Ulrich und sein hartnäckiges Phantom
“Ich erzähle”, dass Ulrich im Zug zurück nach Wien saß und durch die Scheibe des Abteilfensters auf eine sich verwischende Landschaft blickte, die sich unstet zu ihm verhielt wie Einsteins relative Züge. Gar nicht so sehr impressionistisch verschwommen, als vielmehr eine wabernde Mischung aus sich übereinanderlegenden, disparaten Teilen wie Sonne, Himmel und Wald in einer Reflexion des Fensters selbst und seines Rahmens. Fuhr da nicht ein anderer, zweiter Zug ständig in seinem Fenster mit?
Er saß in Gedanken versunken allein auf seiner Sitzbank, diesmal begegnete er nur sich selbst. Überhaupt sah er sich seit Tagen nur noch als Blinder durch die Welt stolpern. Dass die Dinge so krass und plötzlich ihren Halt verloren hatten, damit hatte er nicht gerechnet. Aber sein Aufenthalt in der modernen Welt trug sowieso Züge des Irrealen, was ihn den Schwindelanfall vor der Berliner Buchhandlung Anakoluth in Erinnerung rief, als er der jungen Buchhändlerin sagte, ihre Bücher könnten sprechen. Wie hatte er sich nur einbilden können, die Welt hätte an Wahrhaftigkeit gewonnen, das würde sie nie tun. War sie nicht immer Maja, trügerisch schillernder Schein? Immer wieder musste er an Agathe denken, seine Schwester, die ihn magisch angezogen hatte und deren körperliche Androgynität ihn gleichzeitig betroffen machte. Er traute den Worten nicht mehr, Schwester, welche Schwester? Dieses Wort konnte durch verschiedene Adressaten komplett andere Bedeutungen bekommen, je nachdem sie heterosexuell, lesbisch oder auch homosexuell waren. Definierte sich der Mensch überhaupt immer über den Käfig seiner Lust, die er dann Freiheit zu nennen glaubte? Er erinnerte sich schmerzlich an seine letzte Erfahrung mit einer jungen Studentin, die an ihrer Dissertation schrieb, Literaturwissenschaften studierte und mit der er mehr als zwei Jahre lang über dieses neue Medium Internet korrespondiert hatte. Wirklich kennengelernt hatte er sie nicht, nur ihre Worte, aber diese Worte hatten sich bei ihm verfangen, gerade bei ihm. Er hatte sich euphorisch gefühlt, als es ihm endlich gelungen war, dem nie vollendeten Buch seines Schöpfers zu entspringen. Er dachte kurz an das (A)lte (T)estament, wahrscheinlich war alles nur ein Traum von Eva gewesen. Vom Baum der Erkenntnis aber hätte er lieber nicht gegessen, der Apfel war irgendwie wurmstichig gewesen, zumindest schmeckte er am Ende schal. Ulrich hörte eine innere Stimme, die ihm riet, den Schmerz seiner Enttäuschung nicht so wichtig zu nehmen. Schmerz musste man verzeihen und vergeben können, darüber redet man nicht, versteht ohnehin niemand und man wird dich lediglich für einen Hühnerschiss in den Weiten der Literatur halten, raunte es in ihm. Die verletzte Stelle aber gab keine Ruhe und fragte: Gibt es einen Schuldigen bei einer Täuschung, ist es der Täuschende oder der Getäuschte selbst, weil er etwas sah, was nur er sehen wollte? Allein der Schaffner riss ihn aus seinen Gedanken und bat mit einer sonoren Stimme: “Die Fahrkarte bitte!” Überall brauchte man Billets und Tickets, ohne Code kein Einlass. Kaum war der Kontrolleur verschwunden, meldeten sich schon wieder seine ruhelosen Gedanken und kreisten wie Käfer um ein Skelett. War der Blumentopf damals also doch direkt auf seinem Kopf gelandet. Hat dein Selbstwertgefühl etwa Schaden genommen, wo ist deine Gelassenheit geblieben und wenn die sich nicht einstellt, warum wirfst du nicht alles gedankenlos weg, ab in den Müll, fragte er sich. Plötzlich musste er an den Wiener Prater denken, der voll mit weggeworfenem Müll sein modernes Dasein fristete. Sitzen wir nicht immer in einem Zug, dessen eigentlichen Sinn und eigentliches Reiseziel wir nicht kennen? Am Ende fährt der Zug mit seinem leeren Abteil ohne uns weiter. Wir selbst werden zu etwas Verwischtem wie in der Glasscheibe. Plötzlich dachte er an so unterschiedliche Musik, die er hatte kennen lernen dürfen. Messiaen und Gilmour. Es gab eine breite und große Varianz in den Dingen. “Distant bells, new mown grass smells, so sweet” oder wienerisch “A ferne Glock’n, Frisch g’maht’s Gras, riacht so siass”. Ulrich staunte über diese neuen Musikrichtungen, wer hätte sich das damals in Kakanien träumen lassen. Der Monarchie war die moderne Gesellschaft entflohen, aber die neuen Imperien der Macht, die sich repräsentative Demokratien nannten, schienen ihm nicht unbedingt überlegen zu sein. Ihre grundlegenden, intransparenten Strukturen hatten sie beibehalten. Ihre Wahlen waren Pseudobeteiligungen der Massen, die in ihrer Funktion sedierend wirken sollten. Vor seiner Abreise aus Berlin hatte er noch einen französischen Film gesehen, in dem es um eine seltsame Beziehung ging. Er erinnerte sich an den Tanz des Hauptdarstellers und dachte, wenn Nähe zu jemandem ein Gespräch ist, dann fehlt es mir jetzt. Kein Grund sich zu bedauern. Der Tanz als Metapher war für alles die beste Antwort.
In diesem Moment verlangsamte sich der Zug und die ersten Umrisse einer Stadt wurden sichtbar. Er selbst aber fühlte sich wie in einem Zustand der Auflösung, was für mich Grund genug ist, ihn für den Moment in ein erzählerisches Vakuum fallen zu lassen.
(Literarische Begegnungen der dritten Art. 11)