Lose Gedanken zu António Lobo Antunes “Sôbolos Rios Que Vão”.

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Manchmal ist schon die Selektion aus dem schier unendlichen Buchangebot interessant, denn es ist nur natürlich, dass der Leser Romane oder überhaupt Lektüre auswählt, in der nicht nur etwas sein Interesse weckt, sondern ein innerer Bezug zum eigenen Leben hergestellt sein mag. So ging es mir sicher bei Antunes mit “An den Flüssen, die strömen”, denn die Erfahrung mit einer schweren Erkrankung in einem Krankenhaus zu liegen, das lauernde Denken, bald nicht mehr existent zu sein, also der Schrecken, teile ich mit dem Schriftsteller und vielleicht rührt sogar meine Affinität zu Roberto Bolaño zum Teil aus einer anfänglich imaginierten Leidensgenossenschaft, denn dem “Bolaño-Tod” bin ich wohl auch nur knapp entgangen. Der erste Impuls Antunes zu wählen war jedoch sicher, einfach einen Roman eines portugiesischen Schriftstellers mit auf die Reise in das Urlaubsland zu nehmen.

In Portugal angekommen fragte ich mich, ob es einen Unterschied macht, wo man ein Buch liest. Zumindest schien mir die Atmosphäre darin nachvollziehbarer, wenn das Buch in dem Land gelesen wird, in dem es geschrieben wurde und man den Standpunkt des Erzählers mit gleichzeitiger Erfahrung etwas besser unterfüttern kann. Doch eigentlich ist das Buch gerade deshalb als Medium so universell einsetzbar, weil man es an jedem Ort aufschlagen kann und sein Inhalt uns hoffentlich gefangen nimmt. Der Erzähler in Antunes Roman hat zunächst räumlich nur noch einen Standpunkt, das Krankenhaus- oder Sterbebett eines an Krebs erkrankten, älteren Mannes in Lissabon. So scheint es jedoch nur für den oberflächlich geographischen Blick und die normale Wahrnehmungsweise der Ärzte und des Personals um ihn herum, denn die eingenommene Perspektive des kranken Schriftstellers ist die, als ob jemand über das Meer auf seine eigene Existenz zurückschaut, was mich gerade ein wenig an Dieter Fortes “Auf der anderen Seite der Welt” denken lässt. Gedankensplitter spiegeln sich, als würde jemand Abschied nehmen von der Welt, aber müsste sich noch einmal bruchstückhaft an sie erinnern. An Familienmitglieder, was sie sagten und ihre Eigenarten, die sich wie das vom Wasser bearbeitete Gestein eines Flussbettes tief in sein Gedächtnis gegraben haben. Dieser jemand erzählt alles mehr sich selbst als uns in einer Art sprunghaftem Satzdelirium, als müsse er sich noch einmal vergewissern, überhaupt gelebt zu haben. Denn am Ende, nach dem letzten Scheitern, wird sich alles im Meer verlieren, das weiß jeder: Zuerst ist man ein Fluss und an der Mündung ist man nur noch Teil des großen Wassers.

Der Leser muss diesen fließenden Gedanken ziemlich konzentriert folgen. Sie sind in der sprachlichen Form auch anders geschichtet als der innere Monolog bei Joyce, denn es gibt in jedem Kapitel quasi nur einen Satz mit nur einem Punkt, der erst am Schluss erscheint, davor ist alles in Absätzen verdichtet und die Themen mäandern bereits in jedem einzelnen von ihnen. Es scheint auch kein wirkliches Innen und Außen zu geben, der kranke Körper sieht sich jedoch von außen, braucht die Distanz zum eigenen Leiden und beschreibt sich als “Er” oder “Senhor Antunes”. Erst bei beginnender Genesung, denn der Patient entkommt noch einmal seinem befürchteten Tod, traut sich das “Ich” in einigen der letzten Kapitel, sich selbst auch wieder als solches zu bezeichnen. Manche Absätze enden mit dem Personennamen, dessen erinnerte wörtliche Rede dann folgt. Man könnte meinen, die eigene Erinnerung haftet an immer wieder gehörten Sätzen, die man mit diesen Personen verbindet. Manchmal wird sogar diese Bezeichnung im Gedächtnis zum Namen der Person selbst. Bei mir hieß die Oma am Ende scherzhaft nur noch “Zufällig”, weil sie dieses Wort zu gern gebrauchte, um etwas Unerklärliches zu beschreiben. Mein Opa dagegen nervte mich in Jugendjahren mit dem Standardsatz für das Autofahren: “Junge, Achtzig ist auch genug!” Ein “Pars pro toto” bei den Namen also und scheinbar nebensächliche, momenthafte Ereignisse aus dem Leben der erinnerten Personen. Der behandelnde Arzt z. B. bekommt keinen Namen, sondern wird umschrieben als “der Tropfen auf dem Schuh”, denn dass ihm ein solcher aus einer Infusionsflasche auf den Fuß fiel, charakterisiert ihn genug.

Die Kunst Antunes ist es also, seinen Romanen eine unverwechselbar genuine Form zu geben, wobei die Sprache immer etwas Lyrisches hat und Anklänge an die Gesetztheit eines griechischen Epos. Die toten Dinge sprechen genauso wie die lebendigen. Häufige Natur- und Landschaftsbilder weiten den inneren Blick, der sonst wohl nur die Krankenhauswände sieht. Einzelne Absätze werden als Steigerungsform wörtlich wiederholt, als kreise die Erinnerung auch immer um die selben Sachen und intensivieren das Leseerlebnis, weil sie sehr gezielt ausgewählt wurden. Man spürt bei den beschriebenen Verwandten einen unterschwelligen Katholizismus, aber für den Erzähler ist klar, dass sich Gott nicht um die Menschen kümmert. Um so mehr tut er selbst es, denn der Mittelpunkt des Erzählers ist nicht sein eigenes Leiden, sondern auch das der Anderen. Ein Selbstmord, ein Onkel, der spurlos nach Spanien verschwindet, die Eltern, deren sozialer Hintergrund der einer besser situierten portugiesischen Familie mit Bediensteten zu sein scheint. Immer wieder auch Kindheitserinnerungen an die Brombeersträucher, an denen man auf Säcken voller Kartoffeln sitzend mit dem Landarbeiter Vergilio und seinem Fuhrwerk vorbeirumpelte. Die ländliche Umgebung des gebirgigen Hinterlandes im Bezirk Minho und der Mondego prägen die Naturbeschreibungen und heben den Text durch metaphorisch gebrauchte Worte wie Wind, Wald, Fluss, Himmel, Steine oder Tiere wie Eidechsen und Wildschweine ins Poetische. Der Wind und die Vögel erinnerten mich an Bolaño und der Brombeerpfad Antoninhos an die Weißdornhecke Prousts. Was wären die Dichter ohne die Natursymbolik.

Mit den Flüssen im Titel sind natürlich auch die Worte des Schriftstellers selbst gemeint und ihr Fließen steht für die Gleichzeitigkeit aller Dinge in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Schon in Hesses “Siddharta” war der Fluss ein Symbol für den buddhistischen Kreis ewiger Wiederkehr, dem er lauschen und von dem er lernen sollte. Der Titel ist außerdem einem längeren Gedicht des portugiesischen Renaissancedichters Luís de Camões entnommen.

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