohnehin nur seine eigenen Eindrücke, richtet seinen Blick auf sich selbst und seine innere Imaginationswand. Die narrative Mühle mahlt und malt die Bilder und Personen der Außenwelt zu seinem ganz eigenen Panoptikum. “When the miller told his tale.” Die Reise des Autors Alban Nikolai Herbst wird stattgefunden haben, aber eigentlich hätte sie auch nur an seinem Berliner Schreibtisch stattfinden können. Ein wenig Realität, um dem Leser zumindest den Anschein von Authentizität zu verschaffen, wird dagegen schon benötigt.
Ich suche aber erst einmal meinen Bleistift, um eine Zitatstelle zu markieren, die mir gerade jetzt, nachdem ich bis Seite 125 weiter gelesen habe, treffend erscheint. Schon bei Madame Chauchat hatte der Bleistift seine ganz eigene Andersbedeutung. Diese Figur einer 28jährigen Russin bei Thomas Mann hätte vielleicht auch eine Rumänin sein können. Aber ich bin nicht Hans Castorp und auch nicht lungenkrank. Mit der Rolle, im unaufgeklärten Bewusstsein zu lesen, muss man sich erst einmal abfinden. Gerade in diesem Moment stehen zwei Bücher desselben Autors friedlich nebeneinander im Regal. Aber zurück zu dem dünneren von beiden, nur was den Umfang betrifft. Das Zitat, ich vergaß mich selbst. Den weiblichen Luftgeist Jenny beschreibt der nach Paris Gereiste so:
“Manchmal kam sie mir, was eben auch der Wahrheit entsprach, wie zwei völlig verschiedene Personen vor. Was auch für mich der Wahrheit entspricht, wie ich nun erfahren hatte. So daß ich mich fragte, wer von uns allen eigentlich weiß, was er n o c h ist: jenseits der realen Welt? Die Psychologie greift hier nicht, da wirkt eine andere Kategorie. Es hat dies mit der Präsenz von Allegorien zu tun, die sich allein in den Wirkungen zeigt, die wir auf andere haben. Diese liegt nicht in uns, sondern erfaßt uns, wir können uns wenden, wie es nur geht. Auf unseren Willen kommt es nicht an.”
Ein wenig stiegen mir beim Prada-Boot Vergleiche mit einer Fahrt über den Styx in den Kopf, von dessen Planken sich der Schriftsteller mit einem beherzten Sprung aus seinen Lenden heraus vor dem Tod retten will. Die griechische Mythologie klang schon beim Rekurs auf Joyce an. Alles wird schillernde Metapher und in den Teppich der poetischen Sprache gewebt, ein Prozess, an dem der Leser so unmittelbar wie möglich, durch Einbeziehung des Weblogs als Personen- und Ereignisfundus, teilnehmen soll. Immer wieder tauchen die Frauengestalten Jenny, Raffaela und die Löwin auf, die allesamt zu erotischen Gespielinnen und besorgten Begleiterinnen ausstaffiert werden. Selbst von einem kurzen Treffen mit einer Marguerite oder Ayana genannten flüchtigen Käuflichen wird berichtet, der er in Berlin im Umkreis einer Blogkommentatorin mit Namen Samarkandin wieder begegnet. Das Erzähler-Ich lebt, ob eingebildet oder real, in einer ziemlich promiskuitiven Weise. Die Hauptgespielin, die Löwin, kommt zu einem kurzen Besuch nach Paris. Der lederklüftige Luftgeist Jenny wird immer mal wieder beschlafen und mit eben jener Jenny bricht der Erzähler, angeregt durch den Hinweis einer Blog-Kommentatorin mit Namen Melusine jetzt zur Sainte Chapelle auf. So friedlich wie die Bücher erlebt der Ich-Erzähler seine exklusive Besichtigung der Sainte Chapelle allerdings nicht. Gegen jede sich als patriarchal gebärende Religion lehnt er sich auf und sieht bereits in dem ihn empfangenden Mönch einen Zuhälter. Es mag sein, dass auch ein Zusammenhang mit der auf der Schulter des Schriftsteller-Ichs schwer lastenden Vaterfigur besteht, in die er bezeichnenderweise gebissen wurde. Die Literaturpsychologie wird, Kafka lässt grüßen, schon eine Antwort finden. Die Französische Revolution wird nicht nur als Sturm auf die Bastille, sondern als Befreiung von der Knechtschaft unter der Kirche und dem Gottesbild heraufbeschworen. Das Erzähler-Ich begreift sich selbst als “G e i s t des Aufstands”, der Gott als Vaterfigur und den Sakralbau als “Ställe Pädophiler”, als “herrlich verlogenen Bau” anprangert und am Ende in die Klage ausbricht:
“Ich konnte nur lachen, wenn ich ihn ansah. die Schöpfung? Eine Presse für Enten, eine Auspresse, Vater. – Vater? Ich bitte, du Mutter, mich räuspern zu dürfen. Sitz doch endlich mal grade bei Tisch! Ein Silberturm ist die Welt.”
Dann taucht wieder “Le Duchesse” als Inkarnation eines mächtigen Verlegers auf, der marktkonforme Anpassung verlangt. Der sich verkaufen müssende Schriftsteller im Silberturm der Marktwirtschaft. Es ist ein Feuerwerk der Imagination, das in der “Sainte Chapelle”, sowohl auf den Seiten der Schilderung des Kirchenbesuchs, als auch im ganzen Buch überhaupt abgebrannt wird. Das sprachliche Niveau halte ich für außerordentlich hoch in dieser ganz eigenen Ausprägung einer neueren “Phantastischen Literatur”. Die Einbeziehung des Weblogs ist ein schriftstellerisches Wagnis. Der sprachgewaltige Egomane als Phantast bietet immer eine Attraktion für sich. Ob sich die Nach-Postmoderne in ihrem Selbstverständnis als innovative Kraft richtig versteht, bleibt zukünftiger Literaturgeschichte überlassen.
Die Kommentatoren des Weblogs werden selbst zu teilnehmenden Personen einer Frivolitätenparty im Technoclub “Le paradis de Pantin”, eine Art Nachtclub in einem Pariser Vorort, gelegentlich vom Erzähler auch als Schlachthaus tituliert. Manchmal weiß man beim Lesen gar nicht mehr, ob man sich in einer Kirche oder in einer Szene aus Stanley Kubriks letztem Film “Eyes Wide Shut” im Schloß Somerton auf einem orgiastischen, eher homoerotischen Maskenball befindet, der sich lediglich im Kopf des Erzählers abspielt. Bei der Verfechtung eines mir zumindest als l´art pour l´art-Position vorkommenden Standpunktes, wird doch auch der schmale Grat sichtbar, auf dem die gesamte Kunstauffassung und propagierte Kunstform zum Manierismus hin wandelt. Aber warum sollte es nicht auch einen modernen Oscar Wilde im World Wide Web geben.
Andere Rezensionen:
Gleisbauarbeiten: Das Licht, ein Meer. Über Alban Nikolai Herbsts Reise-Erzählung: Die Fenster von Sainte Chapelle.
Zum Autor:
HERBST & DETERS FIKTIONÄRE
DIE DSCHUNGEL. ANDERSWELT
LITERATURPORT mit Hörprobe aus dem Romanmanuskript ARGO.ANDERSWELT