Alban Nikolai Herbst: Die Fenster von Sainte Chapelle. Eine Reiseerzählung III

Garten_der_Lüste

Das orgiastische Fest in der psychedelischen Techno-Disco und Halbschattenwelt gerät zu einer an Hieronymus Boschs “Garten der Lüste” erinnernden Gemälde, wobei die Abrechnung mit Gott oder der blinden Religiosität der Menschen zum Aufruf für die Freiheit in der Schöpfung wird. Das Paradies ist die Akzeptanz der Menschen untereinander über jede geschlechtliche Differenz hinweg und das Schöpferische im Menschen seine Freiheit schlechthin. Indem sich das “Ich” in dem künstlerischen und schöpferischen Prozess aufzulösen beginnt, reflektiert es sich selbst als ein Wesen, in dem Gott und Teufel zugleich angelegt ist. Sie sind von ihm selbst geschaffene Allegorien in seinem inneren Kampf um das Menschsein. Am Schluss der sprachgewaltigen Phantasmagorie taucht die Vision einer Art Urmutter auf, die durchaus auch Mariencharakter enthält, und fragt den Erzähler, wer er in Wahrheit sei. Der Erzähler will sich jedoch auch von dieser Marienphantasmagorie nicht in seiner Kritik aufweichen lassen.

Neben die Disco-Szene wird kontrastiv eine Begegnung höchst seltsamer Art in der “Sainte Chapelle” gestellt. Man könnte sagen Gott selbst trifft sich mit seinem verlassenen Sohn, wobei der Sohn nicht Jesus ist, sondern das Alter Ego aller Menschen, falls es so etwas überhaupt gibt. Es ist eine wirklich fein gestrickte “Göttliche Komödie” anderer Art. Das immer wieder allegorisch auftauchende Erzengelpersonal ist leicht zu dechiffrieren. DasErzengel-Botticini Zimmermädchen Raffaela als den gleichnamigen Erzengel, (wobei ein Renaissancemaler durchaus mit konnotiert sein darf) wie auch “Jenny Michel” als Erzengel Michael oder der Absender der Vertragsemail für den neuen Roman des Erzählers Herbst am Schluss, der mit “Gabrielle U. Riel” unterzeichnet ist. Im Grunde werden alle Figuren Teil des Erzähler-Ichs und deshalb reißt ihn sein Erzählstoff immer selbst mit fort in Paris oder er sitzt im gleichen Atemzug bereits wieder in Berlin neben dem “leichten Mädchen” Madame Samarkand. Ich las das alles vor allem sprachlich als eine köstlich ironische Selbstauflösung, die immer wieder Ausgrenzung beklagt, sei es aus dem Kulturbetrieb oder das Vertreiben jeglicher gleichgeschlechtlichen Liebe vom katholischen Christentum. Der Erzähler verliert an manchen Stellen das Bewusstsein und muss sich quasi selbst von der rechten Hand Gottes über den eigentlichen Fortgang seines Pariser Aufenthalts unterrichten lassen. Im Engelsymbol ist die Doppel- und Gleichgeschlechtlichkeit des Menschen selbst bereits angelegt. Mir kam es wie eine mit hoher sprachlicher Spontanität und Intensität, sozusagen mit künstlerischer Verve vorgetragene Auflehnung gegen die Vorherrschaft eines nur heterosexuellen Selbstverständnisses christlicher und anderer Religionen vor. Die Erzählung sprengt das altbekannte Genre der “Phantastischen Literatur”, ist darin nicht vollständig kategorisiert. Es ist vielmehr eine einzigartige und sehr avancierte Spielart autobiographischen Schreibens, die Elemente des Phantastischen zwar aufgreift, aber nicht zuletzt in der Einbeziehung virtueller Kommunikationsplattformen wie das Weblog im Internet modern und innovativ wirkt. Im “Garten der Lüste”, der bisweilen mehr einer Abdeckerei im Pariser Vorort Pantin ähnelt, wo “Deus Duchesse” als “Glitter-Elvis” mit Fleischresten nach seinen Schafen wirft und der “stairway to heaven” von seinem faschistoid anmutenden Erzengel Michael bewacht wird, kommt die ganze Erzählkunst des Herbst genannten Schriftstellers so richtig in Fahrt. Wie dieser Michel ihm dann in seiner Doppelgestalt als Jenny auch wieder Aufklärung über seine Halluzinationen gibt, ist eine elegante Erzählkonstruktion. Ein paralleler Kunstgriff ist es, wenn in Berlin die Samarkandin die Rolle der Leser übernimmt und der Erzähler sich so in der Erzählung zwar zu seiner Figur, aber auch an sein Publikum wenden kann.

Ich-Auflösung bei gleichzeitigem totalen Hineinfallenlassen in die Ich-Imagination. Werde ich zu theoretisch? Während die Orgie naturgemäß etwas Blasphemisches hat, gerät die Morgenröte danach zu einer Art doppelten Katharsis zwischen Dichter und Gott, der sich in einem multilingualem Priester materialisiert. Bei aller Religionskritik wird er als das erkannt, was auch er ist, ein mit den Projektionen der Menschen Beladener. Der “Code” ist in Wahrheit nicht zu knacken, er bleibt das, was über das “was die Welt im Innersten zusammenhält” hinaus will, der Impuls, der das Leben selbst ausmacht. Das geforderte Buch will der Schriftsteller nur dann schreiben, wenn Gott auf seine Rache- und Erzengel verzichtet, wenn Religion nicht gleichzeitig Gewalt implizieren würde.

Vielleicht ist es vermessen, in das Werk eines Schriftstellers durch ein einziges Fenster einsteigen zu wollen. Ein räuberischer Einbruch in ein ganzes Haus, das doch so viel mehr Fenster bereits hat. Ich könnte noch sehr viel detaillierter auf die Novelle eingehen, aber das sprengt meine momentane Schreibkraft und auch den Rahmen des Beitrags. Denn um eine Novelle handelt es sich meiner Meinung nach zweifelsfrei. Die konstituierenden traditionellen Elemente sehe ich mehrfach erfüllt. Die einzige Begebenheit ist die Reise,eine Rahmenhandlung ergibt sich durch den gleichen Standort zu Beginn und am Ende in Form von Berlin. Das durch den gesamten Text laufende Dingsymbol dürften zweifelsohne die Pfingstrosen sein, deren  abfallende Blätter den Code enthalten. Der offene Schluss besteht darin, das der Schriftsteller den von ihm geforderten Roman bei einem zweiten Besuch in Paris erst noch schreiben wird.

Kurz noch zur Aufmachung der Kulturmaschinen Prosaeditionen. Die weiße Schrift auf weinrotem Grund gefällt mir sehr gut, könnte ein Markenzeichen werden wie die roten Salto-Hefte eines Verlags für wilde Leser. Den Rücken dieses Bändchens zierte jedoch ein Druckfehler “Sainte Capelle” und Papier und Schriftspiegel könnten etwas kräftiger sein. Der hoffentlich kommende große Roman des Schriftstellers Herbst würde eine noch prachtvollere Ausstattung verdienen und eigentlich müsste die gesamte literarische Welt auf ihn sehr gespannt sein.

Aber auch schon durch diese kleine Erzählung ist der Himmel nicht leerer, sondern reicher und voller geworden. Es ist allerdings immer auch der Himmel in uns selbst, der nach Freiheit verlangt, und ohne die er keiner ist.

Andere Rezensionen:
Gleisbauarbeiten: Das Licht, ein Meer. Über Alban Nikolai Herbsts Reise-Erzählung: Die Fenster von Sainte Chapelle.

Zum Autor:
HERBST & DETERS FIKTIONÄRE
DIE DSCHUNGEL. ANDERSWELT
LITERATURPORT mit Hörprobe aus dem Romanmanuskript ARGO.ANDERSWELT

Alban_Nikolai_He_4d19feb9d2349